Sonntag, 18. Dezember 2011

Irshad Manji in Berlin


Irshad Manji (links) und Johannes Kandel am 13. Dezember.
Der Muslim ist des Muslim Wolf. Von den rund Tausend Millionen Muslimen auf der Welt sehen sich wahrscheinlich neunhundert Millionen einer beständigen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt, die von ihren Glaubensbrüdern ausgeht. Etliche Zehntausend Muslime sterben jedes Jahr durch Gewalt im Namen Allahs: in Pakistan, im Sudan, in Somalia, in Afghanistan, im Irak, in Syrien, im Jemen, in Gaza, in Indien und Indonesien, um nur die Hotspots in einer Reihung abnehmender Lebensgefährlichhkeit zu nennen.

Unter der Herrschaft des Islams ist in etlichen Ländern nicht nur das tägliche Dasein lebensgefährlich, das Schreiben über die inhärente Gewalttätigkeit dieser Ideologie wäre noch mehr nur etwas für Lebensmüde. Deshalb ist es verständlich, dass sich muslimische Kritik am Islam praktisch nur in den Ländern der freien Welt äußert. Und es sind praktisch nur Frauen, die das tun; denn das Totalitäre ist männlich. Dabei gehen diese Musliminnen zwei im Anliegen verwandte, in der Argumentation getrennte Wege.

Die einen verlassen die Glaubenswelt des Islams, aus der sie kommen, und kritisieren sie von außen. Sie sind nun gewissermaßen Ex-Musliminnen und besonders präzise Beschreiberinnen, weil sie jedes demütigende Detail eines Lebens unter der Herrschaft des Islams erlebt und durchlitten haben. So eine Autorin ist Ayaan Hirsi Ali aus dem failed state Somalia (ihre Bücher finden Sie links in der Randspalte unter Meine Buchtipps). Sie musste erleben, dass ihr selbst im Asyl in den Niederlanden ein Muslim nach dem Leben trachtete –  ihren Kompagnon Theo van Gogh hatte er schon umgebracht. Für Ayaan Hirsi Ali ist auch die freie Welt kein sicherer Ort.
Irshad Manjis neues Buch.

Die anderen bleiben in der Glaubenswelt des Islams und kritisieren sie von innen. Sie bleiben Musliminnen und sind ebenso präzise Beschreiberinnen wie die Aussteigerinnen. So eine Autorin ist Irshad Manji, aus Uganda vertrieben und mittlerweile Kanadierin (ihr erstes und als einziges auf Deutsch erhältliches Buch ebenfalls unter Meine Buchtipps). Im Juni 2011 erschien – vorerst nur auf Englisch – ihr drittes Buch Allah, Liberty and Love, von dem sie sagt, es sei die ”Quintessenz“ ihres geistigen Schaffens: ein Bekenntnis zu einem Islam, der Selbstbestimmung als Frau und Mensch, als Lesbe und Feministin erlaubt. Geht das?

Auf Einladung eines Sozialdemokraten, der bei der Friedrich-Ebert-Stiftung für den ”Dialog mit progressiven Muslimen“ verantwortlich ist, kam Irshad Manji vor einigen Tagen schon, am 13. Dezember 2011, nach Berlin, um im großen Saal der Stiftung dem Organisator und Moderator der Veranstaltung, Johannes Kandel, Rede und Antwort zu stehen. (Dieser Blogeintrag erscheint mit Verspätung, weil ich dem Schreiben zum Geldverdienen – siehe meinen Eintrag vom 14. Dezember – dem Schreiben aus freien Stücken aus naheliegenden Gründen den Vorrang gebe.) Anschließend stellte sich Irshad Manji den skeptischen Fragen des Publikums: ein Islam mit Individualität und Lebensbejahung – geht das wirklich?

Muslimisch und geduldig sein und das noch gleichzeitig, habe ich bisher selten erlebt. Irshad Manji bring das fertig. Mit Engelsgeduld und selbst einem Islamverherrlicher (dem Einzigen im Saal) gegenüber noch freundlich, beharrt sie auf ihrem Standpunkt, dass sie sich das Recht herausnehmen könne, alles am Islam in Frage zu stellen, was ihr fragwürdig vorkomme: ”I fell in love with questioning“. Sie schildert die Gehirnwäsche an der Koranschule, mitten im freien Kanada, nachzulesen in ihrem Buch Der Aufbruch, und wie es eines Tages ”Klick“ gemacht habe: Sie begann, Fragen zu stellen. Da war sie vierzehn – und musste die Koranschule verlassen.
Fragen aus dem Publikum, Irshad Manji hört geduldig zu.

Nur eine selektive Koranlektüre hilft aus der Bevormundung durch muslimische Führer, die oft nur Verführer sind, ist eine frühe Erkenntnis der jungen Irshad. Die ebenso selektive Lektüre der selbsternannten Gottesdeuter ermuntere die Selbstisolation der Diasporagemeinschaften, die Ablehnung der umgebenden offenen Gesellschaft und eine unangebrachte Überheblichkeit. Irshad Manji lernt früh, sich die Rosinen aus dem Koran zu picken und sie gegen die faulen Äpfel ihrer Gegner zu behaupten. Das ist eine legitime Herangehensweise, Juden und später auch Christen praktizieren sie mit ihren heiligen Texten seit dreihundertvierzig Jahren.

”Dare to be an individual“ lautet Irshad Manjis Botschaft an junge Musliminnen, die ihre Hauptleserschaft sind. Damit stellt sie den Kollektivismus der islamischen Ideologie vom Kopf auf die Füße und holt obendrein Die Hälfte des Himmels auf die Erde. Das nehmen ihr muslimische Männer (”I have two enemies: angry muslim men and angry atheists“) besonders übel: Auf ihrer – englischsprachigen – Website berichtet Manji vom Amsterdamer Aufruf zu ihrer Ermordung. Wie Ayaan Hirsi Ali ist auch Irshad Manji in der freien Welt nicht sicher – und da ist es einerlei, ob sie Muslimin ist oder nicht. Die Veranstaltung in Berlin, wenige Tage nach den Amsterdamer Ereignissen, musste unter Polizeischutz stattfinden.
Grauhaariger Sympathisant mit Manji.

Grauhaarige Sympathisanten der Friedrich-Ebert-Stiftung, wie ich es einer bin, machten die Mehrheit des Publikums aus – und ich hatte in der Überzahl schwarzhaarige Sozialdemokraten erwartet, ist doch in Berlin die SPD politische Heimat etlicher Verbandsmuslime, aus deren Mitte jetzt sogar eine SPD-Senatorin stammt. Von den progressiven Muslimen – anders als bei der Tagung vom 20. bis 22. Oktober – kaum eine Spur und auch nicht von Jusos mit Migrationshintergrund oder Musliminnen aus einem der zahllosen öffentlich-rechtlich geförderten Integrationsprojekte, mit denen inzwischen gefühlt mehr Mitbürger ihren Lebensunterhalt verdienen als im Obst- und Gemüsehandel. Wo waren die denn, Herr Kandel?

Nachtrag: Mit Irshad Manji haben Andrea Seibel und Richard Herzinger an einem Folgetag in Berlin ein Gespräch für DIE WELT geführt und es am 21. Dezember online verfügbar gemacht. Darin erläutert Manji ihre hier nur angedeuteten Positionen.
  

