Freitag, 22. April 2011

Bassam Tibi, die arabischen Demokratiebewegungen und der Islam

Bassam Tibi, links, im Robert-Koch-Saal der Charité am 20.4.

Zum ersten Mal seit zehn Jahren hielt Bassam Tibi einen Vortrag in Berlin. Kein Wunder, dass sich die knarzenden Klappsitze des alten Robert-Koch-Saals der Charité in der Dorotheenstraße 96 trotz beginnender Osterferien gut gefüllt zeigten. Das Thema seines Vortrags, Der Nahe Osten im Umbruch, lockte überdies Neugierige an, die nach Orientierung für die Beurteilung der aktuellen Entwicklungen in Nordafrika und Nahost suchen. Dass sie von dem enormen Wissen des Vortragenden profitieren würden, hatten die Veranstalter Scholars for Peace in the Middle East (SPME) und das Mideast Freedom Forum Berlin (MFFB) dabei in Rechnung gestellt.

Bassam Tibi ist ein wandelndes Lexikon, dessen besondere Stärke es ist, Personen zu erinnern und den Zeitpunkt und die Umstände ihres Eintretens in den lexikalischen Bestand. Es gab also viel zu lernen. So ein fotografisches Gedächtnis hat aber auch eine Tücke: Es vergisst nie und nichts. So erinnerte Tibi, der heute betont, Moslem zu sein, mehrfach daran, einmal ein Neuer Linker gewesen zu sein. Daran ist nichts auszusetzen, das war ich in den späten 1960ern auch. Doch geisterten damals etliche Theorien durch die Köpfe von Teens und Twens, die zu Recht in Vergessenheit geraten sind: weil sie entweder faktenfrei waren oder so selektiv mit Fakten hantierten, dass Schwarz plötzlich in Weiß erstrahlte – tiefrot.

Die Kunst des Vergessens ist die Fähigkeit, sich von Theorien zu trennen, die sich als falsch erweisen und zu schlechten Ergebnissen führen. Das schafft Platz für neue Theorien, die sich bewähren können – oder ebenfalls scheitern. Bassam Tibi konfektioniert sein enormes Wissen in einem Rahmen, der an gestrigen Vorstellungen festhält. Sie verstellen den Blick auf das Verständnis der heutigen Ereignisse. Das veranschaulichen zwei Annahmen Tibis, die im linken Korsett eingeschnürt bleiben.

Die arabischen Demokratiebewegungen seien eine Zeitenwende, erstmalig und einzigartig in der Geschichte der arabisch-sprachigen Welt, an der alle drei historischen Demokratiebewegungen der Neuzeit vorbeigegangen seien: die von bzw. nach 1789 (französische Revolution), die von/nach 1945 (Ende des Dritten Reichs), die von/nach 1989 (Fall der Mauer). Der Hinweis auf die Einmaligkeit der Ereignisse in den arabisch-sprachigen Ländern ist überzeugend. Der Rahmen, in den Bassam Tibi das Unerhörte der Vorgänge steckte, ist es nicht. Der Verweis auf die beglückende Funktion von Aufklärung und französischer Revolution ist eine linke Stereotype, die historisch (also im Rückblick erkennbar) in die Diktatur des Proletariats geführt hat.

 
Die erste erfolgreiche Demokratiebewegung setzten jene in die Neue Welt ausgewanderten Europäer in Gang, die 1776 die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika schrieben und damit (wiederum im Rückblick erkennbar) die Geburtsurkunde der freien Welt schufen. Zu dieser freien Welt gesellten sich 1945, nach der bedingungslosen Kapitulation des Nationalsozialismus, und 1989, nach der Implosion des Realsozialismus, mehrere Dutzend Länder in Europa, Asien (von Israel bis Japan), Mittel- und Südamerika, Südafrika – Australien, Neuseeland und Kanada gehören schon länger dazu, aber eben bis heute kein arabisch-sprachiges Land. Ob sich die Demonstranten in diesen Ländern das unveräußerliche Recht auf »Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit« (Life, Liberty and the pursuit of Happiness, Präambel von 1776) erstreiten werden oder ob doch die islamische Erweckungsbewegung in Nordafrika und Nahost obsiegen wird, wollte Bassam Tibi offen lassen. Zum Orakeln neigt er nicht.

