Montag, 26. Januar 2009

In memoriam E.B.


„Ich habe eine sozialdemokratische Kinderstube und bin ein Kind von Achtundsechzig.“
So begann mein großer, mir sehr wichtiger Beitrag "Ohne Sozialismus geht es besser" in der Tageszeitung Die Welt vom 26. November 2008 (siehe auch meinen Eintrag vom 28. November 2008 weiter unten). Heute, am 26. Januar 2009, wäre der männliche Teil dieser Kinderstube, mein Vater Erich, 110 Jahre alt geworden. (Die Abbildung rechts zeigt seinen Grabstein am heutigen Tag; sie lässt sich durch Klicken aufs Bild vergrößern). Es ist nicht nur diese schier unglaubliche Zahl, die gleich drei Jahrhunderte verbindet, es ist die Bedeutung des intellektuellen Erbes väterlicherseits, die eine Erinnerung nahelegt. Im Schlussteil des eingangs erwähnten Welt-Artikels wird der Anteil des lebenslangen SPD-Mitglieds Erich Bieling an meiner politischen Bildung deutlich: als Grundierung, die ein Gespür für totalitäres Denken bewahren half. Aber lesen Sie selbst:
„Warum ich mir den Kopf über die SPD zerbreche, obwohl mich das als Nichtmitglied gar nichts angeht? Oh doch geht mich das was an. Den politischen Parteien weist das Grundgesetz die Aufgabe zu, an der Meinungsbildung des Volkes mitzuwirken. Ich bin das Volk, wie jeder andere wahlberechtigte Bürger auch.

Da ist es wichtig, dass das Volk den Mund auch aufmacht. Zweitens beinhaltet Mitwirkung kein Monopol auf Meinungsbildung, und drittens habe ich als Stimmbürger ein Wahlrecht. Fiele die SPD als eine der beiden großen Volksparteien für mich als nicht wählbar aus, weil sie am Sozialismus des 19. Jahrhunderts festhält, wäre meine Wahlmöglichkeit als Wähler des 21. Jahrhunderts eingeschränkt, meine Einflussnahme auf parlamentarische Mehrheitsbildungen beschnitten. Als Stimmbürger liegt mir viel an einer SPD, vor der ich nicht (wie bei uns in Berlin) Angst haben muss, dass sie mir nach der Wahl ein Kuckucksei ins Nest legt, aus dem ein Gysi schlüpft.

Ich habe eine sozialdemokratische Kinderstube. Solche krummen Dinge gab es bei uns nicht. Mein Vater war schon vor der Nazizeit Sozialdemokrat. Nach dem Krieg verweigerte er die Annahme des SED-Parteibuchs. Aus der Sowjetzone floh er, weil er Stalin im Dezember 1948 die Eloge zum 70. Geburtstag verweigert hatte. In West-Berlin war er Abonnent des Monat, der den demokratischen Neubeginn intellektuell begleitete, ein Monatsblatt, das gebildete Sozialdemokraten und andere Gegner der Gewaltherrschaft seinerzeit lasen. Ein Zweifel an der wahren Natur von Nationalsozialismus und realem Sozialismus konnte da nicht aufkommen. Zweifel an der demokratischen Führungsmacht USA sollten sich einstellen, als der Vietnamkrieg bestialisch wurde. Wie diese Zweifel die schon gewonnenen Erkenntnisse über das Wesen des Sozialismus verdrängen und geradezu auf den Kopf stellen konnten, habe ich vor zwanzig Jahren in meinem Buch Die Tränen der Revolution beschrieben. [Siehe auch meinen Eintrag vom 12. April 2008 ganz unten.] Es schloss den Kreis, der gute Ton der Kinderstube hatte wieder einen reinen Klang. Wie jede Renaissance war es doch ein Neues; denn nun war klar, dass den auf Anmaßung beruhenden und auf Unterwerfung zielenden Ideologien zu widerstehen ein antiautoritärer Impuls ist. Der SPD möchte ich umgekehrt wünschen, dass sie aus ihrem fatalen Kreislauf ausbricht; denn ihrer ist ein Teufelskreis.“

