Mittwoch, 23. Dezember 2020

Dezember 2020: Das Verbrauchermagazin Guter Rat feiert 75. Geburtstag

Für mich ein Doppel-Jubiläum: Vor 30 Jahren, im Dezember 1990, wurde ich Chefredakteur dieser ältesten deutschen Zeitschrift.


Titelbilder aus 75 Jahren: Als erstes oben links der Antrag vom 21.11.1945 mit sowjetischem Genehmigungsstempel, die Zeitschrift Guter Rat für Haus und Kleid vierteljährlich in einer Auflage von 250.000 Exemplaren zu verlegen, daneben die Nummer 1 für 70 Pfennige. Rechts in der oberen Reihe eine Ausgabe von Guter Rat in den Händen von Henry Hübchen in der Rolle des Hotte Ehrenreich in dem Film Sonnenallee von 1999. Der Film spielt in den 1970er Jahren.
Untere Reihe: Später erschien das Blatt unter dem Namen Guter Rat für heute und morgen im Magazinformat, dann nur noch als guter Rat und schließlich in meinen Jahren als Chefredakteur 1990 bis 1998 mit Ausrufezeichen: Guter Rat!

Es war vor 30 Jahren, im Dezember 1990, da übernahm ich die Chefredaktion von Guter Rat, einem der damals zahlreichen DDR-Magazine, deren Verlag im Verlauf des Jahres 1990 im Zuge der Wiedervereinigung von einem Westverlag gekauft worden war. Guter Rat gehörte neben der Frauenzeitschrift Sibylle zum Portfolio des Leipziger Verlags für die Frau, den die Nürnberger Gong-Sebaldus Verlagsgruppe erworben hatte. Die Nürnberger kooperierten in der Zeit mit dem Münchener Burda Verlag, der mich von meiner Tätigkeit für sein Wirtschaftsmagazin Forbes freistellte, damit ich nach Berlin zurückkehren und die Leitung des Verbrauchermagazins Guter Rat übernehmen konnte.

Das war eine kluge Entscheidung; denn unter den vielen Westdeutschen, damals „Wessis“ genannt, die ein DDR-Magazin übernahmen, war ich – zwar durch meinen Job bei Burda bedingt auch aus Westdeutschland, nämlich München, kommend – der einzige gebürtige West-Berliner und, wie sich bald erweisen sollte, auch der einzige Westler mit Ostkompetenz. Nicht nur, weil ein Teil der Bieling-Familie in Ost-Berlin und Umgebung lebte und mir bei Besuchen die Sinnlosigkeit des Sozialismus ein aufs andere Mal vor Augen geführt hatte; auch in meiner Zeit beim West-Berliner Stadtmagazin Zitty in den 1980er-Jahren hatte ich vielerlei Kontakte nach drüben, darunter einige aus dem Kreis der Prenzlauer-Berg-Szene, die tief in die Seele der vom SED-Staat schikanierten DDR-Bürger blicken ließen.

Die Westdeutschen hingegen, damals bald „Besserwessis“ genannt, die als Chefredakteure nun einstige DDR-Blätter führten, hatten vom Osten keine Ahnung und fuhren ihre Monatsmagazine und Wochenzeitschriften alsbald an die Wand. So kam es, dass Guter Rat als einzige Zeitschrift von wirtschaftlicher Bedeutung die Wiedervereinigung überlebte, neue Leser und Anzeigenkunden hinzugewann und als Verbrauchermagazin alsbald das Wirtschaftsmedium mit der größten Reichweite in Deutschland wurde. Daraufhin war der Verlag im Jahr 1997 bereit, Guter Rat auch in den Alten Bundesländern einzuführen. So kam es, dass es Guter Rat als einzige Zeitschrift von wirtschaftlicher Bedeutung schaffte, ein gesamtdeutsches Magazin zu werden – und es zu bleiben.


Drei der Redakteure, die ich in den Jahren 1990 bis 1998 für Guter Rat gewonnen hatte, arbeiten 2020 noch für das Blatt, zwei von Ihnen sehen Sie rechts im Bild: Bernd Adam (oben) und Gunnar Döbberthin.

Auch 30 Jahre nach dem Beginn meines Wirkens für Guter Rat existiert die Zeitschrift noch, gehört seit 2002 zum Burda Verlag, der mich einst als Chefredakteur entsandt hatte, und beschäftig noch drei der Redakteure, die ich in den Jahren 1990 bis 1998 für das Blatt gewonnen hatte. Heute hat Guter Rat eine verkaufte Auflage von immer noch fast 100.000 Exemplaren (laut IVW-Meldung fürs 3. Quartal 2020) und feiert mit der aktuellen Ausgabe vom Dezember 2020 seinen 75. Geburtstag. Guter Rat ist nämlich nicht nur das einzige überlebende DDR-Magazin von wirtschaftlicher Bedeutung (es gibt Nischenprodukte wie Das Magazin, das die DDR ebenfalls überlebt hat), es ist das älteste heute noch existierende Magazin Deutschlands überhaupt.

Das Logo zum Jubiläum 75 Jahre Guter Rat im Dezember 2020.


Unter dem anfänglichen Namen Guter Rat für Haus und Kleid, später Guter Rat für heute und morgen erschien die von der sowjetischen Besatzungsmacht lizensierte Publikation erstmals im November 1945 im Leipziger Verlag Otto Beyer, dem bereits im Sommer 1946 verstaatlichten und sogleich umbenannten späteren Verlag für die Frau. Die Ausgabe 12/2020 würdigt dann auch im Dezember 2020 den 75. Geburtstag von Guter Rat mit einem Artikel, in dem einer meiner Nachfolger über die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung, die frühen 1990er-Jahre, schreibt:

„Guter Rat ist in diesen Jahren etwas Einzigartiges gelungen. Ein Magazin, an das niemand mehr so recht glauben wollte, ist zu einem Vorreiter des anspruchsvollen Verbraucherjournalismus geworden. Guter Rat hat die Fragen der Zeit aufgegriffen, und es gab viele. Denn das Leben ist sehr komplex geworden. Nicht nur, wenn es um die Orientierung im Konsumdschungel geht. Die wachsende Eigenverantwortung stellt die Menschen vor existenzielle Fragen (...) Mit der Wende wurde Guter Rat das meistverkaufte Wirtschaftsmagazin Deutschlands.“ (Seite 37)

Dieses Kompliment nehme ich auch persönlich – es gilt dem damals einzigen Westler mit Ostkompetenz und einer Ostredaktion mit Westehrgeiz: Die anfangs überwiegend älteren Kolleginnen wollten es noch einmal wissen und waren ohne zu zögern bereit, gleich Anfang 1991 von ihren mechanischen Schreibmaschinen aus DDR-Zeiten auf den Apple Macintosh umzusteigen und die nach Forbes von Burda, wo ich 1989 den Mac kennen- und schätzen gelernt hatte, zweite rein digital erstellte Zeitschrift in Deutschland zu machen. Ein riesen Kompliment auch an die neu hinzugekommene Grafik, die mit Begeisterung das Layoutprogramm QuarkXPress für Apple Macintosh erlernte und Guter Rat schon im Frühjahr 1991 komplett digital umbrach. Ein halbes Jahr nach der Wiedervereinigung war Deutschlands ältestes Magazin sein mondernstes!


Auf den Seiten 34 und 35 präsentiert die Ausgabe 12 vom Dezember 2020 eine Doppelseite „Guter Rat in Zahlen und Fakten“ wie diesen: „Guter Rat-Leser sind treu: 52 Prozent aller Abonnenten beziehen Guter Rat bereits seit 10 Jahren oder länger“ und „730 000 Menschen lesen durchschnittlich eine Ausgabe“. Der obige Ausschnitt der Doppelseite zeigt weitere Zahlen und Fakten.


Mit Stolz und Wehmut erinnere ich mich an ein Ost-West-Team, das den Ball von 1990 so routiniert aufnahm, alle Chancen der Wiedervereinigung nutzte und gleich zwei einzigartige Tore schoss: als einzige Zeitschrift von wirtschaftlicher Bedeutung die Wiedervereinigung zu überleben und als einzige Zeitschrift von wirtschaftlicher Bedeutung ein gesamtdeutsches Magazin zu werden. Und es war dieses fabelhafte Ost-West-Team, das die beiden Tore schoss:
> die schon lange vor meiner Zeit bei Guter Rat tätigen Redakteurinnen Charlotte Schröder, Annelies Tuchtenhagen, Georgia Förster und Ingrid Krüger, die Bildredakteurin Helga Herzog und die beiden Sekretärinnen Renate Zibell und Regina Drescher – seit Sommer 1990 bereits angeleitet von der Burda-Gesandten Elisabeth Bär;
> die neu hinzugekommenen Grafikerinnen Anke Baltzer und Niccola Wenske, die Grafiker Erhard Bellot, Peter Hoffmann und der vor einem Jahr am 27. Dezember 2019 verstorbene Gerhard Schmidt – sie ersetzten nach und nach ihren Kollegen Siegmar Förster, der als freiberuflicher Designer bis 1989 jahrelang das Erscheinungsbild der Zeitschrift geprägt und noch den neuen Titelschriftzug Guter Rat! (mit Ausrufezeichen) gestaltet hatte;
> die nach 1990 hinzugestoßenen Redakteurinnen Heike Gerbig, Kerstin Backofen, Alrun Jappe, Ilona Hermann, Sophie Neuberg, Sonja Kastilan, Henrike Hoffmann (als Schülerpraktikantin) und die Korrektorin Erika Kähler, die Redakteure Werner Sündram, Pierre Boom und Bernd Adam, später noch Karl-Heinz Twele, Rolf Fischer, Martin Braun, Thilo Ries und Gunnar Döbberthin. Die beiden Letztgenannten sowie Bernd Adam und die Grafikerin Niccola Wenske arbeiten noch heute, Stand Dezember 2020, bei Guter Rat.

Guter Rat Nummer 12 vom Dezember 2020: Die Jubiläumsausgabe widmet die Seiten 34 bis 37 dem 75. Geburtstag. Alle obigen Abbildungen sind diesen Seiten entnommen.

Und hier geht es zur heutigen Website von Guter Rat.

Nachtrag vom 15. Januar 2021: Ich danke allen, die zu diesem Doppeljubiläum gratuliert und mir Anregungen und Ergänzungen, die inzwischen in den obigen Text eingeflossen sind, mitgeteilt haben, namentlich Bernd Adam, Heike Gerbig, Werner Sündram, Sophie Neuberg und Erhard Bellot; außerdem Siegmar Förster (siehe Nachtrag vom 18. Januar 2021).
Beim Stöbern in der Vergangenheit bin ich noch auf einen Artikel von mir aus dem Jahr 2009 gestoßen, in dem Guter Rat den Dreh- und Angelpunkt einer Betrachtung deutscher Zustände bildet. Die Tageszeitung Die Welt veröffentlichte den Text am 2. Oktober 2009 zum Tag der Deutschen Einheit. In deren Webarchiv ist der Meinungsbeitrag unter seiner Originalüberschrift Die DDR lebt virtuell weiter online verfügbar. Lesedauer: 8 Minuten.

