Mittwoch, 22. Juli 2020

Späte Erinnerung an die Verfolgung und Ermordung jüdischer Bürger in Luxemburg 1940 bis 1945


Die Eröffnung einer internationalen Wanderausstellung aus Luxemburg über deutsche Staatsverbrechen in Luxemburg veranlasst die „Topographie des Terrors“ am 14. Juli 2020 zu ihrer ersten Veranstaltung nach der Schließung im März 2020.


Blick in die Ausstellung Between Shade & Darkness. Schicksalswege der Juden Luxemburgs zwischen 1940 und 1945 im Foyer des Dokumentationszentrums „Topographie des Terrors“ am Abend der Eröffnung, dem 14. Juli 2020.

Corona bringt ungeahnte Premieren hervor, die dritte schon war es am Dienstag, dem 14. Juli 2020, in der „Topographie des Terrors“: eine Veranstaltung mit leibhaftigen Teilnehmern! Erstmals nach den drei Monaten seit der Schließung am Freitag, dem 13. März 2020, durften 30 geladene Gäste der Eröffnung einer neuen Sonderausstellung in persona beiwohnen und die Schautafeln Between Shade & Darkness. Schicksalswege der Juden Luxemburgs zwischen 1940 und 1945 anschließend persönlich in Augenschein nehmen (Foto oben).

Dem Ereignis vorausgegangen als erste Premiere war die Öffnung des Freigeländes der „Topographie des Terrors“ für Besucher am 11. Mai 2020 (hier mein Besuchsbericht); die zweite coronabedingte Premiere war die Öffnung des Gebäudes des Dokumentationszentrums mit der Dauerausstellung und der neuen großen Sonderausstellung Deutschland 1945 – Die letzten Kriegsmonate, die am 19. Mai 2020 noch ohne Eröffnungsveranstaltung und mit einem einzigen Besucher in den ersten zwei Stunden auskommen musste. (Hier mein Augenzeugenbericht.) Und nun das: gleich drei Vorträge für dreißig Zuhörer, die lernen konnten, dass der lange Arm Berliner Politiker einmal bis nach Luxemburg reichte, sehr zum Schaden der dort Lebenden, von denen rund 5 700 den Übergriff nicht überlebten – fast zwei Prozent der seinerzeit 290 000 Bewohner des Großherzogtums.

Was war geschehen? Am 10. Mai 1940 griff die Wehrmacht auf Geheiß der Reichsregierung die drei neutralen Benelux-Staaten Belgien, Niederlande und Luxemburg gleichzeitig an, um in einem schnellen Durchmarsch Frankreich als das eigentliche Ziel des Angriffs zu erreichen, dessen Regierung dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hatte, als dieses im September 1939 Polen angriff und sich das schnell eroberte Land noch im selben Monat mit der Sowjetunion teilte. Auf dem Weg zur französischen Grenze war Luxemburg schon am Abend des 10. Mai 1940 erobert, die Niederlande wehrten sich bis zum 14. Mai 1940, Belgien kapitulierte am 28. Mai 1940 bedingungslos. Der Weg nach Frankreich war frei, am 14. Juni 1940 marschierte die Wehrmacht in Paris ein.

Die Bürger des Großherzogtums Luxemburgs wurden binnen eines Tages Untertanen des Deutschen Reichs – die Großherzogin Charlotte und ihre Regierung flohen noch im Laufe des 10. Mai 1940 nach Frankreich und bildeten bald eine Exilregierung in London. Die Beamtenschaft blieb im Lande und wurde zunächst der Militärverwaltung, seit 2. August 1940 deutscher Zivilverwaltung unterstellt. Deren Bestreben war die Eingliederung Luxemburgs ins Deutsche Reich – zu einer Annexion und der Bildung des neuen Reichsgaus Moselland kam es jedoch bis Kriegsende nicht. Die Expansion des deutschen Staatsrechts ins Großherzogtum veränderte das Leben der Bürger allerdings nachhaltig, besonders der jüdischen.

Die Sonderausstellung Between Shade & Darkness. Schicksalswege der Juden Luxemburgs zwischen 1940 und 1945 widmet sich exklusiv dem Schaden, den die örtlichen Statthalter der Berliner Politiker der jüdischen Minorität zufügten. Wie im Zeitraffer zwang die deutsche Zivilverwaltung den Luxemburgern die komplette antijüdische Gesetzgebung des Deutschen Reichs auf. In den vier Jahren und vier Monaten von der Eroberung Luxemburgs am 10. Mai 1940 bis zur Befreiung von der Besatzungsmacht durch Einheiten der US-Army am 10. September 1944 verloren rund 1 300 jüdische Bürger erst ihre Freiheiten und Rechte, dann ihr Einkommen und Eigentum, schließlich ihr Leben. Die Eröffnungsveranstaltung am Dienstag, dem 14. Juli 2020, geschah in der Absicht, ein helles Licht auf das Dazwischen von Schatten & Dunkelheit zu werfen und mit klarer Stimme zu erinnern, um diese kleine feine Ausstellung nicht sang- und klanglos dem Publikum zu übergeben.