Zu unterscheiden sei zwischen Islam und Islamisten, das ist die zweite Stereotype, mit der Bassam Tibi operiert. Auch sie basiert auf einer linkspopulistischen Annahme, dass nämlich der Sozialismus eine wahre Idee sei, die nur falsch ausgeführt wurde. Dieser Entschuldung liegt wiederum das christliche Stereotyp zugrunde, demzufolge der Mensch fehlbar sei. Die aktuelle christlich-sozialistisch-islamische Unterscheidung zwischen dem Islam als einer guten, im Grunde friedfertigen Idee (Religion) und dem Islamismus als einer bösen, zumeist unfriedlichen Ausführung (Ideologie) ist in Deutschland Staatsraison. Menschen mit christlichem, sozialistischem und islamischem Migrationshintergrund können sich gleichermaßen auf sie verständigen. Bassam Tibi teilt sie mit dem Bundespräsidenten. »Panikmache« ist beider Sache nicht.

Der Erfolg der Demokratiebewegungen in den arabisch-sprachigen Ländern wird sich in dieser Währung nicht messen lassen. Tibis politische Unterscheidung zwischen islamischen Gruppierungen, die freie Wahlen akzeptieren und solchen Dschihadisten, die gewaltsam operieren, mag zur Feindbeobachtung taugen, aber ein Gradmesser für Glückseligkeit ist das nicht. Wer die Bücher  deutscher muslimischer Frauen wie Melda Akbas, Nourig Apfeld, Seyran Ates, Güner Balçi, Serap Çileli und Necla Kelek gelesen hat (die unter Meine Buchtipps links unten in der Randspalte verlinkt sind), die ein christlicher deutscher Mann auf den Index der Islamophobie gesetzt hat, wird leicht erkennen, dass deren Problem nicht ein -ismus, sondern der Islam selbst ist, der in jede Pore ihres Lebens eindringt und es verstopft.

Als Ideologie totaler Herrschaft beginnt der Islam im Privaten, um im öffentlichen Raum zu enden, der dann seinen Regeln gehorcht. Dass der Islam in vielen Spielarten auftritt und deshalb stets in der Mehrzahl zu denken sei, darin ist Bassam Tibi zuzustimmen. Für die der Herrschaft des Islam Unterworfenen ist es dennoch unerheblich, ob es schiitische Mullahs oder sunnitische Scheichs sind, die ihnen ein freies, selbstbestimmtes Leben verwehren. Durch die Hintertür gelangt der Gedanke, dass es um den Islam selbst geht, dann auch bei Bassam Tibi wieder ins Blickfeld. Er fordert seit Jahren eine islamische Reformation, die in einen Euroislam münden solle. Das wäre dann eine Art entideologisierter Islam light, der mit der Rechtsstaatlichkeit einer parlamentarischen Demokratie so kompatibel wäre, wie es das Christentum heute – nach zäher Zurückweisung seines Allmachtsanspruchs halbwegs neutralisiert – ist.


Matthias Küntzel, rechts; Herr Tibi kriegt ein Mikro an den Hals
Es war ein anregender Abend, umsichtig moderiert von Matthias Küntzel, der selbst als Politikwissenschaftler zu Nahostthemen und zum Iran publiziert. Bassam Tibi verstand es, sein Wissen mit uns zu teilen, das überwiegend aus erster Hand stammt und eben nicht nur angelesen ist – aber das Theoriekorsett, in der er es zwang, ist mir zu eng. Von den vielen Einzelinformationen und Anekdoten, die zu referieren meine Sache hier nicht ist, bleibt eine Stellungnahme berichtenswert. Beim Thema Israel nennt Tibi Ross und Reiter: Frieden in Nahost hält er nur für möglich, wenn die arabisch-sprachigen Staaten Israel anerkennen, sonst nicht. Wenn dann im Gegenzug die Israelis die Eigenstaatlichkeit der palästinischen Araber auf dem Boden ihres Autonomiegebiets anerkennen, sei die Sache geritzt. Im September 2011 werden wir sehen, ob das mehr als ein frommer Wunsch ist.