Dienstag, 9. November 2010

9. November oder Wie viel Denkmal braucht das Land?

Freitag Salon im Maxim Gorki Theater am 9. November 2010

Was fällt uns ein? Die Deutschen und die Erinnerung als Kult und Kultur hieß das Thema des Freitag Salons im Maxim Gorki Theater. Auf der Bühne (Foto, von links nach rechts): Wolfgang Wippermann (Historiker), Lea Rosh (Vorsitzende des Förderkreises Denkmal für die ermordeten Juden Europas), Jakob Augstein (Verleger des Freitag), Markus Meckel (1990 Außenminister der DDR). Es sollte um den 9. November gehen, einen Tag, der vielererlei Erinnerung an deutsches Heils- und Unheilsgeschehen wachruft. Geheilt hat der 9. November dabei nur einmal: 1989, als er der Beginn des Genesungsprozesses war, mit dem sich Europa von den Verheerungen der Bürger-, Angriffs- und Vernichtungskriege des 20. Jahrhunderts seit nunmehr 21 Jahren auf dem Weg der Besserung befindet.

Ein sichtbares Zeichen dieser Besserung ist das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das im Gespräch der vier Freitag-Salon-Diskutanten den breitesten Raum einnahm. der Freitag will das Gespräch in seiner nächsten Ausgabe veröffentlichen, sicherlich wird einiges auch in seiner Onlineversion nachzulesen sein. Dieses Denkmal im Herzen Berlins verbindet die 9. November auf ganz vorzügliche Weise: ermöglicht durch den europäischen Freiheits-, Vereinigungs- und Demokratisierungsprozess, der am 9. November 1989 seinen zweiten, entscheidenden Schritt, den der Selbstbefreiung vom Realsozialismus begann (nach dem ersten Schritt vom 8. Mai 1945, der militärischen Bezwingung des Nationalsozialismus durch die Alliierten), hält es die Erinnerung an den 9. November 1938 wach, der aus jüdischen Deutschen endgültig deutsche Juden machte, eine von deutschen Ariern unterschiedene und zum Ausscheiden bestimmte Spezies.

Ansprache zum 20. Geburtstag: Freitag-Verleger Jakob Augstein
Die Kluft zwischen Wissen und Verstehen ist mir bei der Freitag-Salon-Runde deutlich geworden wie selten; denn schon dieser naheliegende Zusammenhang kam nicht zur Sprache. Statt dessen warf Diskussionsleiter Augstein (im Foto rechts bei seiner Ansprache zum 20. Geburtstag des Freitag, der im Anschluss an den Salon im Foyer begossen wurde) solche Fragen auf: warum es kein Denkmal gebe, das an die positiven Seiten der DDR erinnere, warum man die Bismarck-Denkmäler nicht abreiße, warum es keine demokratischen Denkmäler gebe. Dabei hatte Lea Rosh in vielen ihrer Wortmeldungen eben den demokratischen Charakter des Denkmals für die ermordeten Juden Europas allein schon dadurch verdeutlicht, dass sie den komplexen, nicht nur über parlamentarische Hürden stolpernden Entscheidungsfindungsprozess zur Sprache brachte, wie er für Demokratien typisch ist.

Der aufschlussreichere Teil der Veranstaltung war die folgende Geburtstagsparty zum 20-jährigen Bestehen des Freitag, zu der wir einfachen Salon-Gäste dankenswerterweise eingeladen waren. Dabei überraschte mich angenehm, dass Lea Rosh meine Feststellung teilte, dass das Denkmal für die ermordeten Juden Europas kein sich selbsterklärendes Denkmal sei und dass eine Namensnennung an den vier Himmelsrichtungen, aus denen man sich dem Denkmal nähert, wünschenswert wäre. Ihre Erklärung für das Fehlen einer Beschriftung, dass der Künster dies nicht wolle, kann ich nicht gelten lassen. Beauftragte Künstler sind Leistungserbringer, nicht Herren eines Kunstwerks, für das wir, die Steuerbürger, sie bezahlen. Der Förderkreis für das Denkmal sollte sich nicht davon abringen lassen, Namensschilder oder -bodenplatten zu fordern, die jedem Besucher klar machen, dass das, was er sieht, das Denkmal für die ermordeten Juden Europas ist.
Denkmal aus Sicht der Vetretung des Landes Rheinland-Pfalz

Wie viel Denkmal braucht das Land? Die Anregung zur Beantwortung der Frage fand ich nicht in der heutigen Veranstaltung, sondern vor einigen Tagen bei unserer deutschsprachigen Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Anlässlich der Münchner Aufführung ihres Theaterstücks Rechnitz (in Erinnerung an das Massaker von Rechnitz) schrieb die Süddeutsche Zeitung am 3.11.2010:
Der "Sündenstolz" [...] ist ein Jelinekscher Schlüsselbegriff: Er zielt auf eine florierende Gedenkkultur, mit der man sich, wie die Autorin in einem Interview sagte, in festgelegten rhetorischen Formeln "und voll Selbstgenuss" von der NS-Vergangenheit distanziere und bei den nachfolgenden Generationen nur noch Unwillen erzeuge. Indem Jelinek diesen "Sündenstolz" scharf thematisiert, sät sie den eigentlichen Keim der Provokation.
Am Denkmal für die ermordeten Juden Europas prallte diese Provokation ab - das wäre wohl das Ergebnis gewesen, hätte die Salon-Diskussion derartigen Einwand aufgegriffen. Das ist überhaupt der entscheidende Unterschied zwischen den nationalistischen, sozialistischen und nationalsozialistischen Denkmalen des 19. und 20. Jahrhunderts und den antitotalitären Denkmalen des 21. Jahrhunderts: erstere sind konkret in ihrer stereotypen Bildsprache und wirken als Injektion, letztere sind abstrakt und erzeugen die Fläche für Projektion. Erstere dienen der Indoktrination, letztere der Reflexion. Gut, dass das Denkmal für die ermordeten Juden Europas mit dem unterirdischen Ort der Information über eine Reflexionshilfe verfügt.

Postscriptum vom 14. November 2010. Lea Rosh hat mir geschrieben und stellt richtig:
In einem irren Sie: der Künstler bzw. Architekt hat das verbriefte Recht, "sein Objekt" vor allen Veränderungen zu schützen. Wir dürfen nicht einmal Schilder aufstellen, um die Kinder zu bitten, auf den Stelen nicht rumzuturnen. So ist's halt. Leider.