Mittwoch, 14. Dezember 2011

Goldman Sachs, die beste Kaderschmiede der Welt


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Gute Banker kommen in den Himmel – die von Goldman Sachs kommen überall hin. Mit dieser Vorzeile beginnt mein Text, der heute im Informations- und Hintergrund-Dienst Der Hauptstadtbrief (Ausgabe 105, S. 47) online und gedruckt erscheint. Hier die nur geringfügig optimierte Blogversion:

Ausgabe Nummer 105 vom 14. Dezember 2011.

Leistungsträger, die 30 Millionen Euro oder auch nur 15 Millionen Euro Jahresgage kassieren, sind in Deutschland wohlgelitten, solange es sich um Solisten handelt und die erbrachte Leistung in der Hauptsache aus Beinarbeit besteht: Gas geben, bremsen; Ball stoppen, kicken. Die Zuneigung zu hochbezahlten Leistungsträgern sinkt rapide, sobald deren eigentlicher Leistungsort zwischen den Ohren sitzt und statt zweier Beine, sagen wir, dreißigtausend Mitarbeiter und siebzig Milliarden Umsatz zu bewegen hat. Heißen die Gagen dann noch Boni und wird damit eine Leistung honoriert, die im Wesentlichen in der Geldvermehrung aus dem Nichts besteht, kennt die Abneigung schnell keine Grenzen mehr.


Kommt die Rede auf „die Banker“, hat das für die Angesprochenen einen deutlichen Nachteil: Sie sind, anders als ihr Nebenbuhmann, „die Märkte“, personalisierbar, haben Namen, wie auch ihre Arbeitgeber, und sind ein leichtes Angriffsziel. Ein großer Name in der Finanzwelt ist New Yorks Investmentbank Goldman Sachs. Für gute Banker gilt, dass sie in den Himmel kommen – die von Goldman Sachs kommen überall hin. Sie werden Finanzminister, Ministerpräsident, Firmenvorstand, Notenbankchef.


„Goldman Sachs sitzt am Tisch“, heißt es dieser Tage häufig, wenn Regierungen und Notenbank Rettungsschirme basteln. Wer so spricht, hat Italiens Ministerpräsidenten Mario Monti vor Augen, wie sein Vorvorgänger im Amt, Romano Prodi, ein Goldman-Sachs-Mann und den Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, auch er ein „Goldman“. Bei künftigen Verhandlungen wird sich zu ihnen Paul Achleitner gesellen, der am 31. Mai 2012 den Aufsichtsratsvorsitz der Deutschen Bank übernehmen wird. Er war 1999 beim Börsengang einer der 221 Partner von Goldman Sachs (Erlös 3,6 Milliarden Dollar). Goldman Sachs ist, ohne einem Mitbewerber wehzutun, die beste Kaderschmiede der Welt.


Das gilt auch fürs Heimatland USA (dessen Deutschland-Botschafter Philip D. Murphy, by the way, ein „Goldman“ ist): In Washington wechselte Henry Paulson 2006 von der Spitze von Goldman Sachs an die Spitze des US-Finanzministeriums (bis 2009). Würde so ein Personaltransfer nur die Implantation finanzpolitischen Sachverstands bedeuten, wer könnte Einwände haben. Finanzminister Paulson aber traf sich 2008 mit seinen Goldmännern, um die bevorstehende Lehman-Pleite zu bekakeln, wie das Handelsblatt am 1. Dezember 2011 enthüllte. Das klingt nicht mehr nach Kaderschmiede, das riecht nach Seilschaft.

 

Sonntag, 23. Oktober 2011

Progressive Muslime, regressiver Islam – eine Tagung in Berlin


Der Tagungsort: Progressive Muslims zu Gast bei der FES.
Die Stiftungen der politischen Parteien sind Einrichtungen für vorausschauendes Denken und deshalb in der Lage, den Teilnehmern ihrer Tagungen Erkenntnisse zu verschaffen, die sie im Gespräch mit Meinungsführern und Entscheidungsträgern der stiftungstragenden Partei nicht gewinnen würden. Würden die Stiftungen nur reproduzieren, womit sich ihre Mutterparteien produzieren, bräuchten wir sie nicht. Wie gut unser aller Steuergeld für die Tätigkeit der Parteistiftungen angelegt ist, hat dieser Tage die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) unter Beweis gestellt. Hier haben Sozialdemokraten das Sagen – und sie stellen sich Fragen, auf die ihre Partei zum Teil schon Antworten gibt, die verdächtig danach klingen, als kämen sie aus dem Bauch und nicht aus dem Kopf.

"Politischer Islam" – "Islamismus" Extremistische Islam-Varianten in der Diskussion hieß das Thema des Symposiums des Berlin Forum for Progressive Muslims, das nun schon zum siebten Mal tagte. Das Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung ist ein gut durchdachtes Format: Politisch engagierte Intellektuelle aus Nordafrika und dem Nahen Osten, die sich in ihren Heimatländern oder im Exil gegen die Islamisierung ihrer Herkunftsländer zur Wehr setzen, tauschen ihre Beobachtungen und Schlussfolgerungen mit politisch engagierten Intellektuellen aus Europa aus, die mit der Islamisierung ihrer eingewanderten Muslime konfrontiert sind. Dass es das Forum seit sieben Jahren gibt, zeigt seine Veranlassung aus dem 9/11-Trauma (siehe meinen Blogeintrag vom 11. September 2011). Muslime in Deutschland gibt es seit fünfzig Jahren, aber erst seit zehn Jahren gibt es in der öffentlichen Wahrnehmung die Probleme, die das Tagungsmotto etikettiert.

Das Impulsreferat: Christine Schirrmacher am Stehpult.
Die totalitäre Disposition des Islams und deren Offenbarung in politischer Aktion und Indoktrination waren am ersten Tag im Plenum (21. Oktober) Thema und These des Impulsvortrags von Christine Schirrmacher. Die Islamwissenschaftlerin sprach klar und deutlich das Hemmnis einer Transformation des Islams aus: die Scharia, die keinerlei Begründungen für Demokratie, Freiheits- und Gleichheitsrechte liefere. Wie an einer "gläsernen Decke" pralle an ihr jeder Versuch ab, die totalitäre Herrschaftsideologie des politischen Islams zu überwinden. In den arabischsprachigen Ländern, in denen Jugendrevolten einen Transformationsprozess angestoßen haben, sei diese Problematik noch nicht einmal in der Diskussion der Akteure – ebensowenig in Deutschland, wo Verbände jenes Islams, den sie in Nordafrika und Nahost nicht loswerden, Anerkennung als Religionsgemeinschaft erheischen.

Das zweite Impulsreferat: Claudia Dantschke.
Die totalitäre Indoktrination des Islams in Aktion vor Ort in Deutschland beschrieb am zweiten Tag im Plenum (22. Oktober) der Impulsvortag von Claudia Dantschke am Beispiel des Berliner Bezirks Neukölln. Die Islamismusforscherin lieferte die Empirie zur Theorie des Vortags: In diesem Stadtbezirk, deutschlandweit durch seinen sozialdemokratischen Bürgermeister Buschkowsky bekannt,  ist jeder sechste Einwohner muslimisch. 45 Einrichtungen und Vereine kümmern sich um das, was die deutsche Mitwelt als dessen "Seelenheil" missversteht. Den sunnitisch-panislamischen Moscheevereinen – um nur eine der beleuchteten Akteursgruppen zu nennen – geht es ums Ganze, die Implementierung der islamischen Ideologie in allen Lebensfragen. Von Kindesbeinen an indoktriniert, wissen dann die Mitglieder der Studentengruppe sogar zwischen Professoren und Lehrinhalten zu unterscheiden, die halal oder haram sind: erlaubt oder verboten. So lässt sich an der Humboldtuni islamisch korrekt studieren.

