Mittwoch, 17. Juni 2020

Roswitha Schieb stellt ihr neues Buch „Risse“ im Buchhändlerkeller vor


Nach der coronabedingten Schließung lädt der Charlottenburger Literaturtreff am 16. Juni 2020 zu einer Buchvorstellung in Anwesenheit von leibhaftigen Zuhörern ein



Die drei Protagonisten des Abends, von links nach rechts: auf dem Podium Roswitha Schieb, die Autorin des Buchs „Risse. Dreißig deutsche Lebensläufe“, und Frank Böttcher, der Verleger des Lukas Verlags, in dem das Buch im Oktober 2019 erschien, am Pult Jürgen Tomm, der stellvertretende Vorsitzende des Vereins der Freunde des Buchhändlerkellers, der die leibhaftigen Gäste im Namen des Veranstalters willkommen heißt.


Es sind die in Bürgerinitiative entstandenen und privatrechtlich organisierten Veranstalter, die seit Anfang Juni 2020 aus dem künstlichen Coronakoma wieder erwachen, während die staatlichen Veranstaltungsorte gar nicht daran denken, ihre für sie unverhofften Coronaferien zu beenden. So war es am gestrigen Dienstag, dem 16. Juni 2020, denn auch der von einem Verein Ehrenamtlicher betriebene Buchhändlerkeller in der Charlottenburger Carmerstraße, der zu einer Buchvorstellung bat und diese in Anwesenheit der an diesem Ort von Staats wegen geduldet maximal 25 Zuhörer dann tatsächlich live und in echt durchführen durfte.

Auf dem Foto oben sind die drei Protagonisten des Abends zu sehen: auf dem Podium Roswitha Schieb, die Autorin des Buchs „Risse. Dreißig deutsche Lebensläufe“, und Frank Böttcher, der Verleger des Lukas Verlags, in dem das Buch im Oktober 2019 erschien, am Pult Jürgen Tomm, der stellvertretende Vorsitzende des Vereins der Freunde des Buchhändlerkellers, der die leibhaftigen Gäste im Namen des Veranstalters willkommen hieß.



„Risse“-Autorin Roswitha Schieb und Lukas-Verleger Frank Böttcher beantworten nach der Lesung dreier ausgewählter Lebensläufe im Buchhändlerkeller Fragen aus dem Publikum.


Die Rollenverteilung an dem Abend war klar und schlüssig: Der Verleger führt in das Werk ein und stellt Fragen, die Autorin liest aus dem Werk vor und gibt Antworten. Und was Roswitha Schieb da vorlas, nämlich Auszüge aus drei der dreißig Lebensläufe, war nicht nur sprachlich von erster Güte, sondern auch sachlich so fundiert, dass der Abend unversehens zu einer „Deutschstunde“ geriet, die weiter ausholte und tiefer griff, als es zu seiner Zeit Siegfried Lenz gelang. Was allein die drei von Roswitha Schieb vorgetragenen Lebensläufe an Erkenntnisgewinn brachten – der von Clara Immerwahr und ihres Ehemanns Fritz Haber, der von Bernward Vesper und schließlich der von Helga M. Novak –, machte schlaglichtartig klar: Hier gehen „Risse“ durch Biografien, die deutscher und dramatischer nicht sein könnten.

Es ist dieser Bogen vom Deutschen Reich der Kaiserzeit (und seinem Weltkrieg), über das Dritte Reich (und seinen Weltkrieg) und dessen Zerfallsprodukte DDR und Bundesrepublik (und deren Kalten Krieg) bis zum wiedervereinigten Deutschland, der 150 Jahre in Gestalt von 30 Lebensläufen zum Porträt eines Landes verbindet, dessen Bürger Schaden um Schaden verkraften müssen, zugefügt von Generationen von Berufspolitikern, die sich wieder und wieder an Rechten und Freiheiten, am Eigentum, an Körper, Geist und Seele und selbst an Leib und Leben ihrer Bürger vergreifen. Vorgestellt am Vorabend des heutigen Erinnerungstages an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953, sind die 30 „Risse“ das passende Buch zum Nachdenken über Deutschland in Zeiten von Corona und – ach was, lesen Sie selbst!


Info
Roswitha Schieb: Risse. Dreißig deutsche Lebensläufe. Lukas Verlag, Berlin Oktober 2019. 303 Seiten, Festeinband, 24,90 Euro. Link zu Lukas: Risse online ansehen und bestellen. Oder bei eichendorff21 besorgen, dem Perlentaucher unter den Buchläden.

