Freitag, 14. August 2020

„Der Hof“ bringt zwei Welten zusammen, die Westfälische und die Schlesische


Eine Parabel über das Nachkriegsparadox der Ungleichheit des Schadens durch politisches Handeln am Beispiel der fatalen Koexistenz der 
Geschädigten aus dem Osten mit den Unbehelligten im Westen.


Die Erzählung „Der Hof“ von Roswitha Schieb erschien am 6. Juli 2020 in einer gebundenen Ausgabe mit 64 Seiten Umfang in der Edition A · B · Fischer.


Weil die noch längst nicht ausgelesenen „Risse“, Roswitha Schiebs vorhergehende Buchveröffentlichung vom Spätherbst 2019, viel zu schwer für das limitierte Handgepäck meiner kurzen Sommerreise gewesen wären, packte ich stattdessen Ende Juli 2020 das soeben erschienene, sehr viel leichtere Büchlein „Der Hof“ ein und las es dann in den Ferien.

Der Hof, den die Erzählung als Örtlichkeit und als Lebensraum zweier völlig verschiedener Bewohner ausleuchtet, ist ein herrschaftlicher Bauernhof in Westfalen, in den 1970er- und 1980er-Jahren neugierig beobachtet und beschrieben aus dem Blickwinkel einer Heranwachsenden. Am Ende war ich ganz enttäuscht zu erfahren, dass der Schultenhof nur noch in der Erinnerung lebt. Das tut er jedoch so nachhaltig, dass mir beim Schreiben dieser Zeilen gleich wieder Bilder der Raum- und Gegenstandsfülle des Hofs im Kopf herumgehen.

Das Besonders des Hofs aber sind seine beiden Bewohner, die unterschiedlicher nicht sein könnten: die unverheiratete Bäuerin, eine betont maskuline, herrische Westfälin, und ihre ebenfalls ledige Magd, eine gutmütige, klaglos nachgiebige Schlesierin. Zwei Fräulein also, die die Erzählerin Tanten nennt. Die leibliche Tante ist eine Vertriebene aus Schlesien, die Nenntante eine einheimische Westfälin. Damit sind die Rollen klar verteilt: Der schlesischen Tante Lieschen gehört nichts auf dem Hof, der westfälischen Nenntante Mine alles.

So ist „Der Hof“ eine Parabel über das Nachkriegsparadox, dass der Schaden, den die regierenden Politiker des Deutschen Reichs durch ihr Handeln in den Jahren 1933 bis 1945 den Bürgern zufügten, vollkommen ungleich verteilt war: Die einen verloren alles, viele selbst ihr Leben, die anderen nichts.

„Der Hof“ als Erzählung einer Erinnerung ist deshalb so anregend, weil er beim Lesen in eine – mir jedenfalls – unbekannte Welt führt, die zwei Welten zusammenbringt, die Westfälische und die Schlesische, von denen ich so gar nichts weiß. Im Grunde ist die Erzählung eine autobiografische Erweiterung der „Risse“ mit dem gleichen Hintergrundthema der Unermesslichkeit des Schadens, den politische Entscheidungen den Biografien von Bürgern zuzufügen in der Lage sind, hier noch getoppt durch die Ungleichheit des Schadens, die auf ein und demselben Hof in Gestalt der beiden Fräulein koexistiert.

Sehr erhellend das alles und ein literarisches Denkmal für jene unbekannte Zahl unter den zwölf Millionen Vertriebenen, denen es ähnlich erging: Zerstörung, Enteignung, Flucht oder Vertreibung und Deportation in einen Landesteil, dessen Bewohner voller Ablehnung gegenüber diesen Heimatvertriebenen waren. Und auch ein Denkmal für jene wie die zweite Tante der Erzählerin, die gar nicht erst überlebte und kein Grab in Schlesien fand.

Wenn das neue Domizil der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung im Deutschlandhaus schneller als der Berliner Flughafen fertig würde, wäre es für eine Buchvorstellung der richtige Ort. „Der Hof“ zeigt nämlich in Miniatur, wie unvollkommen selbst die innerdeutsche Versöhnung zwischen Unbehelligten im Westen und Geschädigten aus dem Osten im ersten halben Jahrhundert nach Kriegsende blieb. Beim Klick auf die Website der Stiftung sehe ich aber, dass mit der Eröffnung des neuen Domizils erst „ab Sommer 2021“ zu rechnen sei (Stand August 2020).