Die Macher: George Khoury (links) und Johannes Kandel.
Die Sozialdemokraten der Friedrich-Ebert-Stiftung sind der natürliche Partner für politische Intellektuelle und Aktivisten, die sich der Islamisierung entweder ihrer Länder oder ihrer Umwelt zu erwehren haben. Mehrmals schon in ihrer langen Geschichte waren Sozialdemokraten im Zangengriff der Totalitären, 1933 gleich von zwei Seiten aus, das hat sie – und die Demokratie mit ihnen – umgebracht. Erst als der Nationalsozialismus am Boden lag, konnten sich die Sozialdemokraten des Realsozialismus erwehren, aber auch nur dort, wo keine Rote Armee sie daran hinderte. Demokratie ist ein fragiles Gut, niemand weiß das besser als die SPD. Deshalb spricht es für ein waches politisches Gespür der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass ihr Sektionschef Interkultureller Dialog, Johannes Kandel (siehe meinen Blogeintrag vom 14. Mai 2011), und sein Progressive-Muslim-Partner George Khoury die Forums-Tage mit zwei so pointierten Referentinnen in Schwung brachten. Das Totalitäre ist nichts Gestriges, das wir überwunden hätten; es hat Farbe und Format gewechselt, es ist unter uns und ebenso macht es Gleichgestimmten in Nordafrika und Nahost das Leben schwer.

Der Dialog: Ägypter und Deutsche (von links) im Gespräch.
Die Revolutionen in Nordafrika standen an den beiden Konferenztagen im Zentrum der Aufmerksamkeit, klar, zudem fielen der Tod Gaddafis und der Konferenzauftakt am 20. Oktober auf denselben Tag. Ein Schwerpunkt galt dem Schwergewicht Ägypten, gleich mit zwei Institutsdirektoren vertreten (links im Bild – die Fotos lassen sich durch Anklicken vergrößern und näher betrachten), progressiver Muslim der eine, koptischer Christ der andere, beide darin einig, dass im neuen Ägypten die Minderheit nicht wie bisher unter der Mehrheit, sondern künftig unter dem Gesetz leben solle. Der Systemwechsel von der Gewaltherrschaft zum Rechtsstaat und zur Gewaltenteilung wird in Tunesien und Libyen nicht minder schwierig werden, war in der nächsten Gesprächsrunde zu lernen, sind in beiden Ländern doch von Anfang an islamische Oppositionskräfte an der Arabellion beteiligt. Deren Machtergreifung auf demokratischem Weg (one man, one vote – one time) sei in keinem der nordafrikanischen Länder ausgeschlossen.

Was einen Muslim progressiv macht, ist mir an den zwei Tagen des Berlin Forum for Progressive Muslims nicht recht deutlich geworden. Was den Islam regressiv macht, dazu fiel den politisch engagierten Intellektuellen aus Nordafrika, Nahost und Europa erstaunlich viel ein. Die Mischung von Beiträgen mit konkreter, empirischer Bestandsaufnahme und abstrahierender, theoretischer Schlussfolgerung schien auch für eine Gruppe von Grünen ein Gewinn gewesen zu sein, die an der Tagung teilnahm. Der Widerwille gegenüber der zunehmenden Unterwürfigkeit von Vertretern ihrer eigenen, der Grünen Partei, gegenüber der Anmaßung des politischen Islams hatte sie zur Teilnahme bewogen. Sie nannten das Beispiel der grünen Integrationsbeauftragen in Tübingen; es verschlägt einem die Spucke: Sie hat dort durchgesetzt, dass kein Wein mehr bei Empfängen ausgeschenkt wird, haram, und es gibt auch keine belegten Brötchen mehr mit Salami und Schinken, haram, haram. – Mit meinen neuen grünen Freundinnen und Freunden freue ich mich auf das achte Berlin Forum for Progressive Muslims der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Freitag, 7. Oktober 2011

ALS-kranken Menschen helfen – eine Initiative mobilisiert Millionen

Am Pult Jürgen Großmann, Initiator der ALS-Initiative | Foto C. Kruppa



Die Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS, ist eine heimtückische Krankheit. Sie befällt die Menschen hinterrücks und führt unheilbar in den Tod. Sie ist, weil selten, der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Und dennoch sterben in jedem Jahr fast viermal soviel Menschen an ALS wie an AIDS. In Zahlen: Von 8.000 ALS-kranken Menschen in Deutschland, gerade mal ein Zehntel Promille der Bevölkerung, werden knapp 2.000 das nächste Jahr nicht überleben, etwa genau so viele werden erstmals ALS-Symptome an sich feststellen: Lähmung der Gliedmaße, Schluck- und Sprechstörungen, schließlich Beeinträchtigung und Versagen der Atemfunktion. Nach zwei bis fünf Jahren ist in der Regel alles vorbei, Exitus. So erging es dem Maler Jörg Immendorff, der 2007 an ALS starb. Das sorgte in Künstlerkreisen für Aufsehen.

Es ist aber ein ganz normaler ALS-Patient, der jetzt einen Stein ins Rollen bringt und eine breitere Öffentlichkeit für diese seltene neurodegenerative Krankheit sensibilisieren könnte. Das haben die Betroffenen bitter nötig; denn weil ihre absolute Zahl so klein ist, mobilisiert die ALS-Erkrankung weder Pharmakonzerne noch Universitätskliniken in einem Umfang, wie es etwa die AIDS-Erkrankung tut, obwohl deren Mortalität hierzulande vierfach geringer ist. Es sind aber Millionen weltweit an AIDS erkrankt, eine riesen Zielgruppe, dagegen verblasst die Zahl der ALS-Kranken. Als der ganz normale IT-Spezialist Matijas Ðerek ALS-Patient wurde und den Schrecken seiner Lage erfasste, drehte er nicht durch, sondern auf – und stiftete seinen Arbeitgeber an, andere mit Empathie anzustecken.

Was für ein Glück für den Kranken, dass sein Arbeitgeber nicht irgendeine Klitsche ist, die irgendein Kleingeist regiert. Bis zu seiner Erkrankung war Matijas Ðerek IT-Leiter bei der RWE AG, deren Vorstandsvorsitzender Jürgen Großmann mehr als 70.000 Leute und über 50 Milliarden Euro Umsatz bewegt. Nun war es Ðerek, einer aus der Heerschar der 70.000, der Großmann bewegte, indem er dafür sorgte, dass die Information über seine ALS-Erkrankung ganz oben ankam. Als sie aber angekommen war, wurde sie zum Auslöser einer beispiellosen Aktion. Jürgen Großmann, der Mann für Stahl und Energie, vernetzte Menschen mit Medizinverstand und Medienkompetenz zur Initiative „Hilfe für ALS-kranke Menschen“ – und legte los: Was lässt sich gleich tun, worauf kommt es dann an.
Prof. Meyer von der Ambulanz für ALS | Foto C. Kruppa

Gleich tun ließ sich etwas, worauf sich der ALS-erkrankte Matijas Ðerek als einstiger RWE-Informatiker am besten verstand: ein Internetauftritt; denn es mangelte, das hatte er schnell erkannt, an einer Art "Facebook für ALS-Betroffene", das alle Hilfsmaßnahmen koordiniert und für den Patienten und seine Angehörigen transparent macht. So kam es, dass ausgerechnet aus der Old Economy ein Impuls zur Schaffung einer Online-Welt kam, der Website ambulanzpartner.de in Zusammenarbeit mit der Berliner Charité, deren Ambulanz für ALS auf dem Campus Virchow Klinikum ihren 350 ALS-Patienten in der Offline-Welt schon lange zur Seite steht. Die Stiftung Stahlwerk Georgsmarienhütte fördert die "neuartige internetbasierte Koordinierungsstruktur für das ALS-Hilfsmittel- und Sozialmanagement" an der Charité seit Juli 2011.