Website 
Lukas Verlag, Kollwitzstraße 57, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg: https://www.lukasverlag.com
Website Veranstaltungsort
Buchhändlerkeller, Carmerstr. 1, 10623 Berlin-Charlottenburg: http://www.buchhaendlerkeller-berlin.de

Nachträge
Eine Besprechung der „Risse“ aus der Feder von Marko Martin erschien am 6. August 2020 in der Jüdischen AllgemeinenLewald, Benjamin und all die anderen. Roswitha Schieb erinnert in ihrem Essayband »Risse« an Protagonisten der »deutsch-jüdischen Symbiose«.
Eine Besprechung des nachfolgenden Erzählbands „Der Hof“ aus meiner Feder erschien am 14. August 2020 in den Berliner Freiheiten„Der Hof“ bringt zwei Welten zusammen, die Westfälische und die Schlesische.

Fotos © Dr. Rainer Bieling


Dienstag, 2. Juni 2020

Am 2. Juni 1967 starb Benno Ohnesorg durch eine Polizeikugel



Ein rabenschwarzer Tag, der eine neue politische Strömung ans Licht und am Ende an die Macht brachte.


Vorbemerkung Der nun folgende Beitrag erschien aus Anlass des 50. Todestags von Benno Ohnesorg am Freitag, dem 2. Juni 2017, unter der Überschrift Die Wurzeln der Grünen reichen weit zurück in Der Hauptstadtbrief in der Berliner Morgenpost

Aus Anlass des 53. Todestags am Dienstag, dem 2. Juni 2020, mache ich den Beitrag hier erneut und im Weiteren textlich unverändert zugänglich. Aus Urheberrechtsgründen ist das 2017 verwandte Foto im Folgenden nicht enthalten, stattdessen sind es einige Aufnahmen vom 2. Juni 2017, als ich am Tatort, der längst ein Gedenkort ist, eine Blume niederlegte. Viele andere taten es ebenso.




Tatort Krumme Straße: In diesem offenen Garagengeschoss unter dem Wohnhaus mit der Hausnummer 66/67 fiel der tödliche Schuss. Hierhin hatten sich am 2. Juni 1967 einige Demonstranten geflüchtet, als die Polizei sie mit Gewalt von der Deutschen Oper vertrieb und bis in die Krumme Straße hinein verfolgte und weiter mit Gummiknüppeln auf die Schutzsuchenden einschlug. Dann zückte ein Polizeibeamter seine Dienstwaffe und erschoss den Erstbesten, den wehrlosen Benno Ohnesorg.

2. Juni 1967. Benno Ohnesorg, 26, Student an der Freien Universität Berlin, liegt leblos am Boden hinter der Deutschen Oper. Dort hatte er mit anderen Studenten gegen den Schah von Persien protestiert und war beim Vertreiben der Demonstranten von einem West-Berliner Polizisten erschossen worden. 42 Jahre später, 2009, stellte sich heraus, dass der Polizist Agent der DDR-Staatssicherheit und Mitglied der Ost-Berliner SED war, die 2017 unter dem Namen Die Linke auch das einstige West-Berlin regiert. Im West-Berlin von 1967 hingegen herrschte die SPD ohne Wenn und Aber, fast 57 Prozent hatte sie im März 1967 bei der Abgeordnetenhauswahl erzielt.

Der gewaltsame Tod von Benno Ohnesorg wurde von der Außerparlamentarischen Opposition (APO) als das verstanden, als das er inszeniert war: als Angriff des Establishments auf die Protestbewegung. Als zu Ostern 1968 auch noch deren Wortführer Rudi Dutschke angeschossen und schwer verletzt wurde, stand für die APO fest: Das Establishment, damals auf Bundesebene eine große Koalition aus SPD und Union, die 87 Prozent der Wähler repräsentierte, hatte ihr den Krieg erklärt. Ein sehr kleiner Teil der Achtundsechziger griff nun ebenfalls zu den Waffen und formierte die Rote Armee Fraktion (RAF). Die überwiegende Mehrheit der Außerparlamentarischen machte sich auf den Marsch durch die Institutionen, um den Staat friedlich zu übernehmen.



