Mittwoch, 21. Januar 2009
Gerdas Schweigen
Das war ein Abend ganz nach meinem Geschmack. Im Kino Babylon in Mitte einen Film sehen, dessen Regisseurin Britta Wauer direkt über dem Kino wohnt, schon immer, die wiederum von einer Frau erzählt, Gerda nämlich, die ihrerseits gleich um die Ecke gewohnt hat. Das liegt allerdings 60 Jahre zurück. Heute wohnt Gerda (Abbildung rechts), hochbetagt, in New York City. Der Film Gerdas Schweigen berichtet, wie es dazu kam. Diese Geschichte wiederum hatte zuvor Knut Elstermann in seinem gleichnamigen Buch aufgeschrieben. Seine Familie, die ihn einst als Schuljungen mit Gerda zusammengebracht hatte, wohnt oder wohnte ebenfalls in dem Kiez Berlin Ecke Volksbühne, so der Titel des ersten Dokumentarfilms von Britta Wauer (das Kino Babylon liegt schräg gegenüber der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz). Heute Abend also lief Gerdas Schweigen erstmals im Babylon, und alle waren da, die Regisseurin, der Buchautor, der Kamera- und Ehemann, der Komponist der Filmmusik, nur Gerda fehlte, die Hauptperson, aber das machte nichts. Denn Gerda war sowas von anwesend, sie brauchte gar nicht persönlich aus New York zu kommen.
Ihre Geschichte und damit der Inhalt des Dokumentarfilms ist in der Synopsis des Filmverleihs Piffl Medien auf den Punkt gebracht. Was den Abend aus dem Kinobesuchsalltag heraushob, war die Anwesenheit der Macherin und Macher, die dem Zelluloid ein Echtheitszertifikat anheftete. Was von dem Abend bleibt, ist noch wichtiger: eine nachhaltige Erkenntnis. Wir sehen nämlich auf der Leinwand ein echtes Berliner Mädchen, Gerda eben, blutjung, bildschön, blitzgescheid, genau so, wie sich ein echter Berliner Junge Mädchen wünscht. Und dann kriegt das Berliner Mädchen, inzwischen zur jungen Frau herangewachsen, den Judenstern auf die Brust. Von einem Tag zum anderen ist sie keine Deutsche mehr, sondern Jüdin. Selten wird einem die nationalsozialistische Fabrikation des Juden so deutlich wie in diesem Film.
Da gewinnt eine totalitäre Bewegung, die nie mehr als ungefähr die Hälfte der Bevölkerung vertritt, die Deutungs- und Durchsetzungsmacht, einen anderen, kleineren Teil eben dieser Bevölkerung erst ideell, dann real auszusondern, bis diese Deutschen, die bis eben wie alle anderen deutsche Staatsbürger waren, keine Deutschen mehr, sondern Juden sind, denen erst das Staatsbürgerrecht und dann das Lebensrecht verweigert wird. Schon deshalb sollten wir nie wieder von "Deutschen und Juden" sprechen, wenn wir vom Nationalsozialismus reden; denn dann haben die Nationalsozialisten noch nachträglich gewonnen.
Das betrifft auch den ersten Teil des Wortpaares "Deutsche und Juden", im nationalsozialistischen Jargon "das deutsche Volk". Die Aussage, "die Deutschen" hätten "die Juden" umgebracht, wäre ebenfalls ein später, nachträglicher Sieg des Nationalsozialismus. Gerdas Sohn erliegt dieser Progaganda, ohne es zu wollen, wenn er verkündet, sich nie und nimmer in einen Volkswagen zu setzen. Gerdas Bericht bringt den tatsächlichen Sachverhalt ans Licht: Es gab im Dritten Reich die illoyalen Deutschen, die nicht mit den Nationalsozialisten übereinstimmten, die nicht mit ihnen paktierten und sich ihnen zum Beispiel dadurch widersetzten, dass sie Gerda nach 1941, nach der Auslösung der Endlösung, halfen, als U-Boot in Berlin zu überleben: durch Untertauchen ohne den Judenstern.