Worauf es dann ankommt, ist die Mobilisierung von Millionen für die ALS-Forschung, und zwar in Euro. Es geht um die Entwicklung eines dualen Systems, in dem die staatliche Finanzierung des Gesundheitswesens um eine privatwirtschaftliche Komponente ergänzt wird, die zusätzliche Mittel für die Grundlagenforschung über die Amyotrophe Lateralsklerose bereitstellt. Deshalb lud die Initiative „Hilfe für ALS-kranke Menschen“ am 5. Oktober 2011 zu einem Gründungs- und Fundraisingabend ins Schlosshotel im Grundewald Alma Berlin ein, wo die Fotos zu diesem Blogeintrag entstanden, die ausnahmsweise nicht von mir, wie man sieht, sondern von Christian Kruppa sind. Ziel des Abends: Geldmittel für die Schaffung einer ersten ALS-Stiftungsprofessur in Deutschland einzuwerben.

ALS-Schirmherr Schröder | Foto C. Kruppa
Was für ein gelungener Abend! Am Ende waren über 360.000 Euro im Sack, netto. Wie geht das? Das müssen Sie mal Herrn Großmann fragen! In Kurzform etwa so: Tue etwas, das maximal hilft und minimal kostet. Suche Freiwillige, die dabei mitmachen. Von denen mit Medizinverstand und Medienkompetenz war schon die Rede, Prof. Thomas Meyer von der Charité sehen Sie oben, seine ALS-Ambulanz ist eine von sieben Einrichtungen, die ALS-Kranke betreuen, mehr sind es nicht an den insgesamt 2080 Krankenhäusern in Deutschland (Stand 2009). Suche ferner einen Leithammel, den alle kennen. Den sehen Sie rechts auf dem Bild über mir: Gerhard Schröder, von 1998 bis 2005 der siebte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, ab sofort Schirmherr der Initiative „Hilfe für ALS-kranke Menschen“. Warum er? Weil er zu den wenigen Prominenten gehört, die einen ALS-Fall im Bekanntenkreis hatten und nicht lange überzeugt werden musste: Gerhard Schröder war mit Jörg Immendorff befreundet, der kurz vor seinem Tod und schon schwer durch ALS gezeichnet Maler des offiziellen Kanzlerporträts wurde. Finde schließlich Enthusiasten, die es eine gute Idee finden, Geld zu sammeln, ohne dass das Sammeln selbst Kosten verursacht. So haben alle Beteiligten dieses Fundraisingabends auf Ihre Honorare verzichtet oder Sach- und Dienstleistungen gesponsert, den größten Batzen wahrscheinlich das Schlosshotel im Grunewald selbst, das für die 70 Gäste des Abends keine Bewirtungskosten in Rechnung stellte.

Keine Kosten, aber woher dann der Erlös? Das geht natürlich nicht ohne Input, der selbst wieder eine Spende ist. Die gute Gabe waren in diesem Fall unter anderem drei Kunstwerke dreier deutscher Künstler, von denen zwei auch anwesend waren, Thomas Kaemmerer und Markus Lüppertz. Der dritte, Anselm Kiefer, war nur mit seinem Kunstwerk präsent – aber was für einem! Doppelt mannshoch und gefühlt eine halbe Tonne schwer, stand Das Goldene Vlies wandfüllend und für sich selbst sprechend im Saal, nachdem es für die Auktion enthüllt worden war. Ja, eine richtige Auktion mit dramatischem Bietergefecht sollte es werden, mit einem externen Kiefer-Sammler als Telefonteilnehmer und Christiane Gräfin zu Rantzau als Auktionärin, deren Können sich ihrer Tätigkeit für das britische Auktionshaus Christie's verdankt. Am Ende fiel der Hammer bei 310.000 Euro, so kam der Löwenanteil des Abenderlöses auf einen Schlag zusammen.

Christiane Gräfin zu Rantzau versteigert | Foto C. Kruppa
Das reicht aber nicht für die Finanzierung einer ALS-Stiftungsprofessur. Sie soll ebenfalls bei der Charité angesiedelt werden und wird Kosten in Höhe von 2,5 Millionen Euro für Personal- und Sachmittel für einen Zeitraum von fünf Jahren verursachen. Da fehlen noch 2,14 Millionen Euro, und die will die Initiative "Hilfe für ALS-Kranke Menschen" in den nächsten Monaten einwerben.

Jürgen Großmann hält bis 305.000 € mit | Foto C. Kruppa


Ein Gelingen des Sammelziels ist den ALS-Patienten nur zu wünschen. Im Laufe des Abends gab es einen Videofilm zu sehen, in dem sechs Betroffene zu Wort kamen, die von der Ambulanz für ALS an der Charité betreut werden. Die Fassungslosigkeit, die da zum Ausdruck kam, bestürzt: "Warum ich?", wo die Krankheit doch so selten ist. "Warum unheilbar?", wo doch so viele Erkrankungen schon wirksam bekämpft werden können. "Warum geschieht so wenig?", wo doch für andere Forschungen Geld vorhanden ist. Nun hat die Nachricht vom Tod von Steve Jobs am Tag nach der Veranstaltung (siehe meinen Blogeintrag vom 6. Oktober) gezeigt, dass die ALS-Patienten mit der Unheilbarkeit ihrer Krankheit nicht allein stehen, obwohl unvergleichlich höhere Beträge in die Krebsforschung fließen. Bleibt die Frage nach dem "Warum ich?" oder "Warum Steve Jobs?"

Wer hier mit "Schicksal" antwortet, hat schon aufgegeben. Mit dem Glauben an höhere Mächte wird kein irdisches Wissen erzeugt. Schicksal wird manch einer als weltliche Fügung verstehen. Das ist es nicht. Schicksal ist der antike Vorgänger der kirchlichen Vorstellung, Gott segne den einen (der gesund bleibt und lebt) und prüfe den anderen (der krank wird und stirbt). Dieser Glaube der monotheistischen Ersatzreligionen ist nicht wirklich fair gegenüber dem Prüfling, der dazu neigen wird, seine Schuld an der Malaise zu suchen. Die ältere Vorstellung der indoeuropäischen Originalreligionen dagegen kannte ein Pantheon der Zuständigkeiten, am bekanntesten sind hinsichtlich der Menschen Bestimmung heute noch die römische Schicksalsgöttin Fortuna und ihr griechisches Pendant Tyche. Hier sind die höheren Mächte weiblich, in ihrer Hand liegt das Los der Menschen, die versuchen können, die Gottheit auf sich aufmerksam und gewogen zu machen. Das kann gelingen, dann hat man hat Glück. Oder misslingen, Schicksal.

