Irshad Manji (links) und Johannes Kandel am 13. Dezember. |
Unter der Herrschaft des Islams ist in etlichen Ländern nicht nur das tägliche Dasein lebensgefährlich, das Schreiben über die inhärente Gewalttätigkeit dieser Ideologie wäre noch mehr nur etwas für Lebensmüde. Deshalb ist es verständlich, dass sich muslimische Kritik am Islam praktisch nur in den Ländern der freien Welt äußert. Und es sind praktisch nur Frauen, die das tun; denn das Totalitäre ist männlich. Dabei gehen diese Musliminnen zwei im Anliegen verwandte, in der Argumentation getrennte Wege.
Die einen verlassen die Glaubenswelt des Islams, aus der sie kommen, und kritisieren sie von außen. Sie sind nun gewissermaßen Ex-Musliminnen und besonders präzise Beschreiberinnen, weil sie jedes demütigende Detail eines Lebens unter der Herrschaft des Islams erlebt und durchlitten haben. So eine Autorin ist Ayaan Hirsi Ali aus dem failed state Somalia (ihre Bücher finden Sie links in der Randspalte unter Meine Buchtipps). Sie musste erleben, dass ihr selbst im Asyl in den Niederlanden ein Muslim nach dem Leben trachtete – ihren Kompagnon Theo van Gogh hatte er schon umgebracht. Für Ayaan Hirsi Ali ist auch die freie Welt kein sicherer Ort.
Irshad Manjis neues Buch. |
Die anderen bleiben in der Glaubenswelt des Islams und kritisieren sie von innen. Sie bleiben Musliminnen und sind ebenso präzise Beschreiberinnen wie die Aussteigerinnen. So eine Autorin ist Irshad Manji, aus Uganda vertrieben und mittlerweile Kanadierin (ihr erstes und als einziges auf Deutsch erhältliches Buch ebenfalls unter Meine Buchtipps). Im Juni 2011 erschien – vorerst nur auf Englisch – ihr drittes Buch Allah, Liberty and Love, von dem sie sagt, es sei die ”Quintessenz“ ihres geistigen Schaffens: ein Bekenntnis zu einem Islam, der Selbstbestimmung als Frau und Mensch, als Lesbe und Feministin erlaubt. Geht das?
Auf Einladung eines Sozialdemokraten, der bei der Friedrich-Ebert-Stiftung für den ”Dialog mit progressiven Muslimen“ verantwortlich ist, kam Irshad Manji vor einigen Tagen schon, am 13. Dezember 2011, nach Berlin, um im großen Saal der Stiftung dem Organisator und Moderator der Veranstaltung, Johannes Kandel, Rede und Antwort zu stehen. (Dieser Blogeintrag erscheint mit Verspätung, weil ich dem Schreiben zum Geldverdienen – siehe meinen Eintrag vom 14. Dezember – dem Schreiben aus freien Stücken aus naheliegenden Gründen den Vorrang gebe.) Anschließend stellte sich Irshad Manji den skeptischen Fragen des Publikums: ein Islam mit Individualität und Lebensbejahung – geht das wirklich?
Muslimisch und geduldig sein und das noch gleichzeitig, habe ich bisher selten erlebt. Irshad Manji bring das fertig. Mit Engelsgeduld und selbst einem Islamverherrlicher (dem Einzigen im Saal) gegenüber noch freundlich, beharrt sie auf ihrem Standpunkt, dass sie sich das Recht herausnehmen könne, alles am Islam in Frage zu stellen, was ihr fragwürdig vorkomme: ”I fell in love with questioning“. Sie schildert die Gehirnwäsche an der Koranschule, mitten im freien Kanada, nachzulesen in ihrem Buch Der Aufbruch, und wie es eines Tages ”Klick“ gemacht habe: Sie begann, Fragen zu stellen. Da war sie vierzehn – und musste die Koranschule verlassen.
Fragen aus dem Publikum, Irshad Manji hört geduldig zu. |
Nur eine selektive Koranlektüre hilft aus der Bevormundung durch muslimische Führer, die oft nur Verführer sind, ist eine frühe Erkenntnis der jungen Irshad. Die ebenso selektive Lektüre der selbsternannten Gottesdeuter ermuntere die Selbstisolation der Diasporagemeinschaften, die Ablehnung der umgebenden offenen Gesellschaft und eine unangebrachte Überheblichkeit. Irshad Manji lernt früh, sich die Rosinen aus dem Koran zu picken und sie gegen die faulen Äpfel ihrer Gegner zu behaupten. Das ist eine legitime Herangehensweise, Juden und später auch Christen praktizieren sie mit ihren heiligen Texten seit dreihundertvierzig Jahren.
”Dare to be an individual“ lautet Irshad Manjis Botschaft an junge Musliminnen, die ihre Hauptleserschaft sind. Damit stellt sie den Kollektivismus der islamischen Ideologie vom Kopf auf die Füße und holt obendrein Die Hälfte des Himmels auf die Erde. Das nehmen ihr muslimische Männer (”I have two enemies: angry muslim men and angry atheists“) besonders übel: Auf ihrer – englischsprachigen – Website berichtet Manji vom Amsterdamer Aufruf zu ihrer Ermordung. Wie Ayaan Hirsi Ali ist auch Irshad Manji in der freien Welt nicht sicher – und da ist es einerlei, ob sie Muslimin ist oder nicht. Die Veranstaltung in Berlin, wenige Tage nach den Amsterdamer Ereignissen, musste unter Polizeischutz stattfinden.
Grauhaariger Sympathisant mit Manji. |
Grauhaarige Sympathisanten der Friedrich-Ebert-Stiftung, wie ich es einer bin, machten die Mehrheit des Publikums aus – und ich hatte in der Überzahl schwarzhaarige Sozialdemokraten erwartet, ist doch in Berlin die SPD politische Heimat etlicher Verbandsmuslime, aus deren Mitte jetzt sogar eine SPD-Senatorin stammt. Von den progressiven Muslimen – anders als bei der Tagung vom 20. bis 22. Oktober – kaum eine Spur und auch nicht von Jusos mit Migrationshintergrund oder Musliminnen aus einem der zahllosen öffentlich-rechtlich geförderten Integrationsprojekte, mit denen inzwischen gefühlt mehr Mitbürger ihren Lebensunterhalt verdienen als im Obst- und Gemüsehandel. Wo waren die denn, Herr Kandel?
Nachtrag: Mit Irshad Manji haben Andrea Seibel und Richard Herzinger an einem Folgetag in Berlin ein Gespräch für DIE WELT geführt und es am 21. Dezember online verfügbar gemacht. Darin erläutert Manji ihre hier nur angedeuteten Positionen.
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