Donnerstag, 18. August 2011

Götz Aly stellt richtige Fragen und gibt gute Antworten


Götz Aly am 18. August im Museum für Kommunikation.
Wenn 350 Leute zu einer Buchpremiere kommen, dann muss das wohl ein wichtiges Buch sein. Der schöne, große, überdachte Lichthof des alten Postmuseums, das seit elf Jahren Museum für Kommunikation heißt, ist pickepackevoll. So viele Menschen habe ich noch nie bei der Vorstellung einer Neuerscheinung gesehen. Sie sind gekommen, um etwas über das Buch Warum die Deutschen? Warum die Juden? zu hören, und zwar vom Verfasser selbst. Der Verfasser ist Götz Aly, und mit Hitlers Volksstaat hat er vor fünf Jahren schon die Fortsetzung des neuen Warum-Buchs vorgelegt.


Die verkehrte Reihenfolge verweist auf ein Problem, mit dem nicht nur Götz Aly ringt. Sobald einer gute Antworten geben kann, warum es der Nationalsozialismus so weit bringen konnte, wird er sich neue Fragen stellen, die noch näher, noch tiefer, noch bitterer an und durch diese schwer zu verstehende totalitäre Periode führen. So ist es Götz Aly ergangen, der nun mit dem Warum-Buch die Vorgeschichte des Volksstaats erzählt. Am Ende könnte eine Trilogie daraus werden, das ließ der Autor schon durchblicken. Buch drei wird die Europa-Dimension der Ermordung der europäischen Juden beleuchten: die prominent besetzten Nebenrollen – aber nach deutschem Drehbuch, unter deutscher Regie.


Warum die Deutschen? Warum die Juden? Warum ist eigentlich vorher niemand auf diese naheliegenden Fragen gekommen? Weil es Kinderfragen sind, über die sich Erwachsene erhaben dünken. Wegen dieses Dünkels stellen Erwachsene gern falsche Fragen und geben schlechte Antworten. Götz Aly stellt richtige Fragen und gibt gute Antworten. Die Fragen kennen Sie nun, was sind die Antworten? Der Untertitel des Warum-Buchs gibt die Richtung an: Gleichheit, Neid und Rassenhass. Da die Premierengäste im Kommunikationsmuseum das eben erschienene Buch noch nicht gelesen haben können, gibt Götz Aly eine Zusammenfassung seiner zentralen Antworten, die – in meinen Worten – so geht:
Moderator Stephan Speicher, Götz Aly, am Mikro Gregor Isenbort.

Vom Ende des Alten Tausendjährigen Reiches 1806 bis zum Beginn des Dritten Tausendjährigen Reiches 1933 findet in Deutschland eine Säkularisierung statt, die der christlichen Fesselung des Wissens, der Arbeitskraft, der Freizügigkeit und der Märkte ein Ende bereitet. In diesem Emanzipationsprozess erweisen sich die ländlich-trägen christlichen Deutschen den urban-agilen jüdischen Deutschen als hoffnungslos unterlegen. Die Juden nutzen die Chancen der neuen Marktwirtschaft, die Christen fürchten sich vor deren Risiken. Die Juden werden klug und reich, die Christen bleiben blöd und arm. (Im Nahen Osten sehen wir heute – zeitversetzt und mit anderen Darstellern – eine ähnliche Entwicklung.)


Die intellektuell und ökonomisch Zurückgebliebenen entwickeln Neid und Hass, und schon dreht sich die Spirale des Unheils. Die der Unterwerfung unter das ("echte") Tausendjährige Reich der Christen Entronnenen bewegen sich der Unterwerfung unter das neue Tausendjährige Reich der Nationalsozialisten zu, und sie tun dies umso schneller, je näher sie ihrem Neidobjekt kommen. Das ist die zweite zentrale Antwort von Götz Aly: Wenn Christen intellektuell und ökonomisch aufholen und den Aufstieg dahin schaffen, wo Juden schon sind, vermehrt die Erkenntnis des Vorsprungs den Neid: Judenhass wächst bei zunehmendem Christenerfolg. Die nationalsozialistische Avantgarde waren christliche Studenten, die erst die Allgemeinen Studentenausschüsse im Reich eroberten, dann die Bücher des jüdischen Establishments vor der Berliner Universität verbrannten.
Götz Aly signiert im Anschluss an die Buchpremiere.


Götz Aly findet im Publikum erstaunlich viel Zuspruch, das hätte ich gar nicht erwartet. Allerdings beschreibt er die Transformation vom christlichen in das nationalsozialistische Unheil auch nicht so unverblümt, wie ich sie hier wiedergebe. Er neigt sogar dazu, den nationalsozialistischen Judenhass nicht im Kontinuum mit dem christlichen sehen zu wollen – der einzige Punkt, bei dem ich ihm nicht folgen kann. Die totalitäre Matrix, die in beiden Ideologien zur Wirkung kommt, ist in ihrer Marktfeindlichkeit zentriert, und der Neid ist nur deren Derivat. Aber das ist wieder ein anderes Buch, und das muss Götz Aly nicht auch noch schreiben. Jetzt bin ich erst einmal neugierig auf das Warum-Buch, und dank der ausgezeichneten Moderation von Stephan Speicher von der Süddeutschen Zeitung gelang es Götz Aly, dem Publikum im Lichthof etliche Gründe zu nennen, das Buch tatsächlich zu lesen.
   

Hinweis: Wer die Buchpremiere verpasst hat und Götz Aly leibhaftig hören will, kann dies am 27. September 2011 um 19.30 Uhr auf einer Veranstaltung von Schleichers Buchhandlung nachholen. Ort der Lesung (Vortrag und Gespräch mit dem Autor) ist das Museum Dahlem, Lansstr. 8, 14195 Berlin. Der Eintritt kostet 12 EUR, ermäßigt 8 EUR. Vorbestellung von Karten könnte ratsam sein.