Dieser Teil des Films, in dem Gerdas Schweigen endlich in Gerdas Reden übergeht, ist schier unglaublich. Gerda berichtet von einem nationalsozialistischen Aufseher, der sie nicht verpfeift. Von etlichen Berlinern und einem Ungarn, die ihr das Überleben im Untergrund ermöglichen. Und von zwei jüdischen Gestapospitzeln, die sie schließlich ans Messer liefern, das den Namen Auschwitz trägt. Gerda, die völlig unpolitische Berlinerin, bestätigt hier die Deutschlandanalyse des hoch politischen Berliners Sebastian Haffner, die ich weiter unten in meinem Eintrag vom 3. Oktober 2008 würdige. Die Deutschen waren nicht nur vor, sondern auch nach 1933 tief gespalten. Die Gestapo hat dafür gesorgt, dass sich die schweigende Minderheit nicht artikulieren konnte. Zum Verschwinden hat sie sie nie gebracht, auch nie zum Versagen von Nächstenliebe. Gerda hat davon profitiert, eine Weile lang jedenfalls. Das blieb nicht ohne Folgen. Aber sehen Sie selbst, der Film läuft noch im Kino. Tipp: Sie brauchen nur Gerdas Schweigen zu googeln, und schon sehen Sie den Aufführungsort im aktuellen Kinoprogramm als ersten Eintrag. Armer tip.
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POSTSCRIPTUM Der Buchautor Knut Elstermann, der in dem Dokumentarfilm als Person und Offstimme mitspielt, ist ist im Brotberuf Filmkritiker und Moderator bei radio eins "Nur für Erwachsene". (Die segensreiche Rolle dieses Senders, der es seinen Mitarbeitern und Hörern gestattet, in Würde zu altern und dabei die Liebe zum Pop forever young zu halten, habe ich schon in meinem Eintrag vom 27. Oktober 2008 gewürdigt. Es war mein früherer Zitty-Kollege Helmut Lehnert, der radio eins ins Leben gerufen und sich damit bleibende Meriten verdient hat.) Nur für Erwachsene ist auch das Folgende. Warnung eins: Es verrät entscheidende Inhalte des Films. Warnung zwei: Es könnte Kinderglauben verletzen.
Ähnlich wie der französische Spielfim Le Secret (Ein Geheimnis), den ich unter Meine Kinotipps (siehe linke Randspalte) aufgenommen habe, bringt Gerdas Schweigen die Sprache auf ein totes Kind. Es ist dieses tote Kind, das Gerdas Schweigen auslöst. Und da es in beiden Filmen die Nationalsozialisten sind, die den Kindesmord herbeiführen, in Gerdas Fall ein sogar namentlich bekannter Nationalsozialist, der KZ-Arzt Dr. Josef Mengele, könnte man annehmen, Gerdas Schweigen verdanke sich dem totalitären Schock der grenzenlosen Entrechtung und Entmenschung der jüdischen Deutschen in Auschwitz. Aber dem ist nicht so, und ich bin mir nicht sicher, ob das der Protagonistin selbst, dem Autor und der Regisseurin überhaupt bewusst ist.
Gerdas Schweigen beginnt 1947, als sie von Berlin nach New York City übersiedelt, und es endet 60 Jahre später, 2007, als sie mit Knut Elstermann spricht, dem Sprössling ihrer alten Berliner Bekannten. Mit denen konnte sie nach ihrer Flucht aus Auschwitz und ihrer Rückkehr nach Berlin in den Jahren von 1945 bis 1947 über das tote Kind sprechen. Von Berlinerin zu Berlinerin, für die ein voreheliches Verhältnis und ein uneheliches Kind nichts Verdammungswürdiges waren. Gleiches gilt für 2007, als die Begegnung mit Knut Elstermann es Gerda ermöglicht, in ihre alte Rolle zu schlüpfen und von Berlinerin zu Berliner zu sprechen. Was trennte die Berlinerin Gerda von der New Yorkerin?
