Mittwoch, 23. Dezember 2020

Dezember 2020: Das Verbrauchermagazin Guter Rat feiert 75. Geburtstag

Für mich ein Doppel-Jubiläum: Vor 30 Jahren, im Dezember 1990, wurde ich Chefredakteur dieser ältesten deutschen Zeitschrift.


Titelbilder aus 75 Jahren: Als erstes oben links der Antrag vom 21.11.1945 mit sowjetischem Genehmigungsstempel, die Zeitschrift Guter Rat für Haus und Kleid vierteljährlich in einer Auflage von 250.000 Exemplaren zu verlegen, daneben die Nummer 1 für 70 Pfennige. Rechts in der oberen Reihe eine Ausgabe von Guter Rat in den Händen von Henry Hübchen in der Rolle des Hotte Ehrenreich in dem Film Sonnenallee von 1999. Der Film spielt in den 1970er Jahren.
Untere Reihe: Später erschien das Blatt unter dem Namen Guter Rat für heute und morgen im Magazinformat, dann nur noch als guter Rat und schließlich in meinen Jahren als Chefredakteur 1990 bis 1998 mit Ausrufezeichen: Guter Rat!

Es war vor 30 Jahren, im Dezember 1990, da übernahm ich die Chefredaktion von Guter Rat, einem der damals zahlreichen DDR-Magazine, deren Verlag im Verlauf des Jahres 1990 im Zuge der Wiedervereinigung von einem Westverlag gekauft worden war. Guter Rat gehörte neben der Frauenzeitschrift Sibylle zum Portfolio des Leipziger Verlags für die Frau, den die Nürnberger Gong-Sebaldus Verlagsgruppe erworben hatte. Die Nürnberger kooperierten in der Zeit mit dem Münchener Burda Verlag, der mich von meiner Tätigkeit für sein Wirtschaftsmagazin Forbes freistellte, damit ich nach Berlin zurückkehren und die Leitung des Verbrauchermagazins Guter Rat übernehmen konnte.

Das war eine kluge Entscheidung; denn unter den vielen Westdeutschen, damals „Wessis“ genannt, die ein DDR-Magazin übernahmen, war ich – zwar durch meinen Job bei Burda bedingt auch aus Westdeutschland, nämlich München, kommend – der einzige gebürtige West-Berliner und, wie sich bald erweisen sollte, auch der einzige Westler mit Ostkompetenz. Nicht nur, weil ein Teil der Bieling-Familie in Ost-Berlin und Umgebung lebte und mir bei Besuchen die Sinnlosigkeit des Sozialismus ein aufs andere Mal vor Augen geführt hatte; auch in meiner Zeit beim West-Berliner Stadtmagazin Zitty in den 1980er-Jahren hatte ich vielerlei Kontakte nach drüben, darunter einige aus dem Kreis der Prenzlauer-Berg-Szene, die tief in die Seele der vom SED-Staat schikanierten DDR-Bürger blicken ließen.

Die Westdeutschen hingegen, damals bald „Besserwessis“ genannt, die als Chefredakteure nun einstige DDR-Blätter führten, hatten vom Osten keine Ahnung und fuhren ihre Monatsmagazine und Wochenzeitschriften alsbald an die Wand. So kam es, dass Guter Rat als einzige Zeitschrift von wirtschaftlicher Bedeutung die Wiedervereinigung überlebte, neue Leser und Anzeigenkunden hinzugewann und als Verbrauchermagazin alsbald das Wirtschaftsmedium mit der größten Reichweite in Deutschland wurde. Daraufhin war der Verlag im Jahr 1997 bereit, Guter Rat auch in den Alten Bundesländern einzuführen. So kam es, dass es Guter Rat als einzige Zeitschrift von wirtschaftlicher Bedeutung schaffte, ein gesamtdeutsches Magazin zu werden – und es zu bleiben.


Drei der Redakteure, die ich in den Jahren 1990 bis 1998 für Guter Rat gewonnen hatte, arbeiten 2020 noch für das Blatt, zwei von Ihnen sehen Sie rechts im Bild: Bernd Adam (oben) und Gunnar Döbberthin.