Mittwoch, 21. Januar 2009

Gerdas Schweigen


Das war ein Abend ganz nach meinem Geschmack.
Im Kino Babylon in Mitte einen Film sehen, dessen Regisseurin Britta Wauer direkt über dem Kino wohnt, schon immer, die wiederum von einer Frau erzählt, Gerda nämlich, die ihrerseits gleich um die Ecke gewohnt hat. Das liegt allerdings 60 Jahre zurück. Heute wohnt Gerda (Abbildung rechts), hochbetagt, in New York City. Der Film Gerdas Schweigen berichtet, wie es dazu kam. Diese Geschichte wiederum hatte zuvor Knut Elstermann in seinem gleichnamigen Buch aufgeschrieben. Seine Familie, die ihn einst als Schuljungen mit Gerda zusammengebracht hatte, wohnt oder wohnte ebenfalls in dem Kiez Berlin Ecke Volksbühne, so der Titel des ersten Dokumentarfilms von Britta Wauer (das Kino Babylon liegt schräg gegenüber der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz). Heute Abend also lief Gerdas Schweigen erstmals im Babylon, und alle waren da, die Regisseurin, der Buchautor, der Kamera- und Ehemann, der Komponist der Filmmusik, nur Gerda fehlte, die Hauptperson, aber das machte nichts. Denn Gerda war sowas von anwesend, sie brauchte gar nicht persönlich aus New York zu kommen.

Ihre Geschichte und damit der Inhalt des Dokumentarfilms ist in der Synopsis des Filmverleihs Piffl Medien auf den Punkt gebracht. Was den Abend aus dem Kinobesuchsalltag heraushob, war die Anwesenheit der Macherin und Macher, die dem Zelluloid ein Echtheitszertifikat anheftete. Was von dem Abend bleibt, ist noch wichtiger: eine nachhaltige Erkenntnis. Wir sehen nämlich auf der Leinwand ein echtes Berliner Mädchen, Gerda eben, blutjung, bildschön, blitzgescheid, genau so, wie sich ein echter Berliner Junge Mädchen wünscht. Und dann kriegt das Berliner Mädchen, inzwischen zur jungen Frau herangewachsen, den Judenstern auf die Brust. Von einem Tag zum anderen ist sie keine Deutsche mehr, sondern Jüdin. Selten wird einem die nationalsozialistische Fabrikation des Juden so deutlich wie in diesem Film.

Da gewinnt eine totalitäre Bewegung, die nie mehr als ungefähr die Hälfte der Bevölkerung vertritt, die Deutungs- und Durchsetzungsmacht, einen anderen, kleineren Teil eben dieser Bevölkerung erst ideell, dann real auszusondern, bis diese Deutschen, die bis eben wie alle anderen deutsche Staatsbürger waren, keine Deutschen mehr, sondern Juden sind, denen erst das Staatsbürgerrecht und dann das Lebensrecht verweigert wird. Schon deshalb sollten wir nie wieder von "Deutschen und Juden" sprechen, wenn wir vom Nationalsozialismus reden; denn dann haben die Nationalsozialisten noch nachträglich gewonnen.

Das betrifft auch den ersten Teil des Wortpaares "Deutsche und Juden", im nationalsozialistischen Jargon "das deutsche Volk". Die Aussage, "die Deutschen" hätten "die Juden" umgebracht, wäre ebenfalls ein später, nachträglicher Sieg des Nationalsozialismus. Gerdas Sohn erliegt dieser Progaganda, ohne es zu wollen, wenn er verkündet, sich nie und nimmer in einen Volkswagen zu setzen. Gerdas Bericht bringt den tatsächlichen Sachverhalt ans Licht: Es gab im Dritten Reich die illoyalen Deutschen, die nicht mit den Nationalsozialisten übereinstimmten, die nicht mit ihnen paktierten und sich ihnen zum Beispiel dadurch widersetzten, dass sie Gerda nach 1941, nach der Auslösung der Endlösung, halfen, als U-Boot in Berlin zu überleben: durch Untertauchen ohne den Judenstern.