Nachtrag vom 18. Januar 2021. Siegmar Förster ergänzt die Geschichte von Guter Rat in einer Email vom 16. Januar 2021 mit der Schilderung dieser Begebenheit zu Endzeiten der DDR:

Was Sie vielleicht nicht wussten: In der Endphase der DDR, als die Ressourcen immer knapper wurden, gab es im Verlag für die Frau die Überlegung, die Magazine Sibylle, Saison und Guter Rat zu einem Magazin mit dem Titel »Marlene« (wg. Modeikone Dietrich) zusammenzufassen. Ich war dazu im Verlag in Leipzig, um mit einem Stapel Vogue, Elle und anderen Heften (zum Ausschlachten) bepackt, nach Berlin zurückzufahren und daraus ein Dummy (damals noch mit Pappe und Gummilösung) zu basteln. Aus meinem Entwurf wurde dann (leider! – Gottseidank!) nichts, weil der Mauerfall dazwischenkam.“

Alle Abbildungen © Guter Rat

Donnerstag, 10. Dezember 2020

Am Tag der Menschenrechte haben viele Menschen keinen Grund zu feiern

In etlichen Ländern der Welt verweigern Politiker ihren Bürgen die elementarsten Rechte und Freiheiten. Gedanken zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember.

Vorbemerkung Der folgende Beitrag erschien in einer für den Druck gekürzten Fassung zuerst am Sonntag, dem 9. Dezember 2018, aus Anlass des 70. Jahrestags des Tag der Menschenrechte im Hauptstadtbrief am Sonntag in der Berliner Morgenpost. Die folgende Extended Version ist um Passagen und Fotos erweitert, für die 2018 in der räumlich begrenzten Druckausgabe kein Platz war. Sie erscheint hier erstmals zum 72. Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 2020.



Tony Sender – eine deutsche Sozialdemokratin im amerikanischen Exil, deren Stimme in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung vom 10. Dezember 1948 anklingt. Diese in Vergessenheit geratene einzige deutsche Beteiligte an der Menschenrechtserklärung nahm seit 1947 gemeinsam mit Eleanor Roosevelt an den Sitzungen der UN-Menschenrechtskommission in Genf teil, die den Entwurf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte für die Vollversammlung in Paris vorbereitete.

Für Bürger in Deutschland und den anderen Ländern der Europäischen Union ist es längst eine Selbstverständlichkeit: Sie genießen ausgeprägte Rechte und Freiheiten, die gesetzlich garantiert und juristisch einklagbar sind. Sie genießen diese Freiheiten und Rechte als Einzelne, nur sie verfügen über sich selbst und jedes weitere Eigentum, das sie mit ihrem Denken und Handeln schaffen. Dieses Bild vom Menschen ist der Ausgangspunkt einer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die eine Vollversammlung der damals noch sehr kleinen Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 in Paris beschloss.

Die Bundesrepublik Deutschland gab es damals noch gar nicht, und es war auch keine deutsche Delegation in Paris. Nachdem deutsche Politiker die Alte Welt in Schutt und Asche gelegt und Millionen Europäer durch Angriffskrieg und Staatsmord umgebracht hatten, war das Bedürfnis der Siegermächte, sich mit deutschen Vertretern über Menschenrechte zu verständigen, nicht gegeben. Ganz im Gegenteil hatten die Alliierten nach dem 8. Mai 1945 in den Nürnberger Prozessen Regierungsmitglieder und hohe Staatsbeamte verurteilt und gehenkt, damit sie und Ihresgleichen nie wieder Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschheit begehen. Die Allgemeine Menschenrechtserklärung sollte staatlichen Verbrechen künftig einen Riegel vorschieben. Dass die alliierte Formel des Nie-Wieder von späteren deutschen Politiken in die Leerformel Nie wieder Krieg umgedeutet wurde, die vieles brachte, nur keinen Frieden, war damals nicht absehbar noch war vorhersehbar, wie ungeniert Nie wieder und Krieg in Europa zusammenpassen, erst auf dem Balkan in den 1990er-Jahren, in der Ukraine heute vor jedermanns Augen.

Das heutige Russland, der Aggressor im Ukraine-Konflikt, war 1945 in seiner damaligen Gestalt der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken einer der Sieger über das Deutsche Reich und gehörte zu den Gründern der Vereinten Nationen. Dieser Umstand warf von Anfang an einen Schatten auf die Fixierung der Menschenrechte. Die Sowjetunion hatte nicht das geringste Interesse an Menschenrechten, veranlasste ihre Regierung doch gerade eine ethnische Säuberung, die Millionen polnische und deutsche Bürger aus den Ostgebieten ihrer jeweiligen Vorkriegsstaaten vertrieb. Im eigenen Land deportierte die Sowjetregierung zur gleichen Zeit Millionen Bürger in die Arbeitslager des Archipel Gulag – der politischen Führung um Stalin galten Menschenrechte als bürgerlich und verachtenswert.

Mit Engelszungen und dem Angebot der Verankerung sozialer Anliegen in der Menschenrechtscharta versuchte in der US-amerikanischen Delegation vor allen Eleanor Roosevelt, die sowjetischen Verhandlungsführer zu einer Zustimmung zu bewegen. Dabei kam ihr die Expertise einer deutschen Sozialdemokratin zugute, die ihr als Exilantin zur Seite stand: Tony Sender (Foto oben). Die einstige SPD-Reichstagsabgeordnete hatte sich 1933 rechtzeitig aus Deutschland in die USA absetzen können und war nach dem Krieg als Gewerkschafterin für den Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen tätig. Seit 1947 nahm sie gemeinsam mit Eleanor Roosevelt, als Ehefrau von Franklin D. Roosevelt bis 1945 First Lady der USA, an den Sitzungen der UN-Menschenrechtskommission in Genf teil, die den Entwurf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte für die Vollversammlung in Paris vorbereitete. Auf diese in Vergessenheit geratene einzige deutsche Beteiligte an der Erklärung der Menschenrechte machte am 29. November 2018 Katharina Klasen in einem Vortrag zum Thema Menschenrechtsbezüge im Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand aufmerksam, deren Wissenschaftliche Mitarbeiterin sie ist.

Am Ende war es wohl ein früherer amerikanischer Staatsbürger, der den Sinneswandel der Sowjetdelegation bewirkte: Garry Davis (Foto unten). Der Bomberpilot der US Air Force gab nach dem Erschrecken über sein Tun im Krieg die US-Staatsbürgerschaft 1948 auf, gründete die Weltbürgerbewegung und siedelte im Spätsommer 1948 als erster Citizen of the World auf das Pariser Sitzungsgelände der UN-Vollversammlung über, das kurzzeitig als internationales Hoheitsgebiet galt. Die spektakuläre Aktion erzeugte ein weltweites Medienecho, am 19. November 1948 sprach er unaufgefordert zu den Delegierten.

Der am 17. November 2018 im Rahmen der Säkularen Woche der Menschenrechte von der Giordano Bruno Stiftung erstmals in Berlin als Europa-Premiere gezeigte Dokumentarfilm The World is My Country – The Garry Davis Story (das Foto zeigt ein Standbild aus dem Film von Arthur Kanegis) legt den Schluss nahe, dass es die von dem Kosmopoliten inspirierte spontane Friedensbewegung war, die überall in der westlichen Welt und sogar in West-Berlin Hunderttausende mobilisierte, derentwegen die sowjetische Delegation ihr Nein zur Menschenrechtserklärung aufgab: Am 10. Dezember 1948 verzichtete sie auf ihr Vetorecht und enthielt sich der Stimme.



Garry Davis – der Bomberpilot der US Air Force gab nach dem Erschrecken über sein Tun im Krieg die US-Staatsbürgerschaft 1948 auf, gründete die Weltbürgerbewegung und siedelte im Spätsommer 1948 als erster Citizen of the World auf das Pariser Sitzungsgelände der UN-Vollversammlung über, das kurzzeitig als internationales Hoheitsgebiet galt. Die spektakuläre Aktion erzeugte ein weltweites Medienecho, am 19. November 1948 sprach er unaufgefordert zu den Delegierten. Es war wohl die von dem Kosmopoliten inspirierte spontane Friedensbewegung, die überall in der westlichen Welt Hunderttausende mobilisierte, derentwegen die sowjetische Delegation auf ein Veto gegen die Menschenrechtserklärung verzichtete.

Sehr schwer ist der sowjetischen Delegation die Enthaltung nicht gefallen: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist kein verbindlicher Vertrag, sie ist nicht justiziabel und nicht einklagbar. Sie lässt sich leicht mit Füßen treten. Und genau das taten die sowjetischen Politiker gleich anderntags wieder, wie sie es an jedem Vortag getan hatten. Und die damaligen russischen Vasallenstaaten taten es dem Großen Bruder gleich: die Ukraine, Weißrussland, Polen, die ČSSR und Jugoslawien enthielten sich ebenfalls der Stimme und ebenso wenig der Verletzung der Menschenrechte. Die Deutsche Demokratische Republik gab es im Dezember 1948 noch nicht; aber auch ihre Politiker scherten sich später nicht um Menschenrechte, zuletzt am 6. Februar 1989 ließen sie einen Flüchtling an der Grenze ihres Staates erschießen, den 20-jährigen DDR-Bürger Chris Gueffroy. Noch einmal verletzte ein Staatsmord den Artikel 13 Absatz 2 der Menschenrechtscharta: „Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“

Zu den 8 Enthaltungen (es gab 48 Ja-Stimmen, 0 Gegenstimmen, mehr Vereinte Nationen gab es damals noch nicht) zählte neben den 6 sozialistischen Ländern die Republik Südafrika. Seit den Parlamentswahlen vom Mai 1948 ganz frisch auf dem Weg zur Errichtung der Apartheid, wollte sich die neue Regierung nicht zu Menschenrechten bekennen, die gleich im Artikel 2 die Rassentrennung ausschlossen: „Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.“ Dass heute nach Abschaffung der Apartheid vor allem jene Weißen in den größten Genuss der Allgemeinen Menschenrechte in Südafrika gelangen, die sie mit ihrer Studiosus-Reisegruppe von Zuhause mitbringen, ist kein Ruhmesblatt für die Nachfolger von Nelson Mandelas ANC.

Wirklich symptomatisch für das Mit-den-Füßen-Treten der Menschenrechte ist allerdings die Nummer acht der Länder, die sich am 10. Dezember 1948 der Stimme enthielten: Saudi-Arabien. Die dort regierenden Politiker unterschieden sich schon damals von allen anderen auf der Welt: Sie waren nicht nur im Besitz des Staates, der Staatsmacht – der Staat war ihr Eigentum und ist es bis heute. Dass die Eigentümer auch die Bürger ihres Landes als ihr Eigentum ansehen, das sie nach Belieben zerteilen und in Luft auflösen lassen können, mag Staatsgläubige überraschen, passt aber ins Bild, das eine Welt abgibt, deren Führungsmacht die Herren der Kaaba mit aller Gewalt sein wollen.

Von Mauretanien am Atlantischen Ozean, die afrikanische Küste am Mittelmeer über Kairo bis Istanbul entlang, in Asien von Damaskus über Bagdad, Teheran, Kabul, Karatschi und über den Indischen Ozean hinaus bis nach Jakarta zieht sich ein grüner Gürtel von Ländern, den Geschichtsatlanten als islamisch ausweisen und die auf Menschenrechtskarten fehlen. Die saudi-arabische Enthaltung von 1948 gilt bis heute für fast alle diese Länder, ernstgemeinte Einträge in die Menschenrechtskarte lassen sich neuerdings im Westen Nordafrikas erkennen. Auch die muslimische Migration in die Länder der Europäischen Union bringt erste Stimmen zum Erklingen, die sich der Kairoer Erklärung von 1990 widersetzen, dem islamischen Gegenstück zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, das die Scharia, das Gottesgesetz, über die Menschenrechte stellt. Die Deutsche Islam Konferenz sieht seit November 2018 gerade darin ein Thema.

