Samstag, 10. Januar 2009

Joseph, Jeff und Jackson



Was ist KUNST? Eine gute Bekannte und Kollegin schrieb mir zu Neujahr, sie würde sich in den folgenden ruhigeren Tagen die Beuys-Ausstellung im Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart (was für ein passender Name!) ansehen und an einer Führung teilnehmen, die den Teilnehmern die Kunst von Joseph Beuys nahebringen solle. Ich habe ihr zugeraten; denn ich kannte die Ausstellung (noch bis 25. Januar 2009) bereits von der Pressevorführung am 1. Oktober 2008. Daher stammt auch das Foto, allerdings ist es nicht von mir, sondern von einer lieben Freundin und Bloggerin. Ich habe es ihrem Beuys-Eintrag vom gleichen Tag entnommen.

Und, wie war es? fragte ich die gute Bekannte und Kollegin ein paar Tage nach der Führung in einer Email. Sie antwortete und schrieb:
"Joseph Beuys - schwere See ... Jeder ist ein Künstler (aber das wussten wir ja schon). Natürlich habe ich jetzt mehr verstanden, warum die Fettblöcke im Hamburger Bahnhof liegen, was sie bedeuten, allerdings empfinde ich seine Art Kunst auch im gewissen Maße arrogant, wenn sie sich nur durch Erläuterungen oder Hinweisschilder erklären lässt, da ist eben doch nicht jeder Mensch Künstler genug, sich all die Bedeutungen/künstlerischen Beweggründe herleiten zu können. Und ich habe sehr viele Leute beobachtet, wie sie sich achselzuckend oder lächelnd um diese Blöcke und durch die anderen Räume bewegt haben, ohne zu verstehen, was die Skulpturen bedeuten könnten.

Aber ich will's nicht lang ausdehnen, mir (und den anderen auch) hat die Führung viel über ihn geben können, was ich noch nicht detailliert kannte war die Kasseler Aktion zur Dokumenta mit seinen grob behauenen Steinen und Baumsetzlingen, die finde ich letztlich von all seinen Werken (die mir bekannt sind) am gelungensten. Den Begriff KUNST neu zu definieren ist ihm für die heutige Zeit vielleicht auch gelungen. Einen Hieronymus Bosch mit seinem Garten der Lüste würde ich jedoch niemals in Frage stellen. Oder eben tausend andere Künstler vor ihm. War alles in allem gut, müsste man sich eigentlich öfter mal gönnen."
Ich antwortete ihr und schrieb: "Freut mich, dass die Beuys-Führung erhellend war. Weil Sie ihm Hieronymus Bosch gegenüberstellen: Ich bin sicher, dass Sie nach einer vergleichbaren Bosch-Führung 200 % Erkenntniszuwachs hätten und aus den Aha-Erlebnissen gar nicht rauskämen - obwohl Sie zuvor sicher geglaubt hätten, bei Hieronymus liege alles anschaulich gemalt vor Ihren offenen Augen.

Was ich sagen will: Die Fähigkeit zu sehen ist keine natürliche, die sich mit dem Öffnen der Augen von allein einstellte. Alles, was wir sehen (und das ist sowieso schon wenig, weil wir nur einen schmalen Lichtwellenbereich zwischen 450 und 700 Nanometern Wellenlänge wahrnehmen können), wird ja erst durch die Verarbeitungsfähigkeit des Gehirns zu einem Bild. Diese Verarbeitungsfähigkeit geht so, dass das Gehirn von Kind an Informationen speichert und rasend schnell mit dem vergleicht, was die Sehnerven an Daten liefern.

Wir sehen ein Haus oder einen Baum, sobald wir Haus und Baum gespeichert haben. Millionen von Menschen sehen ein Leben lang ein Haus, wo Sie ein Bauhaus sehen (ein Fin-de-Siècle-Haus, ein Zuckerbäckerstilhaus, ein Jugendstilhaus usw.), oder einen Baum, wo Sie einen Ahorn, eine Linde, eine Platane sehen (einen Lorbeer oder eine Terebinthe würden Sie vielleicht schon nicht mehr sehen). So paradox es klingt: Wir sehen nur, was wir kennen = was wir kennengelernt und im Gerhirn als Information gespeichert haben.