Dieser Teil des Films, in dem Gerdas Schweigen endlich in Gerdas Reden übergeht, ist schier unglaublich. Gerda berichtet von einem nationalsozialistischen Aufseher, der sie nicht verpfeift. Von etlichen Berlinern und einem Ungarn, die ihr das Überleben im Untergrund ermöglichen. Und von zwei jüdischen Gestapospitzeln, die sie schließlich ans Messer liefern, das den Namen Auschwitz trägt. Gerda, die völlig unpolitische Berlinerin, bestätigt hier die Deutschlandanalyse des hoch politischen Berliners Sebastian Haffner, die ich weiter unten in meinem Eintrag vom 3. Oktober 2008 würdige. Die Deutschen waren nicht nur vor, sondern auch nach 1933 tief gespalten. Die Gestapo hat dafür gesorgt, dass sich die schweigende Minderheit nicht artikulieren konnte. Zum Verschwinden hat sie sie nie gebracht, auch nie zum Versagen von Nächstenliebe. Gerda hat davon profitiert, eine Weile lang jedenfalls. Das blieb nicht ohne Folgen. Aber sehen Sie selbst, der Film läuft noch im Kino. Tipp: Sie brauchen nur Gerdas Schweigen zu googeln, und schon sehen Sie den Aufführungsort im aktuellen Kinoprogramm als ersten Eintrag. Armer tip.
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POSTSCRIPTUM Der Buchautor Knut Elstermann, der in dem Dokumentarfilm als Person und Offstimme mitspielt, ist ist im Brotberuf Filmkritiker und Moderator bei radio eins "Nur für Erwachsene". (Die segensreiche Rolle dieses Senders, der es seinen Mitarbeitern und Hörern gestattet, in Würde zu altern und dabei die Liebe zum Pop forever young zu halten, habe ich schon in meinem Eintrag vom 27. Oktober 2008 gewürdigt. Es war mein früherer Zitty-Kollege Helmut Lehnert, der radio eins ins Leben gerufen und sich damit bleibende Meriten verdient hat.) Nur für Erwachsene ist auch das Folgende. Warnung eins: Es verrät entscheidende Inhalte des Films. Warnung zwei: Es könnte Kinderglauben verletzen.

Ähnlich wie der französische Spielfim Le Secret (Ein Geheimnis), den ich unter Meine Kinotipps (siehe linke Randspalte) aufgenommen habe, bringt Gerdas Schweigen die Sprache auf ein totes Kind. Es ist dieses tote Kind, das Gerdas Schweigen auslöst. Und da es in beiden Filmen die Nationalsozialisten sind, die den Kindesmord herbeiführen, in Gerdas Fall ein sogar namentlich bekannter Nationalsozialist, der KZ-Arzt Dr. Josef Mengele, könnte man annehmen, Gerdas Schweigen verdanke sich dem totalitären Schock der grenzenlosen Entrechtung und Entmenschung der jüdischen Deutschen in Auschwitz. Aber dem ist nicht so, und ich bin mir nicht sicher, ob das der Protagonistin selbst, dem Autor und der Regisseurin überhaupt bewusst ist.

Gerdas Schweigen beginnt 1947, als sie von Berlin nach New York City übersiedelt, und es endet 60 Jahre später, 2007, als sie mit Knut Elstermann spricht, dem Sprössling ihrer alten Berliner Bekannten. Mit denen konnte sie nach ihrer Flucht aus Auschwitz und ihrer Rückkehr nach Berlin in den Jahren von 1945 bis 1947 über das tote Kind sprechen. Von Berlinerin zu Berlinerin, für die ein voreheliches Verhältnis und ein uneheliches Kind nichts Verdammungswürdiges waren. Gleiches gilt für 2007, als die Begegnung mit Knut Elstermann es Gerda ermöglicht, in ihre alte Rolle zu schlüpfen und von Berlinerin zu Berliner zu sprechen. Was trennte die Berlinerin Gerda von der New Yorkerin?

Die jüdische Religion. Genauer die Religiosität des jüdischen Mainstreams in Amerika, in den Gerda 1947 eintauchte, um bald darauf mit einem Ehemann aufzutauchen, dessen polnische Herkunft konventionellerweise für ein konservatives Jüdischsein sorgte. Es ist nicht die nationalsozialistische Grenzerfahrung, die Gerda verstummen lässt, es ist die jüdische Grenzziehung, die vorehelichen Verkehr, uneheliche Kindschaft und obendrein Ehebruch (Gerdas Liebhaber war ein verheirateter Mann) als Sünde verdammt und im Buch Levitikus (3 Mose 20,10) als todeswürdiges Verbrechen zu ahnden fordert. Gerda weiß das und schweigt fortan, selbst Gerdas Sohn, legitimes Kind einer legalen Ehe und längst erwachsen, wird nie etwas von ihr erfahren.