Das Thema ist, dass mitten in Deutschland eine unbekannt große Zahl von Bürgern und vor allem Bürgerinnen lebt, die nicht in den Genuss der Menschenrechte kommen, weil in ihrer Gegenwelt Grundgesetz und gleiche Rechte und Freiheiten für Mann und Frau nicht gelten. Vielleicht sollte sich die Deutsche Islam Konferenz bei der Gelegenheit auch gleich um Deutschlands Universitäten kümmern. Dort macht sich in Gender- und anderen postmodernen Studien ein neuer Ungeist breit, der Menschenrechte für ein neokoloniales Konstrukt des weißen Mannes hält, einen Rassismus, der sich über die Vielfalt der Kulturen erhebt und die Anerkennung der islamischen Kultur verweigert. Das nennen Professor*innen der Berliner Universität, deren rein männliche Vorgänger Bücher auf dem Bebelplatz verbrennen ließen, der 1933 Opernplatz hieß, Islamophobie.

Auf den neuen universitären Ungeist machten bei der Vorstellung ihres Buches Freiheit ist keine Metapher, erschienen im Berliner Querverlag, der Herausgeber und drei der Autorinnen bei ihrer Präsentation des Sammelbandes am 16. November 2018 im Buchladen Eisenherz in Berlin-Schöneberg aufmerksam. (Bericht von der Buchvorstellung weiter unten im Blog oder hier direkt zu finden.) Der universitäre Angriff auf die Menschenrechte, das wurde deutlich, kommt aus dem Inneren eines freien Landes und richtet sich gegen die universelle Gültigkeit der Rechte jedes Einzelnen als Mensch und Bürger, die schon der Titel der Erklärung von 1948 betont: The Universal Declaration of Human Rights.

Der kurze Streifzug durch 72 Jahre Menschenrechtsgeschichte zeigt: Am Tag der Menschenrechte haben, selbst in Deutschland, viele Menschen keinen Grund zu feiern. Dabei war von China noch gar nicht die Rede. In etlichen Ländern der Welt verweigern Politiker ihren Bürgen die elementarsten Rechte und Freiheiten – welch ein Glück, alle Rechte und Freiheiten zu haben. Doch es sind die Bürger, die ihres Glückes Schmied sind. Vom Himmel fällt kein Menschenrecht.

Foto Tony Sender: Wikipedia © Historisches Museum Frankfurt CC BY-SA 4.0
Foto Garry Davis: Szenenbild aus dem Film „The World is My Country – The Garry Davis Story“ © Arthur Kanegis

Montag, 16. November 2020

Vorstellung des Buches „Freiheit ist keine Metapher“ im Buchladen Eisenherz

Eine Ermunterung in Buchform, die so mühsam errungenen Freiheiten und Rechte jedes Einzelnen gegen die neue Anfechtung des Nie-Wieder von 1945 und 1989 zu verteidigen.

Vorbemerkung Der folgende Beitrag erschien zuerst am Sonnabend, dem 17. November 2018, auf Facebook und berichtete von einer Buchvorstellung am Vortag, dem 16. November 2018. Damals machten die Berliner Freiheiten Pause.
Die unveränderte Zweitveröffentlichung erscheint hier am heutigen 16. November 2020 aus Anlass der Erinnerung an den Geburtstag meiner Mutter Anne-Marie Bieling am 16. November 1923. Sie hat sich zu Lebzeiten für die Freiheiten und Rechte eingesetzt, für deren Verteidigung „Freiheit ist keine Metapher“ heute wirbt.



Buchvorstellung „Freiheit ist keine Metapher“ im Buchladen Eisenherz am 16. November 2018. Auf dem Bild von links nach rechts: die Autorinnen Judith Sevinç Basad, Zeinab Shaker, Hannah Kassimi und Herausgeber Vojin Saša Vukadinović. Die 4 stellten gemeinsam ein Buch aus dem Berliner Querverlag vor, zu dem insgesamt 40 Autorinnen und Autoren Beiträge beigesteuert haben. 

Ist es 35 Jahre her, dass ich im Prinz Eisenherz Buchladen war? Damals noch Berlins erste schwule Buchhandlung, 1978 gegründet als ein typisches Kollektiv der Alternativbewegung wie auch unsere Zitty, in der Eisenherz ein früher Anzeigenkunde war, ist daraus mittlerweile der schwul-lesbische Buchladen Eisenherz geworden, ohne Prinz im Namen, aber noch mit Prinzen im Laden, dazu nun auch Prinzessinnen, gemeinsam residierend in der Schöneberger Motzstraße, wo sonst.

Das Foto zeigt im Hintergrund das Prinz-Eisenherz-Jahr 2004 als Teil des 40-Jahre-Jubiläumsarchivs, im Vordergrund die Protagonisten der Buchvorstellung vom 16. November 2018, die mich in den Buchladen Eisenherz gezogen hatte. Es ging um die Vorstellung des Sammelbandes Freiheit ist keine Metapher aus dem Querverlag. Auf dem Bild von links nach rechts: die Autorinnen Judith Sevinç Basad, Zeinab Shaker, Hannah Kassimi und Herausgeber Vojin Saša Vukadinović. Die 4 stellten gemeinsam ein Buch vor, zu dem insgesamt 40 Autorinnen und Autoren Beiträge beigesteuert haben.

Und, war war’s? Es war großartig. Und rappelvoll im Eisenherz.

Vor allem die Einlassungen von Zeinab Shaker haben mich konsterniert. Was sie, die heute als Bibliothekarin arbeitet, vom eben abgeschlossenem Studium an der Humboldt-Universität berichtete, waren Einblicke in – meine Worte – einen neototalitären Alptraum mit ideologischer Zurichtung, Sprachverboten, Denkreglementierung, studentischem Mitläufertum, unfassbar – eine gegenderte DDR light (light, weil man ja mit einem Schritt wieder in der Freiheit Unter den Linden wäre) oder, umgekehrt, ein Kaiser-Wilhelm-Institut für Rassenhygiene als antirassistische Farce. (Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, wie es korrekt heißt, wurde 1927 gegründet und befand sich bis 1945 in Dahlem, wo heute die Freie Universität ihren Ort hat. Vor der Gender- hat es auch vor 1933 bereits Pseudowissenschaft an deutschen Universitäten gegeben, nur eben mit umgekehrtem Vorzeichen.)

Alle vier haben Antirassismus, Kulturrelativismus, Antizionismus, Postmodernismus, Antiimperialismus, Queerfeminismus, Antifaschismus, Islamismus, Dekonstruktivismus, Genderfeminismus und Critical Whiteness mit einer intellektuellen Schärfe des Gedankens und einem so kraftvollen Widerstandswillen zurückgewiesen, dass ich neuen Mut schöpfe. Mit solchen wehrhaften Geistern könnte es gelingen, den Marsch der Neototalitären durch die Institutionen zu stoppen. 

Kauft dieses Buch. Freiheit ist keine Metapher ist bereits der 5. Band der „Kreischreihe“ aus dem lesbisch-schwulen Berliner Querverlag, kostet nur 20 Euro und ist eine Investition in die Stärkung der Argumentationskraft, die jedem hilft, sich mit der neuen Querfront von Antifaschist*innen und Islamist*innen auseinanderzusetzen, um die so mühsam errungenen Freiheiten und Rechte jedes Einzelnen gegen diese neue Anfechtung des Nie-Wieder von 1945 und 1989 zu verteidigen.

***

Nachbemerkung vom 16. November 2020: In der „Kreischreihe“ des Querverlags sind mittlerweile 9 Bände erschienen, zuletzt der Band Zugzwänge. Flucht und Verlangen, wieder herausgegeben von Vojin Saša Vukadinović, mit Beiträgen von 26 Autorinnen und Autoren sowie der Initiative Ehrlos statt Wehrlos.

Hinweis, nachgetragen am 10. Dezember 2020: Auf den Sammelband Freiheit ist keine Metapher gehe ich auch in einem Beitrag ein, den ich heute erstmals in einer erweiterten Fassung veröffentlicht habe: Am Tag der Menschenrechte haben viele Menschen keinen Grund zu feiern.

Foto © Dr. Rainer Bieling

Freitag, 23. Oktober 2020

„Wie der Markt Umwelt und Ressourcen schützt”

Ludwig von Mises Institut Deutschland Konferenz 2020. Der Tagungsbericht vom 10. Oktober 2020.

Vorbemerkung Der folgende Beitrag erschien zuerst am Montag, dem 19. Oktober 2020, auf der Website des Ludwig von Mises Instituts Deutschland e.V. Darin berichte ich von der Jahreskonferenz 2020 des Ludwig von Mises Instituts am 10. Oktober 2020 in München.


 
Begrüßung der Konferenzteilnehmer durch den Präsidenten des Ludwig von Mises Instituts Deutschland Thorsten Polleit.


Samstag, 10. Oktober 2020. München,
Hotel Bayerischer Hof, 10.30 Uhr. Professor Dr. Thorsten Polleit als Präsident des Ludwig von Mises Instituts Deutschland begrüßt die Teilnehmer der Mises Konferenz 2020 mit einer naheliegenden Anspielung und spricht vom Sozialismus-Virus als der politischen Ansteckungsgefahr in Deutschland. Diese mentale Infektion „in geistiger Auseinandersetzung“ niederzuringen sei das Gebot der Stunde, über deren Folgen aufzuklären eine Aufgabe, der sich die Konferenz in Hinblick auf Klima und Umwelt widmen werde mit dem Ziel: „Mut tanken, Zuversicht schöpfen“, dass Widerrede wirken werde und gute Argumente offene Ohren fänden.

Hier knüpft Andreas Marquart als Vorstand des Ludwig von Mises Instituts Deutschland in seiner Einführung in das Konferenzthema an und plädiert dafür, sich nicht einschüchtern zu lassen von einer Politik, die den Bürgern bis ins letzte Detail vorschreiben will, wie sie klimaneutral und umweltgerecht zu leben hätten. Es stehe viel auf dem Spiel; denn die „Instrumentalisierung des Corona-Schocks“ durch die Regierenden nutzte nur ihnen bei der Ausweitung ihrer Eingriffsmöglichkeiten und schade den Bürgern bei der Ausübung ihrer Freiheiten und Rechte und schmälere ihren Wohlstand. „Die Alarmglocken sollten klingeln – unsere nämlich“, und genau deshalb finde die Ludwig von Mises Konferenz 2020 trotz aller Widrigkeiten statt und werde die mentalen Widerstandskräfte stärken.


Vortrag 1 Als erster Referent hält Dr. Andreas Tiedtke sein Referat Umwelt- und Katastrophen-Meme im Dienste des Interventionismus – eine praxeologische Betrachtung. Tiedtke ist Rechtsanwalt und Unternehmer im Bereich der Immobilien-Projektberatung, Autor auf misesde und eines für 2021 angekündigten Buchs Der Kompass zum lebendigen Leben. Und was sind Meme? Meme sind Bewusstseinsinhalte, Informationsbausteine wie Gene, nur dass diese körperlicher und Meme geistiger Natur sind.


Vortrag 1 Andreas Tiedtke: Er macht auf die Kollusion von Aktivisten und Akademikern aufmerksam, ihr gemeinsames Vorgehen zum Schaden eines Dritten, der Bürger dieses Landes, um Interventionen des Staates zum Nutzen seiner Begünstigten zu rechtfertigen.