Dr. Andrea Riedle, Direktorin der „Topographie des Terrors“, spricht als erste über die Schicksalswege der Juden Luxemburgs zwischen 1940 und 1945 im Foyer des Dokumentationszentrums. Hinweis: Die Fotos lassen sich durch Anklicken vergrößern und näher betrachten.

In ihrem Vortrag zur Eröffnung der Ausstellung im Foyer des Dokumentationszentrums machte die Direktorin der „Topographie des Terrors“ Dr. Andrea Riedle darauf aufmerksam, dass es sich bei den von deutschen Besatzungsbehörden Verfolgten keineswegs nur um jüdische Luxemburger gehandelt habe, sondern die Mehrzahl der schließlich 1 300 Deportierten seien jüdische Bürger aus dem Deutschen Reich, dem annektierten Österreich und der besetzten Tschechoslowakei gewesen, die sich in Luxemburg in Sicherheit wähnten und deren genaue Zahl und Zusammensetzung bis heute unbekannt und wohl nicht mehr ermittelbar ist. Was aber in Zukunft noch möglich wäre, sei ein eigenes Kapitel über die Deportationen aus dem Großherzogtum Luxemburg hier in Berlin als neues Element der Dauerausstellung der „Topographie des Terrors“ hinzuzufügen. Das klang wie ein Versprechen.



Georges Santer, der frühere Botschafter Luxemburgs in Deutschland, widmet sich als zweiter Redner der, wie er sagt, „größten Unheilsperiode“ seines Landes: den vier Jahren und vier Monaten von der Eroberung Luxemburgs durch die Wehrmacht am 10. Mai 1940 bis zur Befreiung von Luxemburg-Stadt durch die US-Army am 10. September 1944.

Als zweiter Redner widmete sich der einstige Berufsdiplomat und frühere Botschafter Luxemburgs in Deutschland Georges Santer der, wie er sagte, „größten Unheilsperiode meines Landes“. Sein Land hatte Santer von September 2012 bis September 2017 als Botschafter in Berlin vertreten – bei der Ausstellungseröffnung am 14. Juli 2020 vertrat er seinen Nachfolger Jean Graff. Das tat er als Kenner der Materie; denn im Jahr 2019, als Luxemburg den Vorsitz der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) hatte, nahm Georges Santer als Leiter der luxemburgischen Delegation diese Aufgabe des Vorsitzenden wahr und beschäftigte sich in der Zeit auch von Amts wegen intensiv mit unbekannten Aspekten der Vernichtung der europäischen Judenheit. Die IHRA als Internationale Allianz zum Holocaustgedenken ist „eine 1998 gegründete zwischenstaatliche Einrichtung, die Regierungen und Experten zusammenbringt mit dem Ziel, die Aufklärung, Forschung und das Erinnern im Bereich des Holocaust weltweit zu fördern und voranzutreiben“, weiß Wikipedia. Und Santer wusste zu berichten, dass im Großherzogtum Luxemburg bis heute die Verhandlungen um eine Restitution jüdischen Eigentums nicht abgeschlossen sind.


Frank Schroeder, Direktor des Musée national de la Résistance in Esch an der Alzette, spricht als Dritter. Er ist zugleich Kurator der Wanderausstellung Between Shade & Darkness und berichtet aus erster Hand von der Entstehung des Projekts . 

Als Dritter sprach Frank Schroeder, Direktor des Musée national de la Résistance in Esch an der Alzette, ganz im Süden des Großherzogtums gelegen, aber auch nur 20 Autominuten vom Stadtzentrum Luxemburgs entfernt, für Berliner Verhältnisse ein nahegelegener Vorort. Schroeder ist zugleich Kurator der Wanderausstellung und konnte aus erster Hand von der Entstehung des Projekts berichten. Das Luxemburger Nationalmuseum des Widerstands gibt es seit 1956, aber erst seit 2012 befassen sich dessen Mitarbeiter näher mit dem Umstand, dass in Luxemburg auch jüdische Bürger unter der Besatzungsmacht litten. 2013 begannen die Arbeiten für eine erste Ausstellung, die den Luxemburgern von heute erstmals vor Augen führte, dass Anfang 1940, vor dem Einmarsch der Wehrmacht, etwa 4 000 jüdische Bürger in Luxemburg lebten, davon drei Viertel Ausländer, die aus den deutschsprachigen Ländern geflohen waren, viele von ihnen mittlerweile staatenlos.