Darin liegt die Tragik von Gerdas Schweigen. Sie schweigt, weil sie in New York Jüdin ist. Im nationalsozialistischen Berlin wurde sie ohne ihr Zutun und gegen ihren Willen zur Jüdin gestempelt und der Vernichtung preisgegeben. Im freien New York bekennt sie sich aus freien Stücken zu einem Judentum, das sie zwingt zu schweigen, will sie ihre neue Identität, die Zugehörigkeit zur Jewish community, ihr neues Leben in der neuen Welt und ihr neues Liebesglück nicht gefährden. Und dieser Befund führt geradewegs zu dem Thema nur für Erwachsene: Das Totalitäre ist eben nicht im 20. Jahrhundert vom Himmel gefallen, das Totalitäre wurzelt in den Religionen, seit sich die Unterscheidung zwischen wahrem Gott und falschen Göttern in ihnen eingenistet hat. (Der Ägyptologe Jan Assmann hat das mit dem Begriff der "Mosaischen Unterscheidung" beschrieben.) Das geschah vor rund 2700 Jahren, als der aggressive Imperialismus Assyriens den gesamten Nahen Osten einschließlich Ägyptens real und mental aus den Fugen brachte.

Der theologische Widerhall der auf Anmaßung beruhenden und auf Unterwerfung zielenden assyrischen Ideologie findet sich in den biblischen Texten dieser Epoche - mit fatalen Folgen bis heute. In New York musste Gerda nur schweigen, in Riad steinigen sie immer noch Frauen, die sie des Ehebruchs schuldig befinden. Die Definitionsmacht des wahren Glaubens läuft nur in zweiter Linie auf das Tyrannisieren der Ungläubigen und Falschgläubigen hinaus - zu allererst geht es um die Unterwerfung der eigenen Anhängerschaft. Der Glaube an den wahren Gott misst sich in der Befolgung seiner Gebote, die zwischen richtig und falsch unterscheiden. Nicht das Aufstellen von Regeln ist zu monieren, die brauchen Menschen, um verträglich miteinander auszukommen. Sobald sich jedoch Gebote der Offenbarung einer göttlicher Wahrheit verdanken, sich also menschlicher Verfügbarkeit entziehen, endet das Reich der Freiheit und die Welt der Willkür beginnt. Das ist die Geburtsstunde des totalitären Prinzips.

Seinen Nachhall findet es im zeitgenössischen Judentum und Christentum (hinsichtlich des zeitgenössischen Islam wäre eher von einem Nachknall zu sprechen). Der Nachhall ist am deutlichsten im Privaten zu hören und hier wiederum am lautesten bei allem Sexuellen. Der Tyrannei der Es-gibt-nur-einen-wahren-Gott-Ideologien, die die meisten Menschen als Religion missverstehen, hat sich auch Gerda 60 Jahre lang unterworfen. Bis sie in der Begegnung mit dem Berliner Knut wieder an ihre Berliner Freiheiten von 1945 bis 1947 anknüpfen und endlich auch in New York frei werden konnte. Es war großartig, dabei zuzusehen und zuzuhören, wie der schwere Stein von Gerdas Seele fiel, auch wenn ihr in dem Augenblick und wahrscheinlich bis heute nicht klar war, was da fiel. Was für eine Erleichterung für Gerda - und für mich als Zuschauer!
 

Montag, 12. Januar 2009

Bashir schlägt Baader


Für etliche meiner Kollegen in den Leitmedien war es eine riesen Überraschung, nicht für mich: Bei der Verleihung der Golden Globes hat der isrealische Film Waltz With Bashir heute Nacht den deutschen Film Baader Meinhof Komplex als bester ausländischer Film ausgestochen. Wer zu meinen Eintrag vom 21. November 2008 nach unten skrollt, kann nachlesen, warum Bashir ein über die Maßen gelungener Film und seine Preiswürdigkeit alles, nur keine Überraschung ist. Und gleich werde ich nachtragen, warum Baader von der Jury wie auch von mir keines Blickes gewürdigt worden ist. Filme, die ich für sehenswert halte, liste ich nämlich (zum sich anregen lassen mit einem Link zur jeweiligen Film-Website versehen) in der linken Randspalte unter Meine Kinotipps auf - und was sehen Sie da: keinen Baader Meinhof Komplex. Eben.