Den Begriff Mem hat zuerst der britische Biologe Richard Dawkins 1976 in seinem Buch Das egoistische Gen verwendet, seitdem hat er einige Wandlungen durchlaufen und ist heute im Mediensprachgebrauch eben jener Typus von Informationsbaustein, der meist als Bild-Text-Kombination rasend schnell durch das Internet geistert, sich dabei wie ein Virus vermehrt, bis er an der Oberfläche des Fernsehbildschirms auftaucht und jedermann ansteckt. Ein solches Mem war das Kurzvideo aus Bergamo, in dem Armeelastwagen nächtens Corona-Leichname abtransportierten. Schlagartig war ganz Italien in Lebensgefahr. Doch nie gab es ein vergleichbares Bild aus irgendeiner anderen italienischen Stadt.

Hier setzt Andreas Tiedtke ein: Katastrophen-Meme sind Bewusstseinsinhalte zum Beeinflussen der Bürger, oft nur kleinste, zufällige, solitäre Informationsbausteine, die wie ein Genom verkettet ihre Wirkung entfalten und staatliche Interventionen wie von selbst rechtfertigen. Da Intervention mit Zwang einhergeht, ist sie eine feindliche Handlung. Sobald aber Umwelt- oder Katastrophen-Meme als Auslöser staatlichen Handelns fungieren, wird dieses von den Bürgern nicht als Angriff auf ihre Freiheiten und Rechte gesehen, sondern als Maßnahme zu ihrem Besten akzeptiert.

Als besonders wirksam erweisen sich hierbei solche Meme, die künftige Katastrophen mittels evidenter, unmittelbar einleuchtender Informationsbausteine vorwegnehmen: ein reales Schreckensfeuer in Kalifornien, ein real kollabierendes Spital in Brooklyn – und schon wird memisch klar, was der ganzen Menschheit oder gar dem Planeten blüht. Andreas Tiedtke nennt diese Art der Meme in Anlehnung an Science-Fiction-Autor Philip K. Dick „Pre-Crimes“, die Vorwegnahme von Verbrechen, die noch nicht geschehen sind, aber geschehen werden, wenn nicht jetzt und sofort dem Kapitalismus und der Globalisierung, sie sind die Täter, von Staats wegen das Handwerk gelegt wird. Da Pre-Crimes nicht evidenzbasiert sind, ist für die Bürger kein Widerspruch möglich, und wer doch widerspricht, kann nur Klimaleugner oder Covidiot sein.

Hier nun kommt die Kollusion von Aktivisten und Akademikern ins Spiel, ihr gemeinsames Vorgehen zum Schaden eines Dritten, der Bürger dieses Landes. Die Aktivisten lancieren die Meme, die Akademiker formen Wissen daraus: „Follow The Science“ ist die Parole der Fridays For Future, die adressierten Sozialwissenschaftler vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung machen eine statistisch erwiesene und mithin wissenschaftlich belegbare Klimakatastrophe daraus. Die nur abzuwenden ist, wenn die Bürger zu sofortigem Konsumverzicht angehalten werden, vom SUV aufs Rad umsteigen, um der Deindustrialisierung Deutschlands eine persönliche Note und der Dekarbonisierung durch Demut vor den Erneuerbaren eine Chance geben statt sich weiter im Widerstand gegen Windräder zu gefallen.

 
Damit nicht allzu viel Vermischung der Teilnehmer erfolgt, sitzen diese tischweise zusammen und werden dort auch ihr Mittagsmahl erhalten. Noch aber ist es nicht soweit, wie mein Notizbuch erkennen lässt.


In diesem Zusammenhang macht Andreas Tiedtke darauf aufmerksam, dass die Science der Akademiker als Beleg der Umwelt- oder Katastrophen-Meme der Aktivisten beide Male eine Mischwissenschaft ist, ein Hybrid aus exakter Naturwissenschaft und empirischer Sozialwissenschaft. Klimafolgenforschung ist ein Hybrid aus Sozial- und Geschichtswissenschaft, Statistik einerseits und Physik, Astronomie und Meteorologie andererseits. Ebenso ist Epidemiologie ein Hybrid aus Sozial- und Geschichtswissenschaft, Statistik einerseits und aus Chemie, Medizin und Virologie andererseits. In beiden Mischwissenschaften sind Physik, Chemie und die der Statistik zugrundeliegende Mathematik die exakten Wissenschaften, alle übrigen sind sozialwissenschaftliche Disziplinen mit weitem Deutungshorizont. „Follow The Science“ ist das neuzeitliche Pendant zur Anwendung und Umsetzung des Wissenschaftlichen Sozialismus und wie dieser Ideologie – kein Wissen, wie Kommunismus aufgebaut oder Erderwärmung abgebaut wird.

„In dubio pro reo“, im Zweifel für den Angeklagten, der damals wie heute der Kapitalismus ist, lautet Andreas Tiedtkes praxeologische Schlussfolgerung. Solange der Nutzen der Klimarettungspolitik nicht belegbar ist, solange der Schaden der katastrophen-memisch getriebenen Coronapolitik so messbar ist, sind Zweifel an der Schuld der nunmehr zwei Angeklagten nicht ausgeräumt und beide freizusprechen, der Kapitalismus für das Klima und die Globalisierung für Corona.

Hinweis: Die Videoaufzeichnung des Vortrags von Andreas Tiedtke ist seit 21. Oktober 2020 online zugänglich, hier.


Vortrag 2 Nachdem Andreas Tiedtke mit den Memen einen neuen Gedanken in Mises’ Praxeologie eingeführt hat, tritt Andreas Marquart gedanklich einen Schritt zurück und widmet sich den Grundlagen der Geldtheorie, gewissermaßen Mises’ Genen: Wie das Papiergeldsystem für Ressourcenverschwendung sorgt, ist sein Referat überschrieben. Marquart ist nicht nur Vorstand des Ludwig von Mises Instituts Deutschland, im Hauptberuf ist er Honorar-Finanzberater und einer der wenigen unter diesen, die sich an den Erkenntnissen der Österreichischen Geld- und Konjunkturtheorie orientieren. Sein Wissen hat er unlängst geteilt, Crashkurs Geld heißt sein im August 2019 im FinanzBuch Verlag erschienenes populärwissenschaftliches Sachbuch.


Vortrag 2 Andreas Marquart: Er deutet die von Soziologen beobachtete Infantilisierung nicht der Gesellschaft im Ganzen, wohl aber der Wortführer in Politik und Medien und ihrer zur Nachahmung bereiten Gefolgschaft, als Ergebnis des staatlichen Geldmonopols, das eine hohe Zeitpräferenz („ich will das, und ich will es jetzt“) für jedermann, der kreditwürdig ist, begünstigt.

Über die „dunkle Seite“ des ungedeckten Papiergelds, wie Polleit sie nennt, will Andreas Marquart sprechen, und tatsächlich steht auch beim Euro vieles nicht im Licht der öffentlichen Debatte, was aber eben dahin gehörte. Manches Gesagte dient auch der absichtsvollen Verdunklung der Zusammenhänge, etwa wenn die Europäische Zentralbank (EZB) von einer Politik der „flexiblen Geldmenge“ spricht, die Geldmenge seit Einführung des Euro jedoch stetig ausweitet und seit Corona sogar im Sauseschritt. Das Anwachsen der Geldmenge führt zu keinem Anwachsen des Wohlstands und schon gar nicht für alle – Andreas Marquart nennt diese Geldpolitik das „Verfrühstücken der Zukunft“.

Aber schon in der Gegenwart haben das Geld aus dem Nichts und die Abschaffung des Zinses fatale Folgen für Umwelt und Ressourcen. Die eine wird nicht geschont, die anderen werden nicht optimal genutzt, sondern beide nehmen Schaden, wenn Geld keinen Preis hat und falsche Ziele sich nicht mehr durch Unrentabilität rächen. Ergebnis: Schon am 22. Juli dieses Jahres waren Ressourcen verbraucht, die bis 31. Dezember 2020 hätten reichen sollen. Andreas Marquart nennt drei historische Beispiele für Ressourcenverschwendung:

Bauboom in Spanien, getrieben von zu billigem Geld. Entlang der Mittelmeerküste reihen sich Betonskelette nie fertiggestellter Appartementhäuser; die Zerstörung der Umwelt ist offensichtlich (er zeigt dazu das trostlose Foto einer Bauruine), der Schaden durch die Verschwendung der Ressource Beton und die bei dessen Herstellung emittierte CO2-Menge kaum quantifizierbar.

Durch politische Intervention und staatliche Subvention geförderter Ausbau von Regionalflughäfen in der Europäischen Union (EU). 400 von 480 der europäischen Flughäfen schreiben Verluste, zum Teil sind sie stillgelegt. Der Flächenfraß und die Ressourcenvergeudung sind offensichtlich.

„Häfen, die niemand braucht.“ Sie sind das Pendant zu den Flughäfen und wie diese mit EU-Mitteln gefördert. Ergebnis: Zerstörung von Stadt, Land, Fluss, dazu Zerstörung von Tierwelten und Verschandelung von Umwelten.


Häfen, die niemand braucht, Regionalflughäfen, von denen niemand fliegt, Häuser, in denen keiner wohnt – Andreas Marquart nennt und zeigt drei historische Beispiele für Ressourcenverschwendung, im Bild einer der Geisterhäfen in der Europäischen Union.


Nach 50 Jahren Staatsgeld, so Andreas Marquarts Resümee, sind die Grundlagen von Mises’ Geldtheorie in Vergessenheit geraten, dass nämlich ein schonendes Wachstum der Wirtschaft nur möglich ist, wenn das gilt, was Ludwig von Mises die Zeitpräferenz nennt: Verzicht auf heutigen Konsum, wenn Aussicht auf ein Mehr in der Zukunft besteht. Dann wird heute gespart und morgen investiert. Und zwar in etwas, das übermorgen profitabel zu werden verspricht. Das wäre ein erwachsenes Investitionsverhalten und Zeichen einer niedrigen Zeitpräferenz.

Kinder verhalten sich genau umgekehrt: Sie wollen alles, und sie wollen es gleich. Das ist altersgemäß und zeugt von einer hohen Zeitpräferenz. Die von Soziologen beobachtete Infantilisierung nicht der Gesellschaft im Ganzen, wohl aber der Wortführer in Politik und Medien und ihrer zur Nachahmung bereiten Gefolgschaft, ist auf das staatliche Geldmonopol zurückzuführen, das eine hohe Zeitpräferenz für jedermann, der kreditwürdig ist, begünstigt: Verhalte dich wie ein Kind – befriedige deine Klientel, bevor sie noch muckst, gilt für die einen; gönn’ dir, was du willst, für die anderen. Geld ist genug da und jeder Schuldenrahmen dehnbar, privat wie politisch.

Andreas Marquarts Schlussappell richtet sich an die Zuhörer im Saal und an das künftige Publikum der Videoaufzeichnung, die von jedem Vortrag gemacht wird und in den kommenden Wochen auf der Website des Mises Instituts veröffentlicht werden wird: Das unbegrenzt und willkürlich vermehrbare Staatsgeld zerstört Umwelt und Natur oft unwiederbringlich, deshalb brauchen wir werthaltiges Marktgeld und wertmehrende Marktwirtschaft, also „mehr Kapitalismus“ – „diskutieren wir!“

Nachtrag vom 28. Oktober 2020: Die Videoaufzeichnung des Vortrags von Andreas Marquart ist nunmehr online zugänglich, hier.