ALS-Botschafterin Ferres | Foto C.K.
Die Erkrankung an ALS hat mit Gott und Göttin, mit Los und Schicksal, mit höheren Mächten also nichts zu tun. Nicht ein virtueller Makrobereich, der sich menschlicher Einflussnahme auf ewig entzieht, sondern eine reale Mikrowelt ist in den Blick zu nehmen, die in uns selber ist und die wir zunehmend besser verstehen und beeinflussen können. Es geht um Partikel im Nanobereich, Botenstoffe, Proteine, Eiweiße, Aminosäuren. Hier im Nervensystem gibt es diese seltenen degenerativen Effekte, die jene Amyotrophe Lateralsklerose bewirken, derentwillen sich Menschen solidarisieren, um einem noch nicht vorhandenen Wissen zum Durchbruch zu verhelfen. Wäre die ALS-Erkrankung Schicksal, lohnte es sich nicht, auch nur einen Cent in ihre Erforschung und Bekämpfung zu investieren.

Als informelle Botschafterin der ALS-Initiative erwies sich beim Gründungsdinner im Schlosshotel die Schauspielerin Veronika Ferres. Sie hatte bereits 2004 in dem ZDF-Fernsehfilm Sterne leuchten auch am Tag (auf dem Foto hält sie eine Sterne-DVD in den Händen) eine urplötzlich an ALS erkrankte Staatsanwältin gespielt und kennt die Dramatik dieser Krankheit seither. Am Abend des 5. Oktober nun übernahm sie die Rolle der Fortuna, indem sie ihren Ehemann mitbrachte, der den Kiefer ersteigerte und somit den Grundstock für die Schaffung der geplanten ALS-Stiftungsprofessur legte. Gut gemacht, Frau Ferres! Wer es ihrem Gatten nachtun will, egal in welcher Portion Mildtätigkeit, Hauptsache in Euro – hier ist das Spendenkonto zum Copy and Paste:


Empfänger: Kasse der Charité
Kontonummer: 1270005550
Bank: Berliner Sparkasse
BLZ: 10050000
Verwendungszweck: 89758004_ALS
   

Donnerstag, 6. Oktober 2011

In memoriam Steve Jobs

Screenshot der Apple Website am 6. Oktober.

Steve Jobs hat Apple mächtig in Fahrt gebracht. Wird der Schwung anhalten, auch wenn er nicht länger der Impulsgeber sein kann? Hat er sein Unternehmen so gut aufgestellt, dass aus der vorhandenen Teamintelligenz weiterhin Neues erwachsen wird? Wenn das der Fall sein würde, wäre er wirklich ein ganz Großer, ein iGod, wie ihn manche jetzt schon nennen. Voreilig, wie ich finde; denn Vergöttlichung ist Eternisierung, Verewiglichung, und dafür ist es noch zu früh. Schauen wir uns mal Apple in fünf Jahren an, im Oktober 2016. Dann werden wir eine Aussage treffen können. Eine positive, hoffe ich – als einer, der seinen ersten Macintosh 1989 hatte und heute noch mit dem iMac arbeitet.

Sonntag, 11. September 2011

Schadenfreude im Elfenbeinturm – 9/11 in akademischer Sicht

Die Sekunde davor. World Trade Center 1, New York City 2001. Am 11. September, 8.46 Uhr, schlägt eine Boing der American Airlines in die Büros des 96. Stockwerks ein. Die Attentäter tun es im Namen Allahs, des Barmherzigen. Illustration: Skip G. Langkafel © Dr. Rainer Bieling






















   
Heute vor zehn Jahren flogen sie also in die Twin Towers, um uns zu zeigen, dass Allah größer ist als Amerika. Das war eine Heilige Kriegserklärung im Namen des Islams, in dem jeder Moslem sprechen kann. Er muss nur männlich sein. Die jungen Männer in den Flugzeugen sprachen nicht nur, sie handelten im Namen des Barmherzigen. Das ist kein kleiner Unterschied. Das Handeln, das wir am 11. September 2001 am Fernseher live verfolgen konnten, war auch ein Ausweis deutscher Gründlichkeit. Die jungen Araber und Ägypter hatten die Vorzüge unseres steuerfinanzierten, für sie kostenlosen Bildungswesens zu nutzen gewusst und in technischen Studiengängen das deutsche Verständnis von Planung und Präzision gelernt. Was sie damit anfangen würden, ist ihren Kommilitonen und Nachbarn in Hamburg nicht aufgegangen. Als Menschen mit Segregationsvordergrund lebten die muslimischen Studenten in einer Gegengesellschaft, die mit der übrigen Bevölkerung nur die gleiche Zeit und den gleichen Ort teilte.

Vor zehn Jahren war ich tief bestürzt – und bin es heute wieder. Da ist einmal die Islamisierung von Migranten, Menschen in unserer Mitte, die am 11. September 2001 Türken waren und am 11. September 2011 Moslems sind und das auch zeigen. Auf einem Klassenfoto von 2001 werden Sie kein Kopftuch sehen, auf einem von 2011 werden Kopftuchmädchen die Mehrheit bilden – natürlich nicht in Friedrichshain und Prenzlauer Berg, sondern nur an den Schulen, auf die keine deutschen Eltern mehr ihre Kinder schicken. Nicht unter – hinter jedem Tuch steckt ein bekennender Kopf. Die Doppelbewegung von Ideologisierung und Entmischung ist eine Tragödie. Trostlos, dass das kaum einen schert. Das werden Sie am 18. September 2011 daran erkennen, dass die bisherige Regierungspartei, unter deren Augen das geschieht, der Wahlsieger werden wird.

Heute ist es noch ein Zweites, das mich bestürzt: die Islamisierung der Islamwissenschaft. Wo am 11. September 2001 Orientalisten auf deutschen Lehrstühlen saßen, sitzen am 11. September 2011 Islamisten. Islamspezialisten, die nicht müde werden, die tiefe Spiritualität des Islams und seine unendliche Friedfertigkeit zu lobpreisen, die sich so wohltuend von der materialistischen Oberflächlichkeit der Konsumgesellschaft des Westens und der nicht enden wollenden Aggressivität Amerikas und bald mehr noch Israels abhebt. Unter diesen Akademikern gibt es einen, der seine Schadenfreude über 9/11 offen bekennt. Das tut er nicht im stillen Kämmerlein, sondern in der führenden akademischen Fachzeitschrift Die Welt des Islams. Das ist irritierend, besonders auch deshalb, weil diese Zeitschrift sich in den vergangen zehn Jahren mit 9/11 ansonsten nicht beschäftigt hat.
Die Islamforschung ignoriert 9/11.

Diese Information entnehme ich einem Buch, das am 26. August 2011 erschienen ist und die akademische Schadenfreude zum Gegenstand hat: Schadenfreude. Islamforschung und Antisemitismus nach 9/11. Auf 410 Seiten für freundliche 19,90 Euro macht Clemens Heni mit 1109 Quellenbelegen darauf aufmerksam, dass 0911 einen Ideologisierungsschub an unseren Universitäten ausgelöst hat, der auf breiter Front das Wissenwollen durch ein Glaubenwollen ersetzt. Das ist entsetzlich für mich, weil ich gerade wieder anfing, stolz auf meine Freie Universität Berlin zu sein, die es zu unerwarteter Exzellenz gebracht hat. Das ist mir seit 2010 eine Alumni-Mitgliedschaft wert. Eine Veranstaltung mit dem FU-Präsidenten Prof. Dr. Peter-André Alt in der Topographie des Terrors über Hannah Arendt hat mich in der Überzeugung bestärkt, dass die Freie Universität intellektuell wieder ein Teil der freien Welt ist. Doch auch an meiner Universität, lese ich nun, führen Apologeten des Islams das große Wort.