Auch 30 Jahre nach dem Beginn meines Wirkens für Guter Rat existiert die Zeitschrift noch, gehört seit 2002 zum Burda Verlag, der mich einst als Chefredakteur entsandt hatte, und beschäftig noch drei der Redakteure, die ich in den Jahren 1990 bis 1998 für das Blatt gewonnen hatte. Heute hat Guter Rat eine verkaufte Auflage von immer noch fast 100.000 Exemplaren (laut IVW-Meldung fürs 3. Quartal 2020) und feiert mit der aktuellen Ausgabe vom Dezember 2020 seinen 75. Geburtstag. Guter Rat ist nämlich nicht nur das einzige überlebende DDR-Magazin von wirtschaftlicher Bedeutung (es gibt Nischenprodukte wie Das Magazin, das die DDR ebenfalls überlebt hat), es ist das älteste heute noch existierende Magazin Deutschlands überhaupt.

Das Logo zum Jubiläum 75 Jahre Guter Rat im Dezember 2020.


Unter dem anfänglichen Namen Guter Rat für Haus und Kleid, später Guter Rat für heute und morgen erschien die von der sowjetischen Besatzungsmacht lizensierte Publikation erstmals im November 1945 im Leipziger Verlag Otto Beyer, dem bereits im Sommer 1946 verstaatlichten und sogleich umbenannten späteren Verlag für die Frau. Die Ausgabe 12/2020 würdigt dann auch im Dezember 2020 den 75. Geburtstag von Guter Rat mit einem Artikel, in dem einer meiner Nachfolger über die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung, die frühen 1990er-Jahre, schreibt:

„Guter Rat ist in diesen Jahren etwas Einzigartiges gelungen. Ein Magazin, an das niemand mehr so recht glauben wollte, ist zu einem Vorreiter des anspruchsvollen Verbraucherjournalismus geworden. Guter Rat hat die Fragen der Zeit aufgegriffen, und es gab viele. Denn das Leben ist sehr komplex geworden. Nicht nur, wenn es um die Orientierung im Konsumdschungel geht. Die wachsende Eigenverantwortung stellt die Menschen vor existenzielle Fragen (...) Mit der Wende wurde Guter Rat das meistverkaufte Wirtschaftsmagazin Deutschlands.“ (Seite 37)

Dieses Kompliment nehme ich auch persönlich – es gilt dem damals einzigen Westler mit Ostkompetenz und einer Ostredaktion mit Westehrgeiz: Die anfangs überwiegend älteren Kolleginnen wollten es noch einmal wissen und waren ohne zu zögern bereit, gleich Anfang 1991 von ihren mechanischen Schreibmaschinen aus DDR-Zeiten auf den Apple Macintosh umzusteigen und die nach Forbes von Burda, wo ich 1989 den Mac kennen- und schätzen gelernt hatte, zweite rein digital erstellte Zeitschrift in Deutschland zu machen. Ein riesen Kompliment auch an die neu hinzugekommene Grafik, die mit Begeisterung das Layoutprogramm QuarkXPress für Apple Macintosh erlernte und Guter Rat schon im Frühjahr 1991 komplett digital umbrach. Ein halbes Jahr nach der Wiedervereinigung war Deutschlands ältestes Magazin sein mondernstes!


Auf den Seiten 34 und 35 präsentiert die Ausgabe 12 vom Dezember 2020 eine Doppelseite „Guter Rat in Zahlen und Fakten“ wie diesen: „Guter Rat-Leser sind treu: 52 Prozent aller Abonnenten beziehen Guter Rat bereits seit 10 Jahren oder länger“ und „730 000 Menschen lesen durchschnittlich eine Ausgabe“. Der obige Ausschnitt der Doppelseite zeigt weitere Zahlen und Fakten.