Vortrag 3 Nach diesem dringenden Appell hätte es der folgende Referent ohnehin schon schwer gehabt, zu basalen Facts and Figures zurückzukehren, aber er hat auch noch das Handicap zu überwinden, persönlich gar nicht anwesend zu sein. Professor Dr. Jörg Guido Hülsmann, der Ökonomie an der Universität Angers in Frankreich lehrt, konnte coronapolitisch bedingt nicht nach München kommen und wird per Video zugeschaltet, um die Politische Ökonomie des Klimawandels darzulegen. Hülsmann ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Ludwig von Mises Institut Deutschland und Senior Fellow des Ludwig von Mises Instituts in Auburn, Alabama. Und als solcher Routinier genug, die Aufmerksamkeit des Publikums im Saal alsbald auf die große Leinwand zu lenken, von der auch er für marktwirtschaftliche Antworten auf Klimafragen plädiert.


Vortrag 3 Jörg Guido Hülsmann: Er verneint die Behauptung, dass die Entwicklungsländer einseitig die Lasten der Erderwärmung trügen, die dann als „Krönung des Kolonialismus“ erscheine, als anhaltende „Ausbeutung der Dritten Welt durch die Erste“ – das halte keiner empirischen Bestandsaufnahme stand. Am Pult vor Beginn des Vortrags Andreas Marquart, der den Referenten vorstellt, der über ihm per Video aus Frankreich zugeschaltet ist und auf seinen Auftritt wartet.

Seine Kritik der interventionistischen Klimapolitik entfaltet Jörg Guido Hülsmann anhand des Bestsellers Der Klimawandel. Diagnose, Prognose, Therapie von Stefan Rahmstorf und Hans Joachim Schellnhuber. Rahmstorf ist Professor für das Fach Physik der Ozeane an der Universität Potsdam, Schellnhuber ist emeritierter Professor für Theoretische Physik an der Universität Potsdam und war 1992 Gründungsdirektor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), an dem auch Rahmstorf seit 1996 als einer von mittlerweile mehr als 300 Mitarbeitern forscht. Hülsmann hat dieses im Juli 2019 erschienene Buch gewählt, weil es als Heilige Schrift der Klimarettungsbewegung Fridays For Future gilt. Er nennt mehrere Einwände:

Das Buch erörtert keine Gegenmeinung mit der Begründung, es bestehe in der Wissenschaft Konsens. Zweitens stellt er die Vorhersagen des Buchs in Frage, die auf Simulationen beruhen, weil Simulation anfällig ist für politische Manipulation. Drittens schließlich rät Hülsmann, quantitative Modelle stets mit Vorsicht zu genießen, weil sie wie in seiner Disziplin, der Wirtschaftswissenschaft, zu beobachten, viele Falschaussagen zur Folge haben.

Jörg Guido Hülsmann plädiert deshalb für einen anderen gedanklichen Zugang und fragt: Wer hat einen Vorteil, wer hat einen Nachteil von den Folgen der Erderwärmung durch CO2? Ein Vorteil beispielsweise ist, dass mehr Ackerbau dort möglich ist, wo es zuvor zu kalt dafür war. Ein Nachteil ist, dass Bewohner von Inseln oder Küstenregionen umziehen müssten, wenn sie ihr Land nicht durch Deiche schützen könnten. Vor- und Nachteile bleiben jedoch bei Rahmstorf und Schellnhuber gänzlich unerörtert. Dabei hätte die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts die Blaupause für ein solches Abwägen abgeben können. Auch die industrielle Revolution brachte den einen Vorteil, den anderen Nachteil, doch die Bilanz am Ende fiel positiv aus. Woher rührt also die Vorstellung, dass Klimawandel die Nachteile verstärkt und die Anpassungsfähigkeit der Betroffenen überfordern würde?

Auch die stillschweigende Annahme des Buches, eher eine Anklage, dass gerade die Ärmsten durch das Handeln der Reichen leiden würden, stellt Jörg Guido Hülsmann in Frage. Die Behauptung, dass die Entwicklungsländer einseitig die Lasten der Erderwärmung trügen, die dann als „Krönung des Kolonialismus“ erscheine, als anhaltende „Ausbeutung der Dritten Welt durch die Erste“, hält keiner empirischen Bestandsaufnahme stand: Die in den vergangenen drei Jahrzehnten als Folge der Globalisierung zunehmende Überwindung des Hungers, die Minderung der Armut in Afrika und Teilen Asiens wird in jedem UNO-Bericht positiv verzeichnet – aber jetzt, 2020, durch die Coronapolitik ein Ende finden und nicht durch den Klimawandel.


Jörg Guido Hülsmann spricht per Videoschaltung aus Angers zu den Teilnehmern in München und bekräftigt: Die in den vergangenen drei Jahrzehnten als Folge der Globalisierung zunehmende Überwindung des Hungers, die Minderung der Armut in Afrika und Teilen Asiens werde jetzt, 2020, durch die Coronapolitik ein Ende finden und nicht durch den Klimawandel.


Der Fixierung der Klimapolitik auf den CO2-Ausstoß und der einseitigen Politik der Vermeidung von CO2-Emissionen setzt Jörg Guido Hülsmann den Gedanken der Anpassung entgegen. Den aber lehnen Rahmstorf und Schellnhuber von vornherein als „Öffnen der Pandorabüchse“ ab, weil die Umsiedlung von Überfluteten ethisch nicht statthaft sei. So wird allein der mögliche Schaden benannt und der mögliche Nutzen ignoriert, geschweige denn beides bilanziert. Hülsmann plädiert dafür, den „Gesamtnutzen des Klimawandels“ zu ermitteln. Er spricht sich auch bei der Lösung der Klimafragen für Entscheidungen der Einzelnen im Rahmen der Marktwirtschaft aus, statt zentralplanerisch zu denken wie Rahmstorf und Schellnhuber, für die Intervention des Staates alternativlos ist.

Dabei gibt es immer eine Alternative und hier sogar eine gut bekannte: den Lösungen und Innovation begünstigen, Wohlstand mehrenden, Freiheiten und Rechte wahrenden Kapitalismus. So entlässt Jörg Guido Hülsmann die Teilnehmer mit Zuversicht gewappnet in die Mittagspause. 

Nachtrag vom 4. November 2020: Die Videoaufzeichnung des Vortrags von Jörg Guido Hülsmann ist nunmehr online zugänglich, hier.


Vortrag 4 Der vierte Redner kann nach dem Mittagessen ein kulinarisch wie theoretisch wohl genährtes Publikum ansprechen. Es ist Professor Dr. Hans-Werner Sinn, der Das Klimaproblem und die deutsche Energiewende beleuchten wird. Sinn ist emeritierter Professor für Volkswirtschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und war von 1999 bis 2016 Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung in München, das den monatlichen ifo-Geschäftsklimaindex ermittelt und auch deshalb häufig Medienresonanz findet. Darüber hinaus ist Hans-Werner Sinn als Ökonom wegen seiner Kritik an der Eurorettungspolitik einem breiteren Publikum bekannt; weniger bekannt ist, dass er bereits 2008 mit einer Kritik der Klimarettungspolitik hervorgetreten ist. Eine aktualisierte Neuausgabe seines damaligen Buchs ist am 30. Oktober 2020 unter demselben Titel Das grüne Paradoxon – Plädoyer für eine illusionsfreie Klimapolitik im Schweizer Weltbuch Verlag erschienen.


Vortrag 4 Hans-Werner Sinn: Er legt dar, warum Elektromobilität für deutsche Bürger in ihrer Eigenschaft als Konsumenten, Stromkunden und Steuerzahler keine gute Idee ist; denn sie zahlen gleich dreimal drauf: beim Autokauf, beim Strompreis und dann noch einmal bei den Steuern, mit denen sie Autobau und Stromerzeugung subventionieren.

Den Klimawandel hält er für gegeben, will Hans-Werner Sinn gleich zu Beginn seines Vortrags klargestellt wissen, und auch die Annahme, dass die Erderwärmung am CO2 liege, wolle er nicht weiter diskutieren. Zur Begründung für Ersteres zeigt er eine Serie von Satellitenfotos, die den Rückgang des Eises am Nordpol dokumentieren, und was das Zweite betrifft, berichtet er von seiner Teilnahme an einer Tagung der Physikalischen Gesellschaft, auf der er, der Ökonom, keinen Physiker getroffen habe, der die wärmende Wirkung von CO2 bestreite. Klimawandel und CO2-Emission als Prämisse gesetzt, folgt nun das deutliche Aber: „Wir haben noch große Puffer!“ Keine Panik, wir reden von Jahrhunderten! Es geht um „Verlangsamen“, alles andere ist „nicht hinreichend belegt“, schon gar nicht sind es die großen Ambitionen der deutschen und der europäischen Klimapolitik.

Die großen Ambitionen der Klimapolitik. Mit einem Schaubild zeigt er sie auf großer Leinwand; allein diese Illustration staatlicher Anmaßung wird das Betrachten der später publizierten Videoaufzeichnung des Sinn-Vortrags lohnend machen. Hans-Werner Sinn zeigt und beschreibt eine Ambitionskurve, die von links oben nach rechts unten von 100 Prozent CO2-Emission im Jahr 1990 auf 0 Prozent im Jahr 2050 zusteuert. Die Schritte dorthin bezeugen eine kumulative Radikalisierung staatlicher Interventionspolitik: Hieß es im Kyoto-Ziel der EU noch minus 20 Prozent CO2-Emission bis zum Jahr 2020, formulierte die deutsche Regierung damals schon das doppelte Ziel von minus 40 Prozent. Gemäß dem Paris-Ziel der EU sollen es bis 2030 dann minus 40 Prozent sein, die deutsche Regierung überbietet erneut und verheißt minus 55 Prozent. Diese 55 Prozent CO2-Reduktion bis 2030 hat sich nun, angestachelt von dem frischen Wind, der dank Corona durch das Window Of Opportunity weht, Ursula von der Leyen als EU-Präsidentin zu eigen gemacht und als Ziel ihres Green Deal der gesamten EU verordnet.


Hans-Werner Sinn veranschaulicht seinen Vortrag mit vielen Schaubildern. Hier grätscht er mit einem dicken grünen Strich in die Infografik hinein: 2022 soll der deutsche Atomausstieg kommen und von einem Tag zum anderen 12 Prozent der deutschen Strommenge vom Energiemarkt nehmen. Hinweis: Durch Anklicken lässt sich das Foto vergrößern und die Infografik lesen.


An diesem Punkt grätscht Hans-Werner Sinn mit einem dicken grünen Strich in die Infografik hinein: 2022 soll der deutsche Atomausstieg kommen und von einem Tag zum anderen 12 Prozent der deutschen Strommenge vom Energiemarkt nehmen – und das bei einem Anteil der erneuerbaren Energien von 28 Prozent im Jahr 2019. Und dann plant die Bundesregierung, angefeuert von Klimaaktivisten, nun zusätzlich noch den Ausstieg aus der Kohle und der Braunkohle. Beide zusammen tragen aktuell 40 Prozent zur deutschen Stromproduktion bei. Und als wäre es des Unmöglichen nicht schon genug, soll gleichzeitig der Autoverkehr vom Verbrennungsmotor auf Elektroantrieb umgestellt werden, was eine signifikante Erhöhung der Strommenge voraussetzt, um täglich Millionen von Batterien aufladen zu können. Dabei sind jetzt schon, Stand 2019, die deutschen Strompreise für private Haushalte nach den dänischen die zweithöchsten in der EU.


2019 hatten alle erneuerbaren Energien zusammen einen Anteil von knapp 40 Prozent an der Stromerzeugung in Deutschland.