Die jüdische Religion. Genauer die Religiosität des jüdischen Mainstreams in Amerika, in den Gerda 1947 eintauchte, um bald darauf mit einem Ehemann aufzutauchen, dessen polnische Herkunft konventionellerweise für ein konservatives Jüdischsein sorgte. Es ist nicht die nationalsozialistische Grenzerfahrung, die Gerda verstummen lässt, es ist die jüdische Grenzziehung, die vorehelichen Verkehr, uneheliche Kindschaft und obendrein Ehebruch (Gerdas Liebhaber war ein verheirateter Mann) als Sünde verdammt und im Buch Levitikus (3 Mose 20,10) als todeswürdiges Verbrechen zu ahnden fordert. Gerda weiß das und schweigt fortan, selbst Gerdas Sohn, legitimes Kind einer legalen Ehe und längst erwachsen, wird nie etwas von ihr erfahren.
Darin liegt die Tragik von Gerdas Schweigen. Sie schweigt, weil sie in New York Jüdin ist. Im nationalsozialistischen Berlin wurde sie ohne ihr Zutun und gegen ihren Willen zur Jüdin gestempelt und der Vernichtung preisgegeben. Im freien New York bekennt sie sich aus freien Stücken zu einem Judentum, das sie zwingt zu schweigen, will sie ihre neue Identität, die Zugehörigkeit zur Jewish community, ihr neues Leben in der neuen Welt und ihr neues Liebesglück nicht gefährden. Und dieser Befund führt geradewegs zu dem Thema nur für Erwachsene: Das Totalitäre ist eben nicht im 20. Jahrhundert vom Himmel gefallen, das Totalitäre wurzelt in den Religionen, seit sich die Unterscheidung zwischen wahrem Gott und falschen Göttern in ihnen eingenistet hat. (Der Ägyptologe Jan Assmann hat das mit dem Begriff der "Mosaischen Unterscheidung" beschrieben.) Das geschah vor rund 2700 Jahren, als der aggressive Imperialismus Assyriens den gesamten Nahen Osten einschließlich Ägyptens real und mental aus den Fugen brachte.
Der theologische Widerhall der auf Anmaßung beruhenden und auf Unterwerfung zielenden assyrischen Ideologie findet sich in den biblischen Texten dieser Epoche - mit fatalen Folgen bis heute. In New York musste Gerda nur schweigen, in Riad steinigen sie immer noch Frauen, die sie des Ehebruchs schuldig befinden. Die Definitionsmacht des wahren Glaubens läuft nur in zweiter Linie auf das Tyrannisieren der Ungläubigen und Falschgläubigen hinaus - zu allererst geht es um die Unterwerfung der eigenen Anhängerschaft. Der Glaube an den wahren Gott misst sich in der Befolgung seiner Gebote, die zwischen richtig und falsch unterscheiden. Nicht das Aufstellen von Regeln ist zu monieren, die brauchen Menschen, um verträglich miteinander auszukommen. Sobald sich jedoch Gebote der Offenbarung einer göttlicher Wahrheit verdanken, sich also menschlicher Verfügbarkeit entziehen, endet das Reich der Freiheit und die Welt der Willkür beginnt. Das ist die Geburtsstunde des totalitären Prinzips.
Seinen Nachhall findet es im zeitgenössischen Judentum und Christentum (hinsichtlich des zeitgenössischen Islam wäre eher von einem Nachknall zu sprechen). Der Nachhall ist am deutlichsten im Privaten zu hören und hier wiederum am lautesten bei allem Sexuellen. Der Tyrannei der Es-gibt-nur-einen-wahren-Gott-Ideologien, die die meisten Menschen als Religion missverstehen, hat sich auch Gerda 60 Jahre lang unterworfen. Bis sie in der Begegnung mit dem Berliner Knut wieder an ihre Berliner Freiheiten von 1945 bis 1947 anknüpfen und endlich auch in New York frei werden konnte. Es war großartig, dabei zuzusehen und zuzuhören, wie der schwere Stein von Gerdas Seele fiel, auch wenn ihr in dem Augenblick und wahrscheinlich bis heute nicht klar war, was da fiel. Was für eine Erleichterung für Gerda - und für mich als Zuschauer!
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