Mit Stolz und Wehmut erinnere ich mich an ein Ost-West-Team, das den Ball von 1990 so routiniert aufnahm, alle Chancen der Wiedervereinigung nutzte und gleich zwei einzigartige Tore schoss: als einzige Zeitschrift von wirtschaftlicher Bedeutung die Wiedervereinigung zu überleben und als einzige Zeitschrift von wirtschaftlicher Bedeutung ein gesamtdeutsches Magazin zu werden. Und es war dieses fabelhafte Ost-West-Team, das die beiden Tore schoss:
> die schon lange vor meiner Zeit bei Guter Rat tätigen Redakteurinnen Charlotte Schröder, Annelies Tuchtenhagen, Georgia Förster und Ingrid Krüger, die Bildredakteurin Helga Herzog und die beiden Sekretärinnen Renate Zibell und Regina Drescher – seit Sommer 1990 bereits angeleitet von der Burda-Gesandten Elisabeth Bär;
> die neu hinzugekommenen Grafikerinnen Anke Baltzer und Niccola Wenske, die Grafiker Erhard Bellot, Peter Hoffmann und der vor einem Jahr am 27. Dezember 2019 verstorbene Gerhard Schmidt – sie ersetzten nach und nach ihren Kollegen Siegmar Förster, der als freiberuflicher Designer bis 1989 jahrelang das Erscheinungsbild der Zeitschrift geprägt und noch den neuen Titelschriftzug Guter Rat! (mit Ausrufezeichen) gestaltet hatte;
> die nach 1990 hinzugestoßenen Redakteurinnen Heike Gerbig, Kerstin Backofen, Alrun Jappe, Ilona Hermann, Sophie Neuberg, Sonja Kastilan, Henrike Hoffmann (als Schülerpraktikantin) und die Korrektorin Erika Kähler, die Redakteure Werner Sündram, Pierre Boom und Bernd Adam, später noch Karl-Heinz Twele, Rolf Fischer, Martin Braun, Thilo Ries und Gunnar Döbberthin. Die beiden Letztgenannten sowie Bernd Adam und die Grafikerin Niccola Wenske arbeiten noch heute, Stand Dezember 2020, bei Guter Rat.

Guter Rat Nummer 12 vom Dezember 2020: Die Jubiläumsausgabe widmet die Seiten 34 bis 37 dem 75. Geburtstag. Alle obigen Abbildungen sind diesen Seiten entnommen.

Und hier geht es zur heutigen Website von Guter Rat.

Nachtrag vom 15. Januar 2021: Ich danke allen, die zu diesem Doppeljubiläum gratuliert und mir Anregungen und Ergänzungen, die inzwischen in den obigen Text eingeflossen sind, mitgeteilt haben, namentlich Bernd Adam, Heike Gerbig, Werner Sündram, Sophie Neuberg und Erhard Bellot; außerdem Siegmar Förster (siehe Nachtrag vom 18. Januar 2021).
Beim Stöbern in der Vergangenheit bin ich noch auf einen Artikel von mir aus dem Jahr 2009 gestoßen, in dem Guter Rat den Dreh- und Angelpunkt einer Betrachtung deutscher Zustände bildet. Die Tageszeitung Die Welt veröffentlichte den Text am 2. Oktober 2009 zum Tag der Deutschen Einheit. In deren Webarchiv ist der Meinungsbeitrag unter seiner Originalüberschrift Die DDR lebt virtuell weiter online verfügbar. Lesedauer: 8 Minuten.

Nachtrag vom 18. Januar 2021. Siegmar Förster ergänzt die Geschichte von Guter Rat in einer Email vom 16. Januar 2021 mit der Schilderung dieser Begebenheit zu Endzeiten der DDR:

Was Sie vielleicht nicht wussten: In der Endphase der DDR, als die Ressourcen immer knapper wurden, gab es im Verlag für die Frau die Überlegung, die Magazine Sibylle, Saison und Guter Rat zu einem Magazin mit dem Titel »Marlene« (wg. Modeikone Dietrich) zusammenzufassen. Ich war dazu im Verlag in Leipzig, um mit einem Stapel Vogue, Elle und anderen Heften (zum Ausschlachten) bepackt, nach Berlin zurückzufahren und daraus ein Dummy (damals noch mit Pappe und Gummilösung) zu basteln. Aus meinem Entwurf wurde dann (leider! – Gottseidank!) nichts, weil der Mauerfall dazwischenkam.“

Alle Abbildungen © Guter Rat

Donnerstag, 10. Dezember 2020

Am Tag der Menschenrechte haben viele Menschen keinen Grund zu feiern

In etlichen Ländern der Welt verweigern Politiker ihren Bürgen die elementarsten Rechte und Freiheiten. Gedanken zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember.

Vorbemerkung Der folgende Beitrag erschien in einer für den Druck gekürzten Fassung zuerst am Sonntag, dem 9. Dezember 2018, aus Anlass des 70. Jahrestags des Tag der Menschenrechte im Hauptstadtbrief am Sonntag in der Berliner Morgenpost. Die folgende Extended Version ist um Passagen und Fotos erweitert, für die 2018 in der räumlich begrenzten Druckausgabe kein Platz war. Sie erscheint hier erstmals zum 72. Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 2020.