 2022 soll der deutsche Atomausstieg kommen und von einem Tag zum anderen 12 Prozent der deutschen Strommenge vom Energiemarkt nehmen. Zudem soll nun auch der Ausstieg aus der Kohle und der Braunkohle erfolgen. Beide zusammen tragen aktuell 40 Prozent zur deutschen Stromproduktion bei. „Und dann auch noch der Verkehr elektrisch!“
Hinweis: Durch Anklicken lassen sich die Fotos vergrößern und die Infografiken lesen.

Wie kann das gehen? Gar nicht, beantwortet Hans-Werner Sinn die selbstgestellte Frage. Um dann etliche Faktoren zu nennen und zu visualisieren, von denen jeder einzelne die großen Ambitionen zunichtemachen wird, rein physikalisch und mathematisch berechenbar. Besonders einprägsam ist sein Vergleich der CO2-Bilanz eines Dieselfahrzeugs mit der eines Elektrofahrzeugs. Sie basiert auf einer Studie, die er gemeinsam mit Christoph Buchal, einem Professor für Physik, und Hans-Dieter Karl, einem Spezialisten für die Energieforschung, 2019 erstellt hat. Sie ist online auf der Website des ifo Instituts als PDF verfügbar, aber dort längst nicht so eindrücklich illustriert wie auf den Infografiken, die Hans-Werner Sinn nun auf die große Leinwand projiziert.

Sie zeigen nichts weniger als die Dekonstruktion der Elektromobilität als einer CO2-armen Alternative zum Diesel. Dabei geht es stets um die CO2-Gesamtbilanz von der Wiege bis zur Bahre eines Automobils, von der Produktion seiner Einzelteile bis zu deren Verschrottung. Der Elektro-Golf muss 225.000 km fahren, um die Klimafreundlichkeit eines Golf Diesel zu erreichen, sprich um gleich wenig CO2 zu emittieren. Die durchschnittliche Lebensdauer eines Automobils in Deutschland endet aber nach 179.000 Kilometern Fahrleistung.


Ein Elektro-Golf muss 225.000 km fahren, um die Klimafreundlichkeit eines Golf Diesel zu erreichen, sprich um gleich wenig CO2 zu emittieren. Die durchschnittliche Lebensdauer eines Automobils in Deutschland endet aber nach 179.000 Kilometern Fahrleistung. Das ist es, was Hans-Werner Sinn das „grüne Paradoxon“ nennt. Hinweis: Durch Anklicken lässt sich das Foto vergrößern und die Infografik lesen.

Das klingt so, als wäre die Umstellung auf Elektrofahrzeuge keine gute Idee? Nun, beantwortet Hans-Werner Sinn auch diese selbstgestellte Frage, das kommt darauf an, für wen. Für deutsche Bürger in ihrer Eigenschaft als Konsumenten, Stromkunden und Steuerzahler ist Elektromobilität keine gute Idee; denn sie zahlen gleich dreimal drauf: beim Autokauf, beim Strompreis und dann noch einmal bei den Steuern, mit denen sie Autobau und Stromerzeugung subventionieren. Für alle anderen Bürger, die das Vergnügen haben, nicht in Deutschland zu leben, wird traditionelles PKW- oder SUV-Fahren billiger in dem Maße, in dem die Weltmarktpreise für Erdöl sprich Benzin oder Diesel fallen, und der Kauf der Fahrzeuge wird gleichzeitig leichter durch die Wohlstandsverschiebung, wenn Autos mit Verbrennungsmotor künftig anderswo statt in Deutschland hergestellt werden.

Das ist es, was Hans-Werner Sinn das „grüne Paradoxon“ nennt: „Wie strengen uns an“, gemeint sind die Deutschen, um einen „kleinen Beitrag zu leisten“, nämlich zur Klimarettung, und alle anderen profitieren, in der EU und weltweit. Die „Vernichtung der deutschen Autoindustrie“ ist der Preis, den die Bürger dieses Landes zahlen werden, aber niemand von den Grünen spricht darüber und folglich existiert das Thema auch nicht in der öffentlichen Debatte. Damit will Hans-Werner Sinn sich nicht abfinden und macht zum Schluss seines Vortrags fünf Vorschläge für eine effektive Politik:

Neue Atomkraftwerke bauen; sie haben die geringste Letalität aller Formen von Energiegewinnung.
• Sequestrierung (Einlagerung) von Kohlenstoff und Aufforstung, um den Kohlenstoffgehalt der Luft zu senken.
• Wälder kaufen und schützen; für den Amazonas-Regenwald veranschlagt er 275 Mrd. Euro.
• Quellensteuer auf Finanzinvestitionen und sichere Eigentumsrechte für Ressourcen im Boden, um den „Appetit auf Schweizer Bankkonten“ zu verringern.
• Weltweiter Emissionshandel zur Kontrolle der emittierten Kohlenstoffmengen.

Fazit: „Wir sollten nichts tun, was uns kasteit und doch keinen Beitrag leistet.“

Nachtrag vom 14. Dezember 2020: Die Videoaufzeichnung des Vortrags von Hans-Werner Sinn ist nunmehr online zugänglich, hier. Die späte Veröffentlichung rührt daher, dass alle Schaubilder, die hier nur beispielhaft als Standbilder zu sehen sind, in ihrer dynamischen Entwicklung in das Video der Vortrags eingearbeitet sind.


Vortrag 5 Dem kann der letzte Redner an diesem langen Konferenztag nur zustimmen. Es ist Professor Dr. Thorsten Polleit, der nicht nur Vorstand des Ludwig von Mises Instituts Deutschland ist, sondern im Hauptberuf Chefvolkswirt der Degussa. Er ist zudem Honorarprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth und Adjunct Scholar des Ludwig von Mises Instituts in Auburn, Alabama. Polleit ist zudem Buchautor und hat im Oktober 2020, rechtzeitig zur Mises Konferenz, als Neuerscheinung die Studie Der Antikapitalist: Ein Weltverbesserer, der keiner ist im FinanzBuch Verlag vorgelegt. Sein Vortrag zum Abschluss der Konferenz, Absolute Eigentumsrechte als ökologischer Imperativ, nimmt noch einmal Grundsätzliches in den Blick.


Vortrag 5 Thorsten Polleit: Er betont, dass nur bei einer Internalisierung der Kosten der Eigentümer einen Anreiz hat, sich ressourcen- und umweltschonend zu verhalten; denn Raubbau an der Ressource und Schädigung der Umwelt gingen zu seinen Lasten und schmälerten seinen Gewinn.

„Privatisierung von allem“, auch und gerade der Ressourcen, so lautet Thorsten Polleits These, „ist der wirksamste Schutz für die Umwelt.“ Er macht das am Beispiel einer Kupfermine deutlich, deren privater Eigentümer sie aus Eigennutz nachhaltig bewirtschaften werde, weil er auch künftige Nachfrage im Sinn habe. Weshalb aber geraten dann gerade solche Ressourcen wie Minen oder Meere immer wieder wegen Umweltverschmutzung in die Schlagzeilen? Weil sie entweder frei verfügbar sind, das ist die Tragik der Allmende, wie die Übernutzung oder Verhunzung eines Allgemeinguts unter Ökonomen heißt, oder sie gehören dem Staat, der so räuberisch wie rücksichtslos vorgehen kann, weil niemand ihn daran hindern könnte. Beides ist schlecht, weil es beide Mal keinen Eigentümer gibt und folglich auch kein Kapitalwertkalkül, mit dem der Eigentümer den Barwert zukünftiger finanzieller Überschüsse ermittelt.

Nur bei einer Internalisierung der Kosten verhält sich der Eigentümer ressourcen- und umweltschonend; denn Raubbau an der Ressource und Schädigung der Umwelt gingen zu seinen Lasten und schmälerten seinen Gewinn. Würden obendrein Dritte geschädigt, müsste er auch noch für deren erlittenen Schaden haften. Für Schäden an der Allmende hingegen haftet keiner, im Zweifel der Steuerzahler, für Schäden von Staats wegen ebenfalls der Steuerzahler, so der Staat überhaupt ein Rechtsstaat und von geschädigten Zivilpersonen verklagbar ist.

Auch den Vorschlag zum Schutz der Allmende, dass bei einem Allgemeingut eben der Staat einwirken müsse, kennt Thorsten Polleit nur zu gut und verwirft ihn sogleich: Wie von Hans-Werner Sinn am Beispiel der Klimapolitik vor Augen geführt, ist staatliche Intervention ein trojanisches Pferd, das zu immer neuen Eingriffen führt und eine Interventionsspirale in Gang setzt, aus der kein Entkommen mehr ist. Die beste Alternative ist und bleibt die Privatisierung von allem, Eigentumsrechte sind der „ökologische Imperativ“ schlechthin.

Von den Minen zu den Meeren. Thorsten Polleit wählt ein zweites Beispiel zu Verdeutlichung seines Gedankens: den „Seerechtskommunismus“. Damit spielt er auf die Teilverstaatlichung der Meere an, die von den Staaten in Form von 200-Meilen-Zonen bewirtschaftet werden und aktuell der Hauptzankapfel der scheiternden Brexit-Verhandlungen sind. Sein Gegenmodell heißt: Privatisierung der 200-Meilen-Zonen und Verkauf von Parzellen derselben an Unternehmen, die diese bewirtschaften. Dabei sind alle möglichen Eigentumsformen und Wege zum Eigentum denkbar, Versteigerungen wie bei den Mobilfunkfrequenzen, Ausgabe frei handelbarer Anteilsscheine an alle Nettosteuerzahler oder auch solche, die in der Ökologiebewegung bevorzugt werden: Genossenschaften, die allen Bürgern als Anrainer offenstehen.

Solange das Privateigentum an Ressourcen klar definiert ist und mit ihm die Gewissheit, bei Missbrauch der Eigentumsrechte oder Schädigung Dritter verklagt zu werden und haften zu müssen, wird der oder werden die Eigentümer alles tun, ihre Ressource zu schützen und die Umwelt zu schonen. Davon ist Thorsten Polleit überzeugt und stellt am Ende seines Vortrags den „großen Gorilla“ in den Raum: die Privatrechtsgesellschaft. Denn wieso sollte ausgerechnet der Staat bei Klagen gegen Ressourcenmissbrauch oder Umweltverschmutzung Recht sprechen, wo er doch oft genug an vielen Orten der Welt Teil des Problems und nicht der Lösung ist? Die Antwort ist ein Plädoyer für eine weltweite Schiedsgerichtsbarkeit, die Nachhaltigkeit besser richten könne, auf dass der Markt Ressourcen und Umwelt schütze.

Nachtrag vom 18. November 2020: Die Videoaufzeichnung des Vortrags von Thorsten Polleit ist nunmehr online zugänglich, hier.


Triptychon in Schwarz: Eine Tasse Kaffee mit Kuchen und Früchtchen auf einer Schieferplatte, das Notizbuch hat Pause. Das Hotel Bayerische Hof ist auch im Detail eine feine Adresse. Gut, wenn der Gast mit seinen Utensilien mithalten kann.


Podiumsdiskussion Nach kurzem Stühlerücken finden sich die vier persönlich anwesenden Redner auf dem Podium ein, um mit Ralf Flierl zu diskutieren und später auch Fragen aus dem Publikum zu beantworten. Ralf Flierl ist Chefredakteur des Magazins Smart Investor, das als eines der wenigen Medien in Deutschland den theoretischen Ansatz der Österreichischen Schule der Nationalökonomie gutheißt und für die Geldanlage zu Rate zieht oder zugrunde legt. Das Münchener Magazin gehört mittlerweile zur Berliner wallstreet:online AG, die Börsenportal und Online-Community in einem und in beidem marktführend ist.