Das Auftreten einer neuen negativen Elite, die der islamischen Welt freundlich und der freien Welt feindlich gesonnen ist, erinnert mich fatal an meine Studienzeit in den 1970er Jahren. Damals waren mehrere Institute meines Fachbereichs 11 Philosophie und Sozialwissenschaften fest in der Hand von Freunden des realen Sozialismus, erbitterten Feinden des American Way of Life. Die Bücher von Karl Popper (Die offene Gesellschaft und Ihre Feinde) und Hannah Arendt (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft) hatten sie nachdrücklich aus dem Unterricht verbannt. Und das an einer Freien Universität, die mit amerikanischen Geldern als Gegenuniversität zur gleichgeschalteten SED-Uni Unter den Linden aufgebaut worden war. So ähnlich stelle ich mir das intellektuelle Klima an den Lehrstühlen unter der Herrschaft der Freunde des Islams vor. Diese Vorstellung nährt Clemens Heni auf 282 Textseiten mit Hunderten von Belegen, die sich tröstlicherweise nicht nur auf die Berliner Universität beziehen.

Das Hingezogenfühlen von Deutschen zum Islam und zur arabischsprachigen Welt geht auf das Kaiserreich zurück. In seiner 110-seitigen Auswertung der Welt des Islams macht Heni auf die unselige Verquickung von Nationalismus und Nationalsozialismus mit dem Islam aufmerksam. Dessen inhärente Judenverachtung wurde in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren mit nationalsozialistischem Vernichtungswillen aufgeladen, und als der Führer sich am 30. April 1945 die Kugel gab, hatte sich sein Moslem-Freund, der Mufti von Jerusalem, schon aus der untergehenden Reichshauptstadt in den Nahen Osten abgesetzt. Die Judenreinheit Europas mochte gescheitert sein, die Endlösung war damit nicht vom Tisch. Der Mufti von Jerusalem und seine Brüder aus Kairo fegten den UNO-Teilungsplan von 1947 vom Tisch und versuchten mit ihrem Vernichtungskrieg von 1948, die Juden ins Meer zu treiben; vergebens. Die Nachfolgeorganisationen aus der Liaison von Mufti und Muslimbrüderschaft im Gazastreifen, im Westjordanland und im Libanon verfolgen die Endlösung bis heute.

Den fanatischen Judenhass unter Muslimen nicht ins Kalkül zu ziehen, ist das niederschmetternde Ergebnis, zu dem Clemens Heni gelangt. Deshalb trägt seine empirische Untersuchung der akademischen Veröffentlichungen und publizistischen Verlautbarungen auch den Untertitel Islamforschung und Antisemitismus. Die Einleitung zu dem Buch ist auf der Internetseite Die Achse des Guten nachzulesen. Das Appeasement der Freunde des Islams, in dem Buch mit zahlreichen Belegen dokumentiert, liest sich wie weiland das Appeasement der Freunde des Sozialismus. Bemerkenswert, dass die friedliebende Sowjetunion und der friedfertige Islam praktisch identische Topoi der Totalitären sind, die an den Universitäten den Ton angaben und an einigen Instituten angeben. Naive Journalisten greifen das auf, naive Politiker lesen es in der Zeitung – diese gängige Informationstransferkette vom Lehrstuhl zur Lösung erklärt die erstaunliche Naivität, mit der Politiker zu Hause Migrationspolitik betreiben und uns in der Ferne blamieren (Libyen) oder unsere Soldaten materiell und ideell unterversorgen (Afghanistan).

Im Kampf um die Köpfe haben die akademischen Islamisten die Nase vorn. Sie haben den Elfenbeinturm verlassen und prägen öffentliche Meinungsbildung und politische Entscheidungsfindung. Nüchtern betrachtet beobachten wir die Formierung einer negativen Elite, für die 9/11 ein Signal der Schadenfreude war. Was die Sowjetunion nicht geschafft hat – die Moslems packen es: Amerika einen schweren Schlag zu versetzen und die freie Welt nachhaltig zu schädigen. 1989 zu einem Nichts degradiert, haben die Freunde des Friedens und des Fortschritts seit 2001 wieder Oberwasser. Das sind nicht mehr die linken Hardliner der 1970er Jahre, es sind die grauhaarige Bio-Bourgeoise der 2000er Jahre und deren Zöglinge, die sich in allen Oppositionsparteien eingerichtet und im öffentlichen Dienst breit gemacht haben. Nach dem erfolgreichen Marsch durch die Institutionen bestimmt die Verschmelzung von alter roter Marktfeindlichkeit und neuer grüner Islamfreundlichkeit den Diskurs, wenn es um Muslime geht. Sie verdienen Solidarität, nicht Amerika. Diese Haltung wird nicht das letzte Wort sein, aber zehn Jahre nach 9/11 hat es das meiste Gewicht.

Donnerstag, 18. August 2011

Götz Aly stellt richtige Fragen und gibt gute Antworten


Götz Aly am 18. August im Museum für Kommunikation.
Wenn 350 Leute zu einer Buchpremiere kommen, dann muss das wohl ein wichtiges Buch sein. Der schöne, große, überdachte Lichthof des alten Postmuseums, das seit elf Jahren Museum für Kommunikation heißt, ist pickepackevoll. So viele Menschen habe ich noch nie bei der Vorstellung einer Neuerscheinung gesehen. Sie sind gekommen, um etwas über das Buch Warum die Deutschen? Warum die Juden? zu hören, und zwar vom Verfasser selbst. Der Verfasser ist Götz Aly, und mit Hitlers Volksstaat hat er vor fünf Jahren schon die Fortsetzung des neuen Warum-Buchs vorgelegt.


Die verkehrte Reihenfolge verweist auf ein Problem, mit dem nicht nur Götz Aly ringt. Sobald einer gute Antworten geben kann, warum es der Nationalsozialismus so weit bringen konnte, wird er sich neue Fragen stellen, die noch näher, noch tiefer, noch bitterer an und durch diese schwer zu verstehende totalitäre Periode führen. So ist es Götz Aly ergangen, der nun mit dem Warum-Buch die Vorgeschichte des Volksstaats erzählt. Am Ende könnte eine Trilogie daraus werden, das ließ der Autor schon durchblicken. Buch drei wird die Europa-Dimension der Ermordung der europäischen Juden beleuchten: die prominent besetzten Nebenrollen – aber nach deutschem Drehbuch, unter deutscher Regie.


Warum die Deutschen? Warum die Juden? Warum ist eigentlich vorher niemand auf diese naheliegenden Fragen gekommen? Weil es Kinderfragen sind, über die sich Erwachsene erhaben dünken. Wegen dieses Dünkels stellen Erwachsene gern falsche Fragen und geben schlechte Antworten. Götz Aly stellt richtige Fragen und gibt gute Antworten. Die Fragen kennen Sie nun, was sind die Antworten? Der Untertitel des Warum-Buchs gibt die Richtung an: Gleichheit, Neid und Rassenhass. Da die Premierengäste im Kommunikationsmuseum das eben erschienene Buch noch nicht gelesen haben können, gibt Götz Aly eine Zusammenfassung seiner zentralen Antworten, die – in meinen Worten – so geht:
Moderator Stephan Speicher, Götz Aly, am Mikro Gregor Isenbort.