Bashir und Baader behandeln beide jüngste Vergangenheiten und beidemal geht es um die Abwehr einer totalitären Bedrohung von Recht und Freiheit, von zäh erkämpfter Demokratie und hart erarbeitetem Wohlstand, einmal in Israel, einmal in Deutschland. Und das ist auch schon das Ende der Gemeinsamkeiten. Der Vergleich beider Filme zeigt auf dramatische Weise den vollständigen Verlust der totalitären Distinktion in Deutschland, der Fähigkeit, die Anmaßung von Gruppierungen, die auf totale Unterwerfung der Gesellschaft aus sind, zu erkennen und zu benennen. Und das in einem Land, dessen Lebensgrundlage und Daseinsrechtfertigung die doppelte Verneinung totaler Herrschaft war: Wiederauferstanden aus den Ruinen der nationalsozialistischen Diktatur, wiedervereinigt durch den gewaltlosen Aufstand gegen die realsozialistischen Machthaber.

Waltz With Bashir erzählt aus der Sicht eines jungen Soldaten von der militärischen Operation der israelischen Armee im Jahr 1982 (Libanonfeldzug), um die Attacken der Araber auf Israel aus dem Libanon heraus durch einen Einmarsch in den Libanon und die Zerstörung der PLO-Basen im Südlibanon zu unterbinden. Es gelingt der Truppe unter Führung Ariel Scharons, die totalitären Kräfte durch die Einnahme Beiruts zu besiegen und und ihren Führer, Jassir Arafat, aus dem Libanon zu vertreiben. Am Ende des Films tritt eine zweite totalitäre Kraft auf den Plan, die libanesischen Milizen des Bashir Gemayel (er ist Bashir, der Namensgeber des Films), die unter den Augen des Icherzählers Ari (= Ari Folman, er ist auch der Regisseur des Films und auf der Abbildung oben rechts zu sehen © Pandora Film Verleih) die PLO-Flüchtlingslager angreifen und tausende arabischer Zivilisten ermorden, bevor die israelische Armee eingreift und dem Massaker ein Ende setzt. Waltz With Bashir verarbeitet das Trauma von Sabra und Schatila, so die Namen der beiden Flüchtlingslager am Stadtrand von Beirut.

Baader Meinhof Komplex erzählt aus der Perspektive einiger Hauptakteure der Roten Armee Fraktion (RAF) von deren Besuchen bei jenen Arabern, die sich in den 1970er Jahren rings um Israel in Trainingslagern auf die Zerstörung der israelischen Demokratie vorbereiten. Hier lernen die totalitären Kräfte der Neuen Linken, wie sie ihrerseits die deutsche Demokratie im bewaffneten Kampf wenn auch nicht beseitigen, so doch beschädigen können. Im Verlauf des Films tragen die von den Arabern zu Terroristen ausgebildeten Deutschen ihre Aktionen in die hiesigen Großstädte und ermorden zahllose ermittelnde Juristen, leitende Angestellte und etliche kleine Leute, Kollateralschäden halt. Bis alle tot sind, geht es zwischendurch ganz lustig zu, es waren halt Idealisten, die sich irgendwie verrant hatten, aber bei dem System halt irgendwie verständlich, das führt der Film zuletzt mit fiesen Richtern im Stammhein-Prozess vor Augen.

Verharmlosung des Terrors ist nicht die Absicht des deutschen Films. Im Ergebnis aber zeigt er vollkommene Blindheit gegenüber der totalitären Anmaßung der RAF, die nun gar nichts Lustiges hatte und keinerlei Beschönigung oder Beschwichtigung verdient. Dass die Jury in Hollywood dieser politischen Räuberpistole nach Art von Bonnie und Clyde die kalte Schulter gezeigt hat, finde ich außerordentlich ermutigend in einer Zeit, da Israel von den gleichen Arabern schon wieder angegriffen wird, die gestern der internationalen Solidarität verpflichtet unsere RAF aufgerüstet und Israel von Norden her attackiert hatten und heute der islamischen Internationale, der Umma, verpflichtet Israel von Süden her mit Raketendauerbeschuss zermürben und schließlich von der Landkarte tilgen wollen. Der israelische Film handelt von der Auseinandersetzung mit diesen totalitären Kräften, die zwischenzeitlich das Mäntelchen von rot auf grün gewechselt haben, und führt auf schmerzhafte Weise vor, warum die Feinde meiner Feinde (im Film also Bashirs Milizen) besser nicht meine Freunde sind (Do not Waltz with Bashir, lautet die Botschaft). Das tut weh zu sehen, ein Schmerz, der Baader völlig abgeht, und deshalb hat Bashir zu Recht gewonnen. Herzlichen Glückwunsch!
 