Podiumsdiskussion: In der Mitte Moderator Ralf Flierl, links von ihm Thorsten Polleit und Hans-Werner Sinn, rechts Andreas Marquart und Andreas Tiedtke. Am Ende einer kontroversen Debatte teilt die Podiumsrunde diese Erkenntnis: Die Bürger der Eurozone sind einer Geldpolitik ohne Rücksicht auf Verluste ausgeliefert – und sollten das nicht länger hinnehmen.

Als Moderator mit ausgewiesener Kompetenz fällt Ralf Flierl die keineswegs leichte Aufgabe zu, nach dem Hardcore-Mises-Aufschlag von Thorsten Polleit wieder den Faden zum illusionslosen Markt-Pragmatismus von Hans-Werner Sinn aufzunehmen und die gemeinsame Schnittmenge beider Ansätze auszuloten. Um es kurz zu machen: Nach anfänglichen Missverständnissen kriegt die Runde die Kurve und verständigt sich am Ende in großem Einvernehmen darauf, dass die staatliche Geldpolitik viel stärker ins Visier zu nehmen und offensiv anzugreifen ist. In den Worten von Hans-Werner Sinn, dem das Schlusswort zufällt:

Die seit Jahren fortschreitende Ermächtigung der Europäischen Zentralbank (EZB) und nun noch der Green Deal der Europäischen Union (EU), die jetzt erstmals über ein eigenes, unbegrenztes Budget verfügen könne, liefen auf eine „unglaubliche Machtanmaßung“ der EU-Institutionen hinaus, die keiner parlamentarischen Kontrolle der Bürger in Deutschland mehr unterliege. Kurz: Die EZB hat ein „Eigenleben ohne Kontrolle“, die Bürger der Eurozone sind einer Geldpolitik ohne Rücksicht auf Verluste ausgeliefert – und sollten das nicht länger hinnehmen.

Hotel Bayerischer Hof, kurz vor 18 Uhr. Die Konferenzteilnehmer applaudieren, bei ihnen hat der Appell hörbar offene Ohren gefunden. Sie haben Mut getankt, Zuversicht geschöpft. Die Mises Konferenz 2020 geht zu Ende.

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Dr. Rainer Bieling ist Journalist und freier Autor. Bis Dezember 2018 war er Redaktionsdirektor des Informations- und Hintergrunddienstes Der Hauptstadtbrief. Dort publizierten namhafte Vertreter Österreichischen Schule in den Jahren 2012 bis 2018 regelmäßig; die Beiträge sind seit 2020 im Archiv leider nicht mehr online verfügbar, ebenso wenig die Editorials des Berichterstatters.


Quelle „Wie der Markt Umwelt und Ressourcen schützt”. Der Konferenzbericht. Veröffentlicht am 19. Oktober 2020 auf der Website des Ludwig von Mises Instituts Deutschland e.V.  Die obige Fassung ist stilistisch geringfügig modifiziert und durchgängig mit eigenen Fotos illustriert. Die Links zu den Videoaufzeichnungen der Vorträge sind im Nachhinein eingefügt und als Nachträge kenntlich gemacht (Stand 14. Dezember 2020).

Fotos © Dr. Rainer Bieling

Mittwoch, 7. Oktober 2020

Am Anfang war es nur eine „unmögliche Freundschaft“

David Ben-Gurion und Konrad Adenauer haben für die Aussöhnung zwischen Israel und Deutschland viel Gutes bewirkt. Eine Buchvorstellung.

Vorbemerkung Der folgende Beitrag erschien zuerst am Montag, dem 5. Oktober 2020, auf der Website der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Berlin und Brandenburg e.V. Darin berichte ich von der Vorstellung des Buches Eine unmögliche Freundschaft – David Ben-Gurion und Konrad Adenauer am 2. September 2020 in Berlin.



Buchvorstellung am 2. September 2020: Die Moderatorin des Abends, Maya Zehden, ist Stellvertretende Vorsitzende der DIG Berlin und Brandenburg e.V. Ihr Gesprächspartner ist der Autor des Buches: Dr. Michael Borchard, Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung.


Nach coronabedingtem Pausieren
fand im Gebäude der Konrad-Adenauer-Akademie in der Tiergartenstraße wieder eine Veranstaltung mit Publikum statt, zu der die Deutsch-Israelische Gesellschaft Berlin und Brandenburg e.V. (DIG) und die Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. (KAS) gemeinsam eingeladen hatten. Die Teilnehmer dieser Kooperationsveranstaltung am 2. September 2020, einem Dienstagabend, erlebten eine Buchvorstellung, die nicht nur deshalb in Erinnerung bleiben wird, weil sie überhaupt stattfand, sondern auch, weil sie eine überaus positive Begebenheit ins Gedächtnis rückte: die „unmögliche Freundschaft“ zwischen dem israelischen Ministerpräsidenten David Ben-Gurion und dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer.


Jochen Feilcke begrüßt die Gäste im großen Saal der Konrad-Adenauer-Akademie zur Vorstellung des Buches Eine unmögliche Freundschaft. Er ist Vorsitzender der DIG Berlin und Brandenburg e.V.


Eine unmögliche Freundschaft
– so lautet denn auch der Titel des vorgestellten Buches von Michael Borchard, und unter dieser Überschrift stand auch die Veranstaltung selbst, zu der Jochen Feilcke, Vorsitzender der DIG Berlin und Brandenburg e.V., die Gäste begrüßte. Er erinnerte an den „Strauß-Deal“ von 1957, als der damalige Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß und Shimon Peres, seinerzeit Generaldirektor im israelischen Verteidigungsministerium, bei einem geheimen winterlichen Treffen im Privathaus des Bayern in Rott am Inn formlos die Lieferung von Militärfahrzeugen aus Deutschland nach Israel vereinbart hatten. Jochen Feilcke rief auch die entgegengesetzte Haltung der DDR-Regierung in Erinnerung, die arabischen Organisationen und Staaten in den 1970er-Jahren Waffen zur Zerstörung Israels geliefert hatte.

Die Moderatorin des Abends, Maya Zehden, Stellvertretende Vorsitzende der DIG Berlin und Brandenburg e.V., stellte anschließend ihren Gesprächspartner vor, den Autor des Buches: Dr. Michael Borchard ist Leiter der Hauptabteilung Wissenschaftliche Dienste/Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung und hat seine Studie Eine unmögliche Freundschaft – David Ben-Gurion und Konrad Adenauer bereits im Dezember 2019 im Herder Verlag veröffentlicht. Zur Jahreswende ahnte noch niemand, dass der kommende Stillstand dazu führen würde, dass diese Publikation erst neun Monate später, im September 2020, vor einem Publikum gewürdigt werden könnte.


Maya Zehden und Michael Borchard im Gespräch. Dass ein prodeutscher Israeli und ein projüdischer Deutscher die beiden Spitzenämter ihrer Staaten innehatten, sei ein Glücksfall der Geschichte, sagt Borchard.


Maya Zehden erinnerte ihrerseits daran, dass heutzutage mehr Wissen über die 12 Jahre bis 1945 als über die ersten zwei Jahrzehnte nach 1945 verbreitet sei. Das Buch schließe eine Lücke, indem es die 1940er-Jahre in den Blick nehme, als sich die Bevölkerung des künftigen Staates Israel verdoppelte, und die Folgejahre, als sich die Bürger dieses neuen Landes der fortgesetzten Aggression arabischer Nachbarstaaten zu erwehren hatten.

Hier konnte Michael Borchard gut anknüpfen: „1945 fehlte alles, was flüssig war“, zitierte er ein Bonmot von Ben-Gurion. Das fehlende Flüssige waren Öl, sprich Benzin, Wasser und Geld. Dazu kam die Blockade der arabischen Staaten, die es erschwerte, den dreifachen Mangel zu beheben.

Ben-Gurion, so Borchard, habe sich schon als Oberbefehlshaber verstanden, als es noch keine staatlichen Strukturen und noch keine israelische Armee gegeben habe und deshalb gut gewusst, wie sehr der Mangel an Geld Mangel an Waffen bedeutete. Dass er später in den 1950ern auch die Bundesrepublik Deutschland zur Behebung dieses Mangels in den Blick nehmen konnte, verdanke sich seinem positiven Deutschland-Bild:

David Ben-Gurion hatte keine eigene oder familiäre Shoa-Erfahrung, weil er bereits 1906 aus den russisch besetzten Gebieten Polens, die zum Zarenreich gehörten, in die türkisch besetzten Gebiete Palästinas, die zum Osmanischen Reich gehörten, übergesiedelt war. So kannte Ben-Gurion das Deutsche Reich nur von seinen Reisen, die er zwecks Besuch der überwiegend in den Nachbarländern Schweiz, Österreich und Tschechoslowakei tagenden Zionistenkongresse unternommen hatte.

Die positive Deutschland-Erfahrung Ben-Gurions korrelierte, so Borchard weiter, mit einem positiven Judenbild Konrad Adenauers, das dieser sich früh zu eigen gemacht habe. Schon auf dem Kölner Apostelgymnasium hatte er Hebräisch gelernt, jüdische Mitschüler zu seinen Freunden gezählt und sich in der Bibelauslegung an jenen „Karfreitags- und Osternachtkatholiken“ orientiert, für die Jesus ein Jude war und blieb. Projüdisch zu sein sei für Konrad Adenauer „eine emotionale Angelegenheit“ gewesen; Michael Borchard nennt ihn einen „rheinisch-katholischen Zionisten“.

Aber dieses Rheinisch-Katholische prägte Adenauers Persönlichkeit auch in einer Weise, die sich dann doch sehr von der Persönlichkeit Ben-Gurions unterschied. Dennoch verstanden sich die beiden Politiker auf Anhieb, was wohl auch an Adenauers dezidierter Ablehnung des Nationalsozialismus lag, die ihn in den Augen Ben-Gurions zu einer vertrauenswürdigen Person machte. So sei „eine wirkliche Freundschaft“ entstanden, die vieles möglich machte, was zuvor unmöglich erschien – und das, obwohl sich die beiden seit 1960 nur zweimal getroffen hatten.

„Zweieinhalb Begegnungen“ seinen es am Ende geworden, fügt Borchard hinzu und berichtet vom Deutschland-Besuch David Ben-Gurions zur Beisetzung Konrad Adenauers im April 1967, um von dem toten Freund persönlich Abschied zu nehmen. Auch dies eine emotionale Angelegenheit, von tiefer Sympathie geprägt. Dabei habe die Annäherung der beiden Spitzenpolitiker anfangs politisch unter keinem guten Stern gestanden.

Das will Maya Zehden dann doch etwas genauer wissen, und Michael Borchard lässt sich nicht zweimal bitten – und berichtet unerhörte Dinge: Begonnen habe der Dialog zwischen Bonn und Tel Aviv 1951 mit einer israelischen Briefbombe, die Konrad Adenauer zugedacht war. Statt des Bundeskanzlers tötete sie einen Polizeibeamten, den die Sendung misstrauisch gemacht hatte. Später sollte sich herausstellen, dass ein künftiger Friedensnobelpreisträger der Absender war: Menachem Begin. Er, der Gegenspieler Ben-Gurions in Israel, hatte schon den Gedanken an ein Gespräch mit deutschen Politikern als Verrat und mögliche Wiedergutmachungszahlungen der Bundesregierung als „Blutgeld“ denunziert. Die Versendung der Briefbombe, deren Anstifter Begin war, sollte die Verhandlungen torpedieren.