Tony Sender – eine deutsche Sozialdemokratin im amerikanischen Exil, deren Stimme in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung vom 10. Dezember 1948 anklingt. Diese in Vergessenheit geratene einzige deutsche Beteiligte an der Menschenrechtserklärung nahm seit 1947 gemeinsam mit Eleanor Roosevelt an den Sitzungen der UN-Menschenrechtskommission in Genf teil, die den Entwurf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte für die Vollversammlung in Paris vorbereitete.

Für Bürger in Deutschland und den anderen Ländern der Europäischen Union ist es längst eine Selbstverständlichkeit: Sie genießen ausgeprägte Rechte und Freiheiten, die gesetzlich garantiert und juristisch einklagbar sind. Sie genießen diese Freiheiten und Rechte als Einzelne, nur sie verfügen über sich selbst und jedes weitere Eigentum, das sie mit ihrem Denken und Handeln schaffen. Dieses Bild vom Menschen ist der Ausgangspunkt einer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die eine Vollversammlung der damals noch sehr kleinen Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 in Paris beschloss.

Die Bundesrepublik Deutschland gab es damals noch gar nicht, und es war auch keine deutsche Delegation in Paris. Nachdem deutsche Politiker die Alte Welt in Schutt und Asche gelegt und Millionen Europäer durch Angriffskrieg und Staatsmord umgebracht hatten, war das Bedürfnis der Siegermächte, sich mit deutschen Vertretern über Menschenrechte zu verständigen, nicht gegeben. Ganz im Gegenteil hatten die Alliierten nach dem 8. Mai 1945 in den Nürnberger Prozessen Regierungsmitglieder und hohe Staatsbeamte verurteilt und gehenkt, damit sie und Ihresgleichen nie wieder Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschheit begehen. Die Allgemeine Menschenrechtserklärung sollte staatlichen Verbrechen künftig einen Riegel vorschieben. Dass die alliierte Formel des Nie-Wieder von späteren deutschen Politiken in die Leerformel Nie wieder Krieg umgedeutet wurde, die vieles brachte, nur keinen Frieden, war damals nicht absehbar noch war vorhersehbar, wie ungeniert Nie wieder und Krieg in Europa zusammenpassen, erst auf dem Balkan in den 1990er-Jahren, in der Ukraine heute vor jedermanns Augen.

Das heutige Russland, der Aggressor im Ukraine-Konflikt, war 1945 in seiner damaligen Gestalt der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken einer der Sieger über das Deutsche Reich und gehörte zu den Gründern der Vereinten Nationen. Dieser Umstand warf von Anfang an einen Schatten auf die Fixierung der Menschenrechte. Die Sowjetunion hatte nicht das geringste Interesse an Menschenrechten, veranlasste ihre Regierung doch gerade eine ethnische Säuberung, die Millionen polnische und deutsche Bürger aus den Ostgebieten ihrer jeweiligen Vorkriegsstaaten vertrieb. Im eigenen Land deportierte die Sowjetregierung zur gleichen Zeit Millionen Bürger in die Arbeitslager des Archipel Gulag – der politischen Führung um Stalin galten Menschenrechte als bürgerlich und verachtenswert.

Mit Engelszungen und dem Angebot der Verankerung sozialer Anliegen in der Menschenrechtscharta versuchte in der US-amerikanischen Delegation vor allen Eleanor Roosevelt, die sowjetischen Verhandlungsführer zu einer Zustimmung zu bewegen. Dabei kam ihr die Expertise einer deutschen Sozialdemokratin zugute, die ihr als Exilantin zur Seite stand: Tony Sender (Foto oben). Die einstige SPD-Reichstagsabgeordnete hatte sich 1933 rechtzeitig aus Deutschland in die USA absetzen können und war nach dem Krieg als Gewerkschafterin für den Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen tätig. Seit 1947 nahm sie gemeinsam mit Eleanor Roosevelt, als Ehefrau von Franklin D. Roosevelt bis 1945 First Lady der USA, an den Sitzungen der UN-Menschenrechtskommission in Genf teil, die den Entwurf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte für die Vollversammlung in Paris vorbereitete. Auf diese in Vergessenheit geratene einzige deutsche Beteiligte an der Erklärung der Menschenrechte machte am 29. November 2018 Katharina Klasen in einem Vortrag zum Thema Menschenrechtsbezüge im Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand aufmerksam, deren Wissenschaftliche Mitarbeiterin sie ist.