Vom Ende des Alten Tausendjährigen Reiches 1806 bis zum Beginn des Dritten Tausendjährigen Reiches 1933 findet in Deutschland eine Säkularisierung statt, die der christlichen Fesselung des Wissens, der Arbeitskraft, der Freizügigkeit und der Märkte ein Ende bereitet. In diesem Emanzipationsprozess erweisen sich die ländlich-trägen christlichen Deutschen den urban-agilen jüdischen Deutschen als hoffnungslos unterlegen. Die Juden nutzen die Chancen der neuen Marktwirtschaft, die Christen fürchten sich vor deren Risiken. Die Juden werden klug und reich, die Christen bleiben blöd und arm. (Im Nahen Osten sehen wir heute – zeitversetzt und mit anderen Darstellern – eine ähnliche Entwicklung.)


Die intellektuell und ökonomisch Zurückgebliebenen entwickeln Neid und Hass, und schon dreht sich die Spirale des Unheils. Die der Unterwerfung unter das ("echte") Tausendjährige Reich der Christen Entronnenen bewegen sich der Unterwerfung unter das neue Tausendjährige Reich der Nationalsozialisten zu, und sie tun dies umso schneller, je näher sie ihrem Neidobjekt kommen. Das ist die zweite zentrale Antwort von Götz Aly: Wenn Christen intellektuell und ökonomisch aufholen und den Aufstieg dahin schaffen, wo Juden schon sind, vermehrt die Erkenntnis des Vorsprungs den Neid: Judenhass wächst bei zunehmendem Christenerfolg. Die nationalsozialistische Avantgarde waren christliche Studenten, die erst die Allgemeinen Studentenausschüsse im Reich eroberten, dann die Bücher des jüdischen Establishments vor der Berliner Universität verbrannten.
Götz Aly signiert im Anschluss an die Buchpremiere.


Götz Aly findet im Publikum erstaunlich viel Zuspruch, das hätte ich gar nicht erwartet. Allerdings beschreibt er die Transformation vom christlichen in das nationalsozialistische Unheil auch nicht so unverblümt, wie ich sie hier wiedergebe. Er neigt sogar dazu, den nationalsozialistischen Judenhass nicht im Kontinuum mit dem christlichen sehen zu wollen – der einzige Punkt, bei dem ich ihm nicht folgen kann. Die totalitäre Matrix, die in beiden Ideologien zur Wirkung kommt, ist in ihrer Marktfeindlichkeit zentriert, und der Neid ist nur deren Derivat. Aber das ist wieder ein anderes Buch, und das muss Götz Aly nicht auch noch schreiben. Jetzt bin ich erst einmal neugierig auf das Warum-Buch, und dank der ausgezeichneten Moderation von Stephan Speicher von der Süddeutschen Zeitung gelang es Götz Aly, dem Publikum im Lichthof etliche Gründe zu nennen, das Buch tatsächlich zu lesen.
   

Hinweis: Wer die Buchpremiere verpasst hat und Götz Aly leibhaftig hören will, kann dies am 27. September 2011 um 19.30 Uhr auf einer Veranstaltung von Schleichers Buchhandlung nachholen. Ort der Lesung (Vortrag und Gespräch mit dem Autor) ist das Museum Dahlem, Lansstr. 8, 14195 Berlin. Der Eintritt kostet 12 EUR, ermäßigt 8 EUR. Vorbestellung von Karten könnte ratsam sein.
  

Sonntag, 17. Juli 2011

Alte Nationalgalerie oder Loblied auf einen preußischen Bankier




Imagination der islamischen Welt,
von keinerlei Realitätskenntnis getrübt:
So stellte sich Horace Vernet
den Orient vor (Sklavenmarkt, 1836).
Bild © Staatliche Museen zu Berlin,
Nationalgalerie, Foto: Andres Kilger
Vor 150 Jahren machte in Berlin der Herr des Geldes seinem König ein Geschenk, damit der es unter sein Volk bringe: 262 Gemälde, den Grundstock der Nationalgalerie. Eine Betrachtung über den Zusammenhang von Marktwirtschaft und Malerei.

Die Marktwirtschaft hatte es von jeher schwer in Deutschland. Als Heiliges Reich unter dem Diktat des christlichen Zinsverbots, behinderten die selbsternannten Römer deutscher Nation jedwede Innovation durch Investition so lange es ging. Nach dem Ende ihres Tausendjährigen Reiches erblühten mit dem Freiheitswind der Amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung auch in der Alten Welt Handel und Wandel. Im Jahr 1775 gaben Otto Heinrich Anhalt und sein Schwager Heinrich Wilhelm Wagener die Gründung ihres Speditions- und Kommissionsgeschäfts Anhalt & Wagener in der Brüderstraße 5 bekannt, die damals direkt zum Königlichen Schlossplatz führte. Seit 1962 versperrt das DDR-Staatsratsgebäude den Weg dorthin, aber das Berliner Stadtschloss war 1950 ohnehin schon auf Anweisung der SED zerstört.

Heinrich Wilhelm Wagener machte seinen Sohn Joachim Heinrich Wilhelm 1814 zum Teilhaber, und nach dem Tod der beiden Gründer übernahm der junge Kaufmann, Jahrgang 1782, als Alleininhaber das Handelshaus beim Preußenschloss. Joachim Heinrich Wilhelm, kurz JHW Wagener weitete die Bankgeschäfte in jenen von den Stein-Hardenbergschen Reformen getriebenen Frühlingsjahren der Marktwirtschaft nach Kräften aus. Als Bankier und Bürger engagierte er sich nicht nur in der Berliner Kaufmannschaft, deren Mitbegründer er war, sondern JHW Wagener hatte auch ein Gespür für guten Geschmack und zeitgenössische Kunst. Davon profitierte 1815 als erster der ein Jahr ältere Maler, Architekt und Stadtplaner Karl Friedrich Schinkel. Dessen Gemälde Gotische Kirche auf einem Felsen am Meer war die erste Investition, die JHW aus dem Ertrag seiner Teilhabe an Anhalt & Wagener bestritt.

Kathedrale der Phantasie: Karl Friedrich Schinkels
Gotische Kirche auf einem Felsen am Meer, 1815,
gibt es nur auf der Leinwand.
Bild © Staatliche Museen zu Berlin,
Nationalgalerie Foto: Jörg P. Anders

In den folgenden Jahren ließ der Bankier etliche eben erst trockene Ölgemälde aus den Ateliers Berliner Maler in seine Privatgemächer tragen, die er allesamt im persönlichen Gespräch begutachtet und für aufhebenswert erachtet hatte. So entstand in den 45 Jahren von 1815 bis 1860 eine Sammlung zeitgenössischer Kunst, die einer der führenden Köpfe der preußischen Wirtschaftselite als für seine Zeit repräsentativ erachtete. Der Direktor der Nationalgalerie, Udo Kittelmann, der heute der Herr dieser Bilder ist, sagt zu der Wagenerschen Sammlung: „Indem sie im Geiste des Zeitgenössischen gesammelt wurde, vermag sie uns noch heute eine Vorstellung davon zu geben, was einst als zeitgenössische Kunst galt und kann uns dadurch auch im Rückblick das Vergangene wieder vergegenwärtigen.“

Aber wie kamen die Gemälde des Kaufmanns und Bankiers JHW Wagener in die Obhut eines Angestellten des öffentlichen Dienstes? Das private Sammeln von Kunstwerken, das heute fast jede deutsche Bank als zweite Natur verinnerlicht hat, war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwas Neues – so frisch wie die Marktwirtschaft selbst. Und neu war auch die Geste des Gebens, die wir heute nur noch als amerikanische Großzügigkeit kennen und mit Namen wie Bill Gates und Warren Buffett verbinden. Erfunden wurde das neuzeitliche Mäzenatentum natürlich in der Alten Welt, von wo es in die Neue Welt emigriert ist. Es war der Berliner Joachim Heinrich Wilhelm Wagener, der als einer der ersten Mäzene gelten kann. Aber er musste List und Tücke aufbieten, um dem Volk, in diesem Fall dem preußischen, etwas von seinem wirtschaftlichen Erfolg zurückzugeben.