Um zu begreifen, ergänzt Borchard, wieso für Menachem Begin ohne zu zögern das Mittel der Gewalt in Frage kam, müsse man wissen, dass dieser wegen seiner Shoa-Erfahrung ein negatives Deutschland-Bild hatte: Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen musste er fliehen und beide Eltern zurücklassen, die er, nach dem Einmarsch der Roten Armee seinerseits nach Sibirien ins russische Straflager Workuta deportiert, vor dem staatlichen Massenmord durch die deutsche Besatzungsmacht nicht schützen konnte.

Maya Zehden versucht, das Gehörte einzuordnen: Weil die Nachfolger der politisch Verantwortlichen der 1940er-Jahre Anfang der 1950er-Jahre an Wiedergutmachungszahlungen für die Taten ihrer Vorgänger denken, sei das ein „Blutgeld“, das von der Generation der Hinterbliebenen in Israel unter keinen Umständen angenommen werden dürfe? Ja, erläutert Michael Borchard, auch in Israel standen sich die der Shoa Entkommenen und die, die ihr durch Auswanderung nach Palästina zuvorgekommen waren, in den Jahren danach verständnislos gegenüber. Deutschenfreundlich die einen wie David Ben-Gurion, deutschenfeindlich die anderen wie Menachem Begin.

Dass ein prodeutscher Israeli und ein projüdischer Deutscher die beiden Spitzenämter ihrer Staaten innehatten, sei ein Glücksfall der Geschichte und habe eben jene „unmögliche Freundschaft“ möglich gemacht, die gegen alle Widerstände nicht nur im jeweiligen Inland, sondern auch im befreundeten Ausland jenen Mangel an Flüssigem behoben hat, der die Existenz des Staates Israel immer wieder aufs Neue gefährdete. Denn auch die USA als Besatzungsmacht in Deutschland waren „not amused“ von der Vorstellung, dass die gerade neu geschaffene und auf Anhieb erfolgreiche D-Mark nun nach Israel fließen sollte statt in die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik.

Auch einige europäische Staaten reagierten mit großer Zurückhaltung auf mögliche einseitige Wiedergutmachungszahlungen an Israel, bereiteten sie doch gerade das spätere Londoner Schuldenabkommen vor, mit dem die Bundesrepublik Deutschland für Schäden haften und zahlen sollte, die das Deutsche Reich den Nachbarländern im Zweiten Weltkrieg zugefügt hatte. Neben diesen Widerständen aus dem Ausland seien auch die Widerstände im Inland beträchtlich gewesen, betont Borchard und verweist auf die damals bereits ermittelten Zahlen der Allensbacher Demoskopie-Forscher: Nur 11 Prozent der Bundesbürger unterstützten Adenauers Haltung, 44 Prozent hielten eine Wiedergutmachung für überflüssig.

Vor dem Hintergrund dieses nationalen und internationalen Meinungsklimas passt eine Briefbombe dann doch ins Bild und zeigt, dass es Akteure gab, denen im Wortsinn jedes Mittel recht war, um die Angelegenheit in ihrem Sinne zu beeinflussen. Des allen ungeachtet reiste Adenauer 1951 zu einem Geheimtreffen nach Paris, in dem er als deutscher Bundeskanzler erstmals direkt mit den von Ben-Gurion entsandten israelischen Regierungsvertretern den Gedanken und die denkbare Höhe einer finanziellen Wiedergutmachung erörterte.

Wie habe Adenauer die Sache denn zu einem guten Ende bringen können, will Maya Zehden wissen – angesichts dieser Gemengelage von Widerstand im In- und Ausland und vor dem Hintergrund der Forderungen der Siegermächte, die nicht geheim, sondern ganz offiziell in London verhandelt wurden. Michael Borchard sieht hier ein besonders gutes Beispiel für das, was man heute Adenauers Lösungskompetenz nennen würde. Zuerst und in aller Öffentlichkeit sorgte er dafür, dass nach langen Verhandlungen mit fast 30 Staaten am 8. August 1952 ein Abkommen der Londoner Schuldenkonferenz vorlag. Darin erklärte die Bundesregierung, 14 Milliarden D-Mark zu zahlen. Parallel zu den Londoner Verhandlungen liefen in dem kleinen Ort Wassenaar bei Den Haag die deutsch-israelischen Verhandlungen.

 
Am Ende großer Applaus des Publikums in der Konrad-Adenauer-Akademie für die beiden unmöglichen Freunde und für die beiden Protagonisten auf dem Podium, die das Unwahrscheinliche so plausibel wie das Normalste der Welt vor Augen führten.

Einen Monat nach London, am 10. September 1952, unterzeichneten Konrad Adenauer in seiner Eigenschaft als Bundeskanzler und Bundesminister des Auswärtigen, der er von 1951 bis 1955 zugleich war, und der israelische Außenminister Moshe Sharett in Luxemburg ein Abkommen über Wiedergutmachungsleistungen, in dem sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtete, dem Staate Israel einen Betrag von 3 Milliarden D-Mark zu zahlen – in bar und in Gestalt von Warenlieferungen. Diese Leistungen galten als Entschädigung für die Eingliederung von Überlebenden der Shoa, weitere 450 Millionen D-Mark flossen der Jewish Claims Conference zur Unterstützung der außerhalb Israels lebenden jüdischen Flüchtlinge zu.

Dieses Nacheinander von London und Luxemburg war kluges politisches Handeln, schließt Borchard das Kapitel, so fanden beide Abkommen allseits Akzeptanz und schufen Vertrauen in den guten Willen der bundesdeutschen Regierung, die von der vorhergehenden Reichsregierung angerichteten Schäden nicht nur symbolisch ausgleichen zu wollen. Im Verhältnis zwischen Israel und der Bundesrepublik, die zu der Zeit keine diplomatischen Beziehungen hatten, verstärkten die bald auch einsetzenden Wiedergutmachungsleistungen eben jenes wachsende Vertrauen, das zu dem von Jochen Feilcke eingangs erwähnten „Strauß-Deal“ von 1957 führte, den Borchard eine „Räuberpistole“ nennt: Da hätten zwei etwas eingefädelt, Franz Josef Strauß und Shimon Peres, das diplomatisch gesprochen in einer Grauzone lag, einem gravierenden Mangel an Flüssigem aber mit Militärgütern abhalf.

Als es am 14. März 1960 zu einem ersten Treffen von Konrad Adenauer und David Ben-Gurion im Hotel Waldorf Astoria in New York kam, kannten und vertrauten sich die beiden Männer schon ein Jahrzehnt lang, ohne sich je begegnet zu sein. Für die Weltpresse ein Weltereignis, für die beiden Männer zwar auch ein Ereignis, aber eben keines aus dem Nichts: Hier trafen sich zwei, die lange schon an einem Strang zogen und sich nun auch persönlich gut leiden konnten. Nur so werde verständlich, so Borchard, dass Ben-Gurion offen weitere militärische Unterstützung zu erbitten wagte, die es in sich hatte: Fernlenkwaffen und U-Boote.

Das geschah nicht ohne Grund und nicht ohne Not: In Ägypten regierte Präsident Nasser, ein Israel-Hasser und zu der Zeit Führer der arabischen Welt. Gamal Abdel Nasser hatte mit Hilfe deutscher Techniker Raketen entwickelt, die bei einem erneuten Angriff auf Israel zum Einsatz kommen sollten. Mit ebenfalls deutscher Waffentechnik wollte Ben-Gurion reagieren können, zu Lande und zur See. Das ließ sich mit einem Gespräch nicht klären. Ludwig Erhard, seit 1963 Nachfolger Adenauers im Kanzleramt und schon 1951 als Wirtschaftsminister Befürworter der Wiedergutmachungszahlungen an Israel, war „kein Zauderer“, so Borchard, und hieß nicht nur weitere militärische Lieferungen zur Stärkung der israelischen Resilienz gut, sondern veranlasste 1965 auch die Aufnahme nunmehr offizieller diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel.

Michael Borchard hebt die „eminent wichtige Rolle“ Ludwig Erhards für die deutsch-israelischen Beziehungen besonders hervor. Heute noch hält die damals vereinbarte Kooperation beim Waffen- und beim Wissenstransfer an – und sichert Israel dank deutscher U-Boote die Zweitschlagkapazität gegenüber einem politischen Gegner, der seit 40 Jahren Iran heißt und unbeeindruckt von Atomabkommen am Ziel der Endlösung 2.0 festhält.

Maya Zehden möchte aber noch das vorletzte Kapitel der „unmöglichen Freundschaft“ angesprochen wissen – die zweite Zusammenkunft der beiden Staatsmänner. Tatsächlich trafen sich Konrad Adenauer und David Ben-Gurion am 9. Mai 1966 ein zweites Mal, erstmals sogar im frisch vom westlichen Deutschland anerkannten Israel: im Kibbuz Sde Boker in der Wüste Negev. Dorthin hatte sich Ben-Gurion nach dem Ende seiner Ministerpräsidentschaft 1963 zurückgezogen. Ebenfalls 1963 hatte Adenauer die Kanzlerschaft auf- und an Ludwig Erhard abgegeben. Beide waren also keine Staatsmänner mehr, präzisiert Borchard, sondern Privatiers.

Die Stimmung der beiden Männer, die gemeinsam so vieles bewegt hatten und sich nun unbeschwert als Pensionäre privat zu Hause begegneten, beschreibt Michael Borchard nach Lektüre der historischen Quellen als „ausgesprochen herzlich“. Die Familien, so berichtet er, hielten bis heute Kontakt, und dass es sich David Ben-Gurion nicht nehmen ließ, im Folgejahr zum letzten Kapitel nach Rhöndorf zu kommen, um seinem Freud Konrad Adenauer am 25. April 1967 das letzte Geleit zu geben, sei der folgerichtige Abschluss dieser „unmöglichen Freundschaft“.

Großer Applaus des coronabedingt kleinen, an diesem 2. September 2020 aber wieder möglichen Publikums in der Konrad-Adenauer-Akademie für die beiden unmöglichen Freunde und für die beiden Protagonisten auf dem Podium, die das Unwahrscheinliche so plausibel wie das Normalste der Welt vor Augen führten.


Auf dem Buchumschlag ein Foto, das die erste Begegnung von David Ben-Gurion und Konrad Adenauer im Jahr 1960 im 35. Stock des Hotels Waldorf Astoria in New York City zeigt.

Michael Borchard: Eine unmögliche Freundschaft – David Ben-Gurion und Konrad Adenauer. Herder Verlag, Dezember 2019. Gebundene Ausgabe, 384 Seiten, 24 Euro. Das Buch lässt sich bei Herder online ansehen und bestellen. Oder bei eichendorff21 besorgen, dem Perlentaucher unter den Buchläden.

Dr. Rainer Bieling ist Journalist und freier Autor. Bis Dezember 2018 war er Redaktionsdirektor des Informations- und Hintergrunddienstes Der Hauptstadtbrief.


Quelle Am Anfang war es nur eine „unmögliche Freundschaft“. Veröffentlicht am 5. Oktober 2020 auf der Website der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Berlin und Brandenburg e.V. (DIG). Eine gekürzte Druckfassung erscheint im Dezember 2020 im DIG MAGAZIN Nr. 2 2020/5781 auf den Seiten 49 bis 51.

Fotos © Dr. Rainer Bieling | Faksimile Buchumschlag © Herder Verlag