Am Ende war es wohl ein früherer amerikanischer Staatsbürger, der den Sinneswandel der Sowjetdelegation bewirkte: Garry Davis (Foto unten). Der Bomberpilot der US Air Force gab nach dem Erschrecken über sein Tun im Krieg die US-Staatsbürgerschaft 1948 auf, gründete die Weltbürgerbewegung und siedelte im Spätsommer 1948 als erster Citizen of the World auf das Pariser Sitzungsgelände der UN-Vollversammlung über, das kurzzeitig als internationales Hoheitsgebiet galt. Die spektakuläre Aktion erzeugte ein weltweites Medienecho, am 19. November 1948 sprach er unaufgefordert zu den Delegierten.

Der am 17. November 2018 im Rahmen der Säkularen Woche der Menschenrechte von der Giordano Bruno Stiftung erstmals in Berlin als Europa-Premiere gezeigte Dokumentarfilm The World is My Country – The Garry Davis Story (das Foto zeigt ein Standbild aus dem Film von Arthur Kanegis) legt den Schluss nahe, dass es die von dem Kosmopoliten inspirierte spontane Friedensbewegung war, die überall in der westlichen Welt und sogar in West-Berlin Hunderttausende mobilisierte, derentwegen die sowjetische Delegation ihr Nein zur Menschenrechtserklärung aufgab: Am 10. Dezember 1948 verzichtete sie auf ihr Vetorecht und enthielt sich der Stimme.



Garry Davis – der Bomberpilot der US Air Force gab nach dem Erschrecken über sein Tun im Krieg die US-Staatsbürgerschaft 1948 auf, gründete die Weltbürgerbewegung und siedelte im Spätsommer 1948 als erster Citizen of the World auf das Pariser Sitzungsgelände der UN-Vollversammlung über, das kurzzeitig als internationales Hoheitsgebiet galt. Die spektakuläre Aktion erzeugte ein weltweites Medienecho, am 19. November 1948 sprach er unaufgefordert zu den Delegierten. Es war wohl die von dem Kosmopoliten inspirierte spontane Friedensbewegung, die überall in der westlichen Welt Hunderttausende mobilisierte, derentwegen die sowjetische Delegation auf ein Veto gegen die Menschenrechtserklärung verzichtete.

Sehr schwer ist der sowjetischen Delegation die Enthaltung nicht gefallen: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist kein verbindlicher Vertrag, sie ist nicht justiziabel und nicht einklagbar. Sie lässt sich leicht mit Füßen treten. Und genau das taten die sowjetischen Politiker gleich anderntags wieder, wie sie es an jedem Vortag getan hatten. Und die damaligen russischen Vasallenstaaten taten es dem Großen Bruder gleich: die Ukraine, Weißrussland, Polen, die ČSSR und Jugoslawien enthielten sich ebenfalls der Stimme und ebenso wenig der Verletzung der Menschenrechte. Die Deutsche Demokratische Republik gab es im Dezember 1948 noch nicht; aber auch ihre Politiker scherten sich später nicht um Menschenrechte, zuletzt am 6. Februar 1989 ließen sie einen Flüchtling an der Grenze ihres Staates erschießen, den 20-jährigen DDR-Bürger Chris Gueffroy. Noch einmal verletzte ein Staatsmord den Artikel 13 Absatz 2 der Menschenrechtscharta: „Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“

Zu den 8 Enthaltungen (es gab 48 Ja-Stimmen, 0 Gegenstimmen, mehr Vereinte Nationen gab es damals noch nicht) zählte neben den 6 sozialistischen Ländern die Republik Südafrika. Seit den Parlamentswahlen vom Mai 1948 ganz frisch auf dem Weg zur Errichtung der Apartheid, wollte sich die neue Regierung nicht zu Menschenrechten bekennen, die gleich im Artikel 2 die Rassentrennung ausschlossen: „Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.“ Dass heute nach Abschaffung der Apartheid vor allem jene Weißen in den größten Genuss der Allgemeinen Menschenrechte in Südafrika gelangen, die sie mit ihrer Studiosus-Reisegruppe von Zuhause mitbringen, ist kein Ruhmesblatt für die Nachfolger von Nelson Mandelas ANC.