Roswitha Schieb auf einem privaten Foto, entnommen ihrer Erzählung „Der Hof“, Seite 63.  


Roswitha Schieb
wird ihre Erzählung wohl anderswo vorstellen müssen – vielleicht wieder im Buchhändlerkeller in der Carmerstraße, wo ich die Autorin überhaupt erst kennenlernte, als sie bei einer der ersten Veranstaltungen nach Corona im Juni 2020 aus ihrem Buch „Risse. Dreißig deutsche Lebensläufe“ vorlas. (Das hatte mir so gut gefallen, dass ich am 17. Juni 2020 in meinem Blog Berliner Freiheiten darüber berichtete.)


Buchinfo
Roswitha Schieb: „Der Hof. Erzählung.“ Edition A · B · Fischer, Berlin Juli 2020. 64 Seiten, gebundene Ausgabe, 16 Euro. Direktbezug beim Verlag ist möglich. Oder natürlich der Einkauf bei eichendorff21, dem Perlentaucher unter den Buchläden.

Weblinks
Edition A · B · Fischer,
 Illigstraße 52, 12307 Berlin: Startseite www.edition-abfischer.de
Allgemeines Buchprogramm
Buchseite „Der Hof“ mit Leseprobe als PDF (die ersten 11 Seiten zum Einlesen und Mehr-davon-Wollen)
Biografie Roswitha Schieb auf Literaturport, dem Portal des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB) und des Brandenburgischen Literaturbüros (BLB): Vita www.literaturport.de/Roswitha.Schieb
Bericht von der Buchvorstellung des vorhergehenden Buchs am 17. Juni 2020: Roswitha Schieb stellt ihr neues Buch „Risse“ im Buchhändlerkeller vor. Eine Besprechung der „Risse“ aus der Feder von Marko Martin erschien am 6. August 2020 in der Jüdischen AllgemeinenLewald, Benjamin und all die anderen. Roswitha Schieb erinnert in ihrem Essayband »Risse« an Protagonisten der »deutsch-jüdischen Symbiose«.

                                                                     
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Nachbemerkung Den obigen Text wollte ich am 7. August 2020 spontan als Kundenrezension auf Amazon veröffentlichen. Aber spontan geht hier gar nichts mehr. Auch Amazon ist nun von Staats wegen gezwungen, das freie Wort zu kontrollieren, ehe es die Öffentlichkeit erreicht. Nach zwei Tagen der Prüfung erhielt ich diese Mitteilung:

Mitteilung von Amazon am 9. August 2020. Beim Klicken auf dieses Bildschirmfoto vergrößert es sich und lässt sich besser lesen. In der Email folgen dann einige allgemeine Punkte, die beachtet werden sollten“. Gut zu erkennen in der Abbildung: Ich hätte 5 Sterne vergeben.

Wohl um zu verhindern, dass sich Trolle ungehindert der Amazon-Website als Plattform bedienen, definiert Amazon die Rezensionsmöglichkeit zu jedem Buch als Kundenrezension und den Kunden als jemanden, der mindestens 50 Euro Jahresumsatz gemacht hat. Ich hatte nicht für mindestens 50 Euro innert der letzten 12 Monate bei Amazon bestellt, sondern nur für 46,69 Euro – zu wenig.

Außerdem ist es nicht statthaft, auf eine Seite außerhalb des Amazon-Kosmos zu verlinken, was ich, siehe oben, unwissentlich getan hatte. Doch Ignorantia non est argumentum, wie ich seit meiner Spinoza-Lektüre in den 1970er-Jahren nur allzu gut weiß, Unwissenheit ist kein Argument. Bei dem Verlinkungsverbot geht es wahrscheinlich darum zu verhindern, dass Kunden versehentlich oder absichtlich auf Seiten verlinken, die antifaschistische, antirassistische oder antikolonialistische Hass- und Hetztiraden verbreiten.

Das Scheitern der Veröffentlichung als Amazon-Kundenrezension ist bedauerlich; denn ich hätte, wie oben in der Abbildung zu erkennen, 5 Sterne vergeben, um der Erzählung „Der Hof“ den gebührenden Rang zuzuerkennen. Außerdem hat auch eine Amazon-Unterseite vermutlich eine größere Reichweite, als sie die Berliner Freiheiten haben. Wer wissen will, was er sonst noch falsch machen kann, lese also vor einer geplanten Veröffentlichung auf Amazon die
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