Vor dem Volk stand nämlich 1859, als JHW Wagener sein Testament machte, schon wieder der Staat. So sehr war die Erinnerung an die Aufbruchsjahre der Marktwirtschaft nach einem halben Jahrhundert Nationalstaatsfixierung verblasst, dass dem Bankier eine private Stiftung gar nicht in den Sinn kam. Der preußische Staat sollte Erbe seiner inzwischen auf 262 Gemälde angewachsenen Sammlung werden und sie dem Volk zugänglich machen. Aber dieser Staat war schon damals klamm – und hatte andere als ausgerechnet schöngeistige Ambitionen. So wies, nicht zum ersten Mal, der preußische Finanzminister noch 1860 das Ansinnen der Berliner Künstlerschaft zurück, 50.000 Taler zur Förderung der Schönen Künste in den Haushaltplan einzustellen. Das berichtet Eberhard Roters, der verstorbene Gründungsdirektor der Berlinischen Galerie, in seinem Geschichtsessay über Die Nationalgalerie und ihre Stifter.

JHW Wagener kannte diese Ausgabenunlust preußischer Ministerialbeamter. In seinem Testament sprach er deshalb direkt den König als Adressaten der Schenkung an: „Insbesondere überlasse ich es ganz dem Allerhöchsten Ermessen, ob etwa die Sammlung noch in dem Eingangs gedachten Sinne verstärkt und fortgeführt werden soll, um so zu einer nationalen Galerie heranzuwachsen, welche die neuere Malerei auch in ihrer weiteren Entwicklung darstellt.“ Hier entwickelte der greise Mäzen erstmals den Gedanken einer Nationalgalerie, und genau darauf sprang der preußische König nach der Testamentseröffnung an.

Allegorie auf ein von Napoleon
gerupftes Land: Caspar David Friedrichs
Einsamer Baum, 1822, versinnbildlicht
die Lage der Nation.
Bild © Staatliche Museen zu Berlin,
Nationalgalerie Foto: Jörg P. Anders

Als Joachim Heinrich Wilhelm Wagener am 18. Januar 1861 starb, war der Wilhelm I seit gerade zwei Wochen König von Preußen. Er nutzte die Wagenersche Schenkung als gute Gelegenheit, „seinen Regierungsantritt mit einer bedeutsamen kulturpolitischen Demonstration zu schmücken“, wie Roters notiert. An seinem Geburtstag, dem 22. März 1861, eröffnete der König, der selber zwanzig Gemälde beisteuerte, die Wagenersche- und National-Galerie in den Räumen der Königlich Preußischen Akademie der Künste Unter den Linden. Fünfzehn Jahre später, wiederum zum Geburtstag Wilhelms, der indessen Deutscher Kaiser geworden war, erhielt die Nationalgalerie 1876 ihr eigenes Gebäude auf der Museumsinsel, wo es heute noch steht – und zur Unterscheidung von der Neuen Nationalgalerie am Potsdamer Platz nun Alte Nationalgalerie heißt.

Seit 150 Jahren im Staatsbesitz, ist die einstige Privatsammlung jetzt erstmals zum Jubiläum wieder als geschlossenes Ganzes zu sehen, allerdings nur in einer Auswahl von rund 140 der ursprünglich über 260 Gemälde. Die sonst eher wirtschaftskritische Berliner tageszeitung (taz) war mit dieser Entscheidung nicht einverstanden und übte Staatskritik: „Hier vergibt die Nationalgalerie die Chance, die Sammlung in ihrer wirklichen Breite zu zeigen.“ (taz, 24. April 2011) Tatsächlich bestimmen Angestellte des öffentlichen Dienstes, was das Publikum heute von der Wagenerschen Sammlung sehen darf. Damit setzen sie sich über den Mäzen hinweg, der in seinem Testament „keinerlei andere Bedingung oder Beschränkung, als die [...] ungetrennte Erhaltung, Aufstellung und Benutzung der Sammlung“ genannt hatte. Diese Missachtung liegt im Trend einer Zeit, in der staatliche Eliten glauben, alles besser zu wissen als die Marktakteure und schon gar besser als jener längst verstorbene Bankier, dem sie bei der Nationalgalerie doch alles verdanken, die Existenz ihrer Institution und ihren Job. Die Marktwirtschaft hat es schwer in Deutschland, immer noch.

Nachtrag: Was dem Bankier gefiel

Dem Bankier gefiel der Freiheitskampf der Griechen.
Hier ein Freischärler in einem Gemälde von
Eduard Magnus (Heimkehr des Palikaren, 1836).
Bild © Staatliche Museen zu Berlin,
Nationalgalerie, Foto: Andres Kilger

Wenn Joachim Heinrich Wilhelm Wagener auf Erkundungstour durch die Berliner Ateliers ging, wurde meist eine Einkaufstour daraus. Diese selbstbestimmte Umverteilung des Reichtums aus den Taschen des erfolgreichen Bankiers in die Taschen der aufstrebenden Künstler hat den Aufschwung der Bildenden Künste in der preußischen Hauptstadt beflügelt. Nicht nur Berliner profitierten vom Kunstsinn des Bankiers. Neben Karl Friedrich Schinkel (Gotische Kirche, 1815) und Caspar David Friedrich (Einsamer Baum, 1822) kam auch Horace Vernet (Sklavenmarkt, 1836) zum Zuge.
Bemerkenswert ist das Interesse des Bankiers für Freiheitsbestrebungen, etwa in Griechenland. Damals gehörte der Islam noch zu Europa, aber die Griechen fanden, dass damit Schluss sein müsse. Im Unabhängigkeitskrieg der Jahre 1821 bis 1829 warfen sie die Türken aus dem Land; es war einer der ersten asymmetrischen Kriege, die wir heute für neu halten. Mangels einer regulären Armee waren es Freischärler, die den Aufstand maßgeblich für sich entschieden.
Diese siegreichen Palikaren verewigten Maler wie Peter von Hess (Palikaren bei Athen, 1829) und Eduard Magnus (Heimkehr des Palikaren, 1836) – zwei Gemälde, die zeigen, bei wem Joachim Heinrich Wilhelm Wageners Sympathien lagen: bei den Aufständischen; denn ohne politische Freiheiten, das wusste er als Bankier, stehen wirtschaftliche Erfolge auf tönernen Füßen. Der Freiheitskampf gegen die Muslime zog sich übrigens noch jahrzehntelang hin und endete im Griechischen Staatsbankrott von 1893.

Info: Die Sammlung des Bankiers Wagener. Die Gründung der Nationalgalerie. Sonderausstellung in der Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel, Bodestraße 1-3, 10178 Berlin. Bis 8. Januar 2012. Di-So 10-18 Uhr, Do bis 22 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 10 €, ermäßigt 5 € (Alte Nationalgalerie + Sammlung Wagener)

Hinweis: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel Ein Bankier beschenkt das Volk in DER HAUPTSTADTBRIEF Ausgabe 102 im Mai 2011 (auf Seite 35, im doppelseitig angelegten PDF Seite 18 wählen).