Samstag, 10. Januar 2009

Joseph, Jeff und Jackson



Was ist KUNST? Eine gute Bekannte und Kollegin schrieb mir zu Neujahr, sie würde sich in den folgenden ruhigeren Tagen die Beuys-Ausstellung im Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart (was für ein passender Name!) ansehen und an einer Führung teilnehmen, die den Teilnehmern die Kunst von Joseph Beuys nahebringen solle. Ich habe ihr zugeraten; denn ich kannte die Ausstellung (noch bis 25. Januar 2009) bereits von der Pressevorführung am 1. Oktober 2008. Daher stammt auch das Foto, allerdings ist es nicht von mir, sondern von einer lieben Freundin und Bloggerin. Ich habe es ihrem Beuys-Eintrag vom gleichen Tag entnommen.

Und, wie war es? fragte ich die gute Bekannte und Kollegin ein paar Tage nach der Führung in einer Email. Sie antwortete und schrieb:
"Joseph Beuys - schwere See ... Jeder ist ein Künstler (aber das wussten wir ja schon). Natürlich habe ich jetzt mehr verstanden, warum die Fettblöcke im Hamburger Bahnhof liegen, was sie bedeuten, allerdings empfinde ich seine Art Kunst auch im gewissen Maße arrogant, wenn sie sich nur durch Erläuterungen oder Hinweisschilder erklären lässt, da ist eben doch nicht jeder Mensch Künstler genug, sich all die Bedeutungen/künstlerischen Beweggründe herleiten zu können. Und ich habe sehr viele Leute beobachtet, wie sie sich achselzuckend oder lächelnd um diese Blöcke und durch die anderen Räume bewegt haben, ohne zu verstehen, was die Skulpturen bedeuten könnten.

Aber ich will's nicht lang ausdehnen, mir (und den anderen auch) hat die Führung viel über ihn geben können, was ich noch nicht detailliert kannte war die Kasseler Aktion zur Dokumenta mit seinen grob behauenen Steinen und Baumsetzlingen, die finde ich letztlich von all seinen Werken (die mir bekannt sind) am gelungensten. Den Begriff KUNST neu zu definieren ist ihm für die heutige Zeit vielleicht auch gelungen. Einen Hieronymus Bosch mit seinem Garten der Lüste würde ich jedoch niemals in Frage stellen. Oder eben tausend andere Künstler vor ihm. War alles in allem gut, müsste man sich eigentlich öfter mal gönnen."
Ich antwortete ihr und schrieb: "Freut mich, dass die Beuys-Führung erhellend war. Weil Sie ihm Hieronymus Bosch gegenüberstellen: Ich bin sicher, dass Sie nach einer vergleichbaren Bosch-Führung 200 % Erkenntniszuwachs hätten und aus den Aha-Erlebnissen gar nicht rauskämen - obwohl Sie zuvor sicher geglaubt hätten, bei Hieronymus liege alles anschaulich gemalt vor Ihren offenen Augen.

Was ich sagen will: Die Fähigkeit zu sehen ist keine natürliche, die sich mit dem Öffnen der Augen von allein einstellte. Alles, was wir sehen (und das ist sowieso schon wenig, weil wir nur einen schmalen Lichtwellenbereich zwischen 450 und 700 Nanometern Wellenlänge wahrnehmen können), wird ja erst durch die Verarbeitungsfähigkeit des Gehirns zu einem Bild. Diese Verarbeitungsfähigkeit geht so, dass das Gehirn von Kind an Informationen speichert und rasend schnell mit dem vergleicht, was die Sehnerven an Daten liefern.

Wir sehen ein Haus oder einen Baum, sobald wir Haus und Baum gespeichert haben. Millionen von Menschen sehen ein Leben lang ein Haus, wo Sie ein Bauhaus sehen (ein Fin-de-Siècle-Haus, ein Zuckerbäckerstilhaus, ein Jugendstilhaus usw.), oder einen Baum, wo Sie einen Ahorn, eine Linde, eine Platane sehen (einen Lorbeer oder eine Terebinthe würden Sie vielleicht schon nicht mehr sehen). So paradox es klingt: Wir sehen nur, was wir kennen = was wir kennengelernt und im Gerhirn als Information gespeichert haben.