Und wir speichern nur, was wir für wichtig halten (andernfalls könnten Sie gar nicht Auto fahren; denn alles Unwichtige lässt Ihr Gehirn beiseite, obwohl es da ist und von den Augen auch wahrgenommen wird). Kurz: Wir sehen nicht mit den Augen, wir sehen mit dem Gehirn. Dieses Sehorgan ist aber nichts Statisches, ein für allemal Programmiertes, es ist ein flexibles, lernfähiges Organ, das unendlich viel speichern kann, wenn wir es dazu auffordern. Solch eine Aufforderung haben Sie durch Ausstellungsbesuch und Führung Ihrem Gehirn erteilt, und es scheint diesen Befehl willig gefolgt zu sein.

Sie sehen nun mehr als vorher, weil Sie Ihr Gehirn gefüllt haben. Außerdem: Sehen ist immer Deuten, ein Interpretieren: in diesen Tagen steht Haus für warm, Baum für hart - ganz schlecht an schneeglatter Straße. So verknüpft das Gehirn Bild und Bedeutung zu einer komplexen Information, und je komplexer sie ist, desto mehr sehen Sie. Sehen lässt sich also lernen. Machen Sie mal die Gegenprobe: In der Neuen Nationalgalerie läuft noch bis 8. Februar 2009 die große Jeff Koons Retro. Jeff Koons ist das schiere Gegenteil von Beuys. Bei Koons ist jedes Exponat plastisch naturalistisch, figürlich realistisch, ja hyperreal wie bei Bosch - und nun, was sehen Sie? (Schauen Sie mal bei der erwähnten Freundin und Bloggerin den Koons-Eintrag vom 13. November 2008.)

Ein weiteres: Nicht alles, was wir sehen, mögen wir. Und wo kommt das Mögen her? Es mögen Leute ja Verschiedenes; was mir gefällt, stößt Sie vielleicht ab. Warum ist das so? Weil wir mit dem Deuten auch werten. Das Gehirn speichert Bild, Bedeutung und Bewertung in einem großen Datenpaket. Ist es groß genug, sehen wir: oh, Fettwürfel, ah, Beuys, ih, scheußlich (oder uh, so seh'n die also aus). Bild, Deutung, Wertung. Und das alles unter einer Sekunde. Lieschen Müller sieht gar nix: äh, was'n das für Dinger? Äh, wie bei den Sch'tis. (Was für eine Klamotte von Film.)

Das Datenpaket aus Bild, Bedeutung und Bewertung kann wachsen, und es kann sich ändern. Darum gefällt uns manches nicht mehr, was wir früher mochten, zum Beispiel Schlaghosen. Oder wir finden auf einmal gut, was uns lange kalt ließ, zum Beispiel Jackson Pollock. So ging es mir. Als ich in der Eingangshalle des Brooklyn Museums als einziges Bild ein einziges riesen Gemälde wahrnahm, sah ich: oh, Farbkleckse, ah Pollock, wow, wie schön. In dieser einen Sekunde sah ich, dass es wunderschön ist. Eine Wanddekoration, die den ganzen großen Raum füllte, nicht nur den Rahmen. Eine Dekoration in karger Eingangshallenumgebung, ein Farbarrangement zum Wohlfühlen und Heimischwerden: komm, tritt ein, siehst du unseren Pollock, du bist in New York, nun los, hier gibt es noch viel Schönes zu entdecken.

Ist das KUNST? Wenn sie mich begeistert, ja. Wenn nicht, ist sie sicher für andere da. Andere Leute, andere Wertungen. Wir müssen Kunst wie alles im Leben nicht als monoglott, sondern als polyglott denken - Kunst spricht nicht eine Sprache, Kunst spricht viele Sprachen. Kunst ist nicht Eines, das für alle verbindlich wäre (also kein Universum), sondern Kunst ist Vieles, bei dem sich die Geister scheiden (ein Pluriversum). Also anything goes? Bestimmt nicht. Auch ein offener, pluraler Kunstbegriff wird ein Innen und ein Außen haben und etliches ausscheiden, was er weder für kunstvoll noch für wertvoll hält. Was keiner mag und keiner kauft, ist wohl keine Kunst. Sondern ein Privatvergnügen. Das bleibt außen vor. Und kann dennoch allen Beteiligten großen Spaß machen."

2 Kommentare:

  1. Ahaa. Well done, too... Allerdings, Mr. Computerschlau, da sind wieder html-Fetzen zwischen den Absätzen sichtbar, ähem...

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  2. Danke für den Hinweis, schon behoben. Merkwürdig, auf Firefox waren sie nicht zu sehen, aber im Explorer schon. Tja, ...

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