Wirklich symptomatisch für das Mit-den-Füßen-Treten der Menschenrechte ist allerdings die Nummer acht der Länder, die sich am 10. Dezember 1948 der Stimme enthielten: Saudi-Arabien. Die dort regierenden Politiker unterschieden sich schon damals von allen anderen auf der Welt: Sie waren nicht nur im Besitz des Staates, der Staatsmacht – der Staat war ihr Eigentum und ist es bis heute. Dass die Eigentümer auch die Bürger ihres Landes als ihr Eigentum ansehen, das sie nach Belieben zerteilen und in Luft auflösen lassen können, mag Staatsgläubige überraschen, passt aber ins Bild, das eine Welt abgibt, deren Führungsmacht die Herren der Kaaba mit aller Gewalt sein wollen.

Von Mauretanien am Atlantischen Ozean, die afrikanische Küste am Mittelmeer über Kairo bis Istanbul entlang, in Asien von Damaskus über Bagdad, Teheran, Kabul, Karatschi und über den Indischen Ozean hinaus bis nach Jakarta zieht sich ein grüner Gürtel von Ländern, den Geschichtsatlanten als islamisch ausweisen und die auf Menschenrechtskarten fehlen. Die saudi-arabische Enthaltung von 1948 gilt bis heute für fast alle diese Länder, ernstgemeinte Einträge in die Menschenrechtskarte lassen sich neuerdings im Westen Nordafrikas erkennen. Auch die muslimische Migration in die Länder der Europäischen Union bringt erste Stimmen zum Erklingen, die sich der Kairoer Erklärung von 1990 widersetzen, dem islamischen Gegenstück zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, das die Scharia, das Gottesgesetz, über die Menschenrechte stellt. Die Deutsche Islam Konferenz sieht seit November 2018 gerade darin ein Thema.

Das Thema ist, dass mitten in Deutschland eine unbekannt große Zahl von Bürgern und vor allem Bürgerinnen lebt, die nicht in den Genuss der Menschenrechte kommen, weil in ihrer Gegenwelt Grundgesetz und gleiche Rechte und Freiheiten für Mann und Frau nicht gelten. Vielleicht sollte sich die Deutsche Islam Konferenz bei der Gelegenheit auch gleich um Deutschlands Universitäten kümmern. Dort macht sich in Gender- und anderen postmodernen Studien ein neuer Ungeist breit, der Menschenrechte für ein neokoloniales Konstrukt des weißen Mannes hält, einen Rassismus, der sich über die Vielfalt der Kulturen erhebt und die Anerkennung der islamischen Kultur verweigert. Das nennen Professor*innen der Berliner Universität, deren rein männliche Vorgänger Bücher auf dem Bebelplatz verbrennen ließen, der 1933 Opernplatz hieß, Islamophobie.

Auf den neuen universitären Ungeist machten bei der Vorstellung ihres Buches Freiheit ist keine Metapher, erschienen im Berliner Querverlag, der Herausgeber und drei der Autorinnen bei ihrer Präsentation des Sammelbandes am 16. November 2018 im Buchladen Eisenherz in Berlin-Schöneberg aufmerksam. (Bericht von der Buchvorstellung weiter unten im Blog oder hier direkt zu finden.) Der universitäre Angriff auf die Menschenrechte, das wurde deutlich, kommt aus dem Inneren eines freien Landes und richtet sich gegen die universelle Gültigkeit der Rechte jedes Einzelnen als Mensch und Bürger, die schon der Titel der Erklärung von 1948 betont: The Universal Declaration of Human Rights.

Der kurze Streifzug durch 72 Jahre Menschenrechtsgeschichte zeigt: Am Tag der Menschenrechte haben, selbst in Deutschland, viele Menschen keinen Grund zu feiern. Dabei war von China noch gar nicht die Rede. In etlichen Ländern der Welt verweigern Politiker ihren Bürgen die elementarsten Rechte und Freiheiten – welch ein Glück, alle Rechte und Freiheiten zu haben. Doch es sind die Bürger, die ihres Glückes Schmied sind. Vom Himmel fällt kein Menschenrecht.

Foto Tony Sender: Wikipedia © Historisches Museum Frankfurt CC BY-SA 4.0
Foto Garry Davis: Szenenbild aus dem Film „The World is My Country – The Garry Davis Story“ © Arthur Kanegis