Gedenkort Krumme Straße: Besuch an der Stele zur Erinnerung an Benno Ohnesorg in der Krummen Straße am 2. Juni 2017 aus Anlass des 50. Jahrestags seines gewaltsamen Todes. Im offenen Parkgeschoss des anliegenden Hauses Krumme Straße 66/67 unweit der Deutschen Oper streckte ihn am Abend des 2. Juni 1967 die Polizeikugel nieder.

2. Juni 2017. Benno Ohnesorg ist 50 Jahre tot und die friedliche Übernahme ein voller Erfolg. Zuerst hatten sich die Außerparlamentarischen nach einem Jahrzehnt roter Experimente in die neue Gestalt der Grünen und in eine parlamentarische Opposition verwandelt, die es 1983 in den Bundestag schaffte. 1985 koalierten die Grünen erstmals im Bundesland Hessen mit einer Partei, in die ein anderer Teil der Achtundsechziger eingewandert war, mit der SPD. Berühmt der grüne „Turnschuh-Minister“ Joschka Fischer, der mit seinem Street-Look signalisierte: Seht, wir sind drin!

In 35 Jahren sind die Grünen Teil des staatstragenden Establishments geworden, eine grüne Beteiligung an einer schwarzen Bundesregierung würde diesen Prozess nur krönen. Das letzte APO-Tabu fiele: Die Grünen in einem Boot mit der Partei Konrad Adenauers, Kurt Georg Kiesingers und Helmut Kohls, ganz offiziell. Denn informell sind das autoritäre Establishment von gestern und die grünrote Ökokratie von heute längst nahtlos verbunden. Jede Bundestagsentscheidung über Energiepolitik, Eurorettung und Migration belegt den Konsens der Demokraten, den die Leitmedien so einmütig loben.


Dr. Rainer Bieling ist Redaktionsdirektor des Informations- und Hintergrunddienstes Der Hauptstadtbrief. Im Jahr 1967 war er Gymnasiast in West-Berlin und engagierte sich in der Protestbewegung gegen das damalige Establishment. Seit dem Abschluss seines Studiums arbeitet er in privatwirtschaftlichen Printmedien. Für den Hauptstadtbrief macht er darauf aufmerksam, dass der Marsch durch die Institutionen die übergroße Mehrheit seiner Altersgenossen und der von ihnen politisierten grünen Generation geradewegs in den öffentlichen Dienst führte, in dem sie sich als neues Establishment wohl fühlt – und wieder alles besser weiß.


Nachbemerkung Der obige Text und die Biografie sind dem Hauptstadtbrief in der Berliner Morgenpost vom 2. Juni 2017 entnommen. Das war die letzte der seit dem 5. Juni 2015 zwei Jahre lang an jedem ersten Freitag im Monat mit 8 Seiten Umfang erscheinenden Zeitungsbeilagen des Informations- und Hintergrunddienstes Der Hauptstadtbrief, der seinerseits im März 2017 mit der Ausgabe 140 als eigenständiges Magazin eingestellt worden war. Von 2012 bis 2018 war ich Redaktionsdirektor des Hauptstadtbriefs. Seit Januar 2019 bin ich Redaktionsdirektor i. R. – im Ruhestand.



Erinnerungsort Krumme Straße: Aus Anlass des 50. Jahrestags des Todes von Benno Ohnesorg besuchten am Nachmittag des 2. Juni 2017 zahlreiche Achtundsechziger den Tatort unweit der Deutschen Oper, so auch Eva Quistorp, Mitbegründerin der Grünen und später deren Abgeordnete im Europaparlament, hier im Arm von Detlef Prinz, dem Verleger des Hauptstadtbriefs, mit dem ich nach der Arbeit gekommen war.
Fotos © Dr. Rainer Bieling

Originalfotos vom 2. Juni 1967 hält Der Spiegel online bereit; unter der Überschrift Der vertuschte Mord am Studenten Benno Ohnesorg sind 27 Fotos auf Spiegel Geschichte frei verfügbar (nach dem Klicken der Schaltfläche “Mit Werbung weiterlesen”). Gleich die erste Aufnahme ist das ikonische Bild des tödlich getroffenen Benno Ohnesorg, das wir bei der Illustration meines Artikels im Hauptstadtbrief in der Morgenpost am 2. Juni 2017 verwendet hatten. Bild Nummer 12 ist eine Skizze des Tatorts, den mein erstes Foto (oben) vom 2. Juni 2017 aus der gleichen Perspektive, leicht angeschrägt, zeigt.