Und wir speichern nur, was wir für wichtig halten (andernfalls könnten Sie gar nicht Auto fahren; denn alles Unwichtige lässt Ihr Gehirn beiseite, obwohl es da ist und von den Augen auch wahrgenommen wird). Kurz: Wir sehen nicht mit den Augen, wir sehen mit dem Gehirn. Dieses Sehorgan ist aber nichts Statisches, ein für allemal Programmiertes, es ist ein flexibles, lernfähiges Organ, das unendlich viel speichern kann, wenn wir es dazu auffordern. Solch eine Aufforderung haben Sie durch Ausstellungsbesuch und Führung Ihrem Gehirn erteilt, und es scheint diesen Befehl willig gefolgt zu sein.

Sie sehen nun mehr als vorher, weil Sie Ihr Gehirn gefüllt haben. Außerdem: Sehen ist immer Deuten, ein Interpretieren: in diesen Tagen steht Haus für warm, Baum für hart - ganz schlecht an schneeglatter Straße. So verknüpft das Gehirn Bild und Bedeutung zu einer komplexen Information, und je komplexer sie ist, desto mehr sehen Sie. Sehen lässt sich also lernen. Machen Sie mal die Gegenprobe: In der Neuen Nationalgalerie läuft noch bis 8. Februar 2009 die große Jeff Koons Retro. Jeff Koons ist das schiere Gegenteil von Beuys. Bei Koons ist jedes Exponat plastisch naturalistisch, figürlich realistisch, ja hyperreal wie bei Bosch - und nun, was sehen Sie? (Schauen Sie mal bei der erwähnten Freundin und Bloggerin den Koons-Eintrag vom 13. November 2008.)

Ein weiteres: Nicht alles, was wir sehen, mögen wir. Und wo kommt das Mögen her? Es mögen Leute ja Verschiedenes; was mir gefällt, stößt Sie vielleicht ab. Warum ist das so? Weil wir mit dem Deuten auch werten. Das Gehirn speichert Bild, Bedeutung und Bewertung in einem großen Datenpaket. Ist es groß genug, sehen wir: oh, Fettwürfel, ah, Beuys, ih, scheußlich (oder uh, so seh'n die also aus). Bild, Deutung, Wertung. Und das alles unter einer Sekunde. Lieschen Müller sieht gar nix: äh, was'n das für Dinger? Äh, wie bei den Sch'tis. (Was für eine Klamotte von Film.)

Das Datenpaket aus Bild, Bedeutung und Bewertung kann wachsen, und es kann sich ändern. Darum gefällt uns manches nicht mehr, was wir früher mochten, zum Beispiel Schlaghosen. Oder wir finden auf einmal gut, was uns lange kalt ließ, zum Beispiel Jackson Pollock. So ging es mir. Als ich in der Eingangshalle des Brooklyn Museums als einziges Bild ein einziges riesen Gemälde wahrnahm, sah ich: oh, Farbkleckse, ah Pollock, wow, wie schön. In dieser einen Sekunde sah ich, dass es wunderschön ist. Eine Wanddekoration, die den ganzen großen Raum füllte, nicht nur den Rahmen. Eine Dekoration in karger Eingangshallenumgebung, ein Farbarrangement zum Wohlfühlen und Heimischwerden: komm, tritt ein, siehst du unseren Pollock, du bist in New York, nun los, hier gibt es noch viel Schönes zu entdecken.

Ist das KUNST? Wenn sie mich begeistert, ja. Wenn nicht, ist sie sicher für andere da. Andere Leute, andere Wertungen. Wir müssen Kunst wie alles im Leben nicht als monoglott, sondern als polyglott denken - Kunst spricht nicht eine Sprache, Kunst spricht viele Sprachen. Kunst ist nicht Eines, das für alle verbindlich wäre (also kein Universum), sondern Kunst ist Vieles, bei dem sich die Geister scheiden (ein Pluriversum). Also anything goes? Bestimmt nicht. Auch ein offener, pluraler Kunstbegriff wird ein Innen und ein Außen haben und etliches ausscheiden, was er weder für kunstvoll noch für wertvoll hält. Was keiner mag und keiner kauft, ist wohl keine Kunst. Sondern ein Privatvergnügen. Das bleibt außen vor. Und kann dennoch allen Beteiligten großen Spaß machen."