Luxemburg sei ein beliebtes Exilland gewesen, erläutert Frank Schroeder, weil das Moselfränkisch für Deutsche und Deutschsprachige leicht verständlich ist. Gut zwei Dritteln dieser sehr gemischten jüdischen Bevölkerung gelang nach dem Einmarsch deutscher Truppen noch die Flucht, obwohl das 1940 und 1941 schon schier unmöglich war und oft in französischen Internierungslagern endete. Das Ausstellungsteam konnte letztlich sieben Sammeltransporte in den Osten nachweisen, vom 16. Oktober 1941 bis 17. Juni 1943 gingen die Züge mit gelisteten 658 Deportierten überwiegend in die dortigen Gettos, ein Zug fuhr direkt in die Vernichtungsstätte Auschwitz.

Auf dieser ersten Ausstellung für das Musée national de la Résistance in Esch basiert nun die neue, als internationale Wanderausstellung konzipierte und deshalb in Deutsch und Englisch zweisprachig angelegte Schau Between Shade & Darkness, deren erste Station Berlin ist und zwar genau am Ort des einstigen Reichssicherheitshauptamtes, zuständig neben vielem anderen auch für die Judenpolitik des Deutschen Reiches, auf dessen Gelände heute die „Topographie des Terrors“ steht, um an die Vernichtung der Judenheit und ungezählte weitere Staatsverbrechen zu erinnern.


Nach dem Ende der Veranstaltung am 14. Juli 2020 gegen 21.10 Uhr aufgenommen, lässt die Topografie des Geländes gut erkennen oder doch erahnen, wo einst der Nukleus des Reichssicherheitshauptamtes lag, das Gebäude des Geheimen Staatspolizeiamts mit der Hausnummer Prinz-Albrecht-Straße 8: direkt vor der Nase des Betrachters – unter dem Glasdach des heutigen Ausstellungsgrabens sind die Fundamente des einstigen Gebäudes zu sehen.

So wohnten die dreißig geladenen Gäste an dem Abend einer Doppelpremiere bei: der ersten Veranstaltung nach Corona und der ersten Präsentation dieser neuen Luxemburger Ausstellung, eine Europapremiere gewissermaßen. Gut, dass sie am klassischen Veranstaltungstag der „Topographie“, dem Dienstag, stattfand. Am folgenden Mittwoch, dem 15. Juli 2010, sprach das Auswärtige Amt (AA) eine Reisewarnung aus: „Vor nicht notwendigen, insbesondere touristischen Reisen nach Luxemburg wird derzeit gewarnt.“ Das AA hob seine Reisewarnung erst nach 6 Wochen am 20. August 2020 wieder auf (laut AA, Stand 20. August 2020).

Nachsatz. Am vergangenen Montag, dem 20. Juli 2020, fand in Berlin die zentrale Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an das missglückte Attentat auf den schädlichsten Berufspolitiker statt, der Deutschland im 20. Jahrhundert regiert hatte. Das Gelingen des mit der Tat eingeleiteten Umsturzes und die von den Attentätern beabsichtigte Beendigung des Krieges hätten wahrscheinlich Millionen Menschenleben in Europa gerettet – für die aus Luxemburg in den Osten deportierten jüdischen Bürger war der 20. Juli 1944 ein Tag ohne Belang: Die meisten von ihnen waren zuvor schon dem Staatsmord anheimgefallen.


Einleitende Schautafel der Ausstellung Between Shade & Darkness. Schicksalswege der Juden Luxemburgs zwischen 1940 und 1945 im Foyer des Dokumentationszentrums „Topographie des Terrors“. Das Bildmotiv findet sich auch auf dem Ausstellungskatalog wieder.

Info
Die Wanderausstellung Between Shade & Darkness. Schicksalswege der Juden Luxemburgs zwischen 1940 und 1945 ist seit dem 15. Juli 2020 im Foyer des Dokumentationszentrums „Topographie des Terrors“ als Sonderausstellung zu sehen. Sie wird bis zum Sonntag, dem 20. September 2020, dort stehen, sagt die Website Topographie des Terrors.
Hinweis: Seit Sonnabend, dem 1. August 2020, ist die „Topographie“ täglich wieder wie vor Corona von 10 bis 20 Uhr geöffnet – und beide Eingänge (Niederkirchnerstraße und Wilhelmstraße) sind ebenfalls wieder frei zugänglich. (Stand 20. August 2020 – die Info zur Ausstellung finden Sie hier.)

Katalog
Zur Sonderausstellung ist ein Katalog erschienen und für 15 Euro in der „Topographie“ am Tresen vis-à-vis der Ausstellung erhältlich. Er trägt, abweichend vom Titel der Ausstellung, den Titel: Schicksalswege der Juden Luxemburgs zwischen 1940 und 1945. The Fate of the Jews of Luxembourg between 1940 and 1945. Ausstellungskatalog auf Deutsch und Englisch, herausgegeben vom Musée national de la Résistance, Luxemburg 2020. 164 Seiten, fester Einband. (Die Info zum Katalog finden Sie hier.)

Fotos © Dr. Rainer Bieling

Hinweis