Mittwoch, 16. Juli 2008

Ecuador und der Besuch der alten Dame Sozialismus


Mein Eintrag Ecuador, mon amour vom 11. Juli hat Widerspruch gefunden. Nicht in Form von Kommentaren, aber doch in Form zweier Emails. „Meinst du nicht, dass der Aufruf in Deinen Blog ‚ganz leicht tendenziös’ ist?“ fragt eine mir sehr nahe stehende Stimme aus Berlin, und eine andere, von mir ebenfalls geschätzte aus dem fernen München spricht:
„Es beunruhigt mich lediglich ein kleines wenig, dass es dir offenbar am Herzen liegt, auch von diesem fernen, fremden Land den Bogen zu Altmeister Stalin zu spannen. Bitte nicht wunderlich werden, alter Freund! Wehret den Anfängen! Bitte nicht vom Gipfel der Allwissenheit die Lage in einer Weltgegend kommentieren, ohne vorher in die Niederungen der konkreten Gegebenheiten vor Ort (Lateinamerika) gestiegen zu sein und sich dort gründlich umgeschaut zu haben. Die haben dort womöglich ganz andere Menschenfressererfahrungen als die Russen und deine Anmerkungen, so richtig sie vielleicht sein mögen, werden in ihrer Bedeutung zu einer Randnotiz."
Mir fällt auf, dass ich gar keinen Bogen von diesem fernen, fremden Land Ecuador (Karte oben, von Wikipedia) zu Altmeister Stalin gespannt hatte. Ich hatte einen Bogen vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts zum Sozialismus des 20. Jahrhunderts gespannt. Und ich hätte ihn überhaupt nicht gespannt, wären da nicht Kräfte in Südamerika und eben auch in Ecuador, die es laut heraustrompeten, nunmehr den Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika verwirklichen wollen. Es ist Rafael Correa, der von Ecuador den Bogen zum Sozialismus spannt. Auf diese Idee wäre ich nie gekommen. Und ich halte es auch für keine gute Idee. Genau das begründe ich auch oder versuche es zumindest.

Ist das „tendenziös“? Der Versuch sicher nicht, vielleicht die Begründung. Welche Tendenz hat sie denn? Offensichtlich die, die Unmenschlichkeit des Sozialismus herauszustellen, wie wir Europäer sie in 20. Jahrhundert erlebt haben. Den Sozialismus mit menschlichem Gesicht, wie ihn zuletzt die Prager Reformkommunisten von 1968 erträumt hatten, hat es in der Alten Welt nie gegeben. Hier bei uns war Sozialismus immer nur ein Alptraum für die Betroffenen. Ich habe Zweifel, dass es in der Neuen Welt anders sein wird. Das ist tendenziös? Ich sage nur, Kuba.

In die „Niederungen der konkreten Gegebenheiten vor Ort“ wird nun Leonard einsteigen, und davon erwarte ich mir viel.
Das ist der Bogen, den ich in meinem Eintrag schlage. Leonard wird in ein Land kommen, dessen Präsident gerade dabei ist, den Sozialismus einzuführen – das ist das eine Ende des Bogens, sein ideologisches. Und es ist ein Land, für diese Erkenntnis muss ich keinen „Gipfel der Allwissenheit“ besteigen, das von Ungleichheit und Ungerechtigkeit nur so strotzt. Das hat Ursachen, die ich nenne – das ist das andere Ende des Bogens, sein materielles.

Woher erhält also der Bogen, wie ich ihn in meinem Eintrag spanne, seine Kraft? Aus dem Spannungsfeld einer
Ideologie des 19. Jahrhunderts, die im Europa des 20. Jahrhunderts eine mörderische Wirkung entfaltet hat und nun zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts werden soll. Und einer ökonomischen, sozialen und politischen Realität in Ecuador, deren Ungleichheit und Ungerechtigkeit offensichtlich zum Himmel schreien. Ich bezweifle, dass diese Ideologie diese Realität zum Besseren verändert. Ja, das ist tendenziös. Es ist die Tendenz, den Sozialismus nicht für gut, sondern für schlecht zu halten.

Eine Tendenz, die ich mit jenen 16 Millionen Ostdeutschen teile, die, als es schließlich ging, nichts schneller loswerden wollten als ihren Sozialismus. Ja, wenn Sozialismuskritik 19 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer nur noch die „Bedeutung einer Randnotiz“ hat, wie sieht dann die Hauptnotiz aus, lieber Münchner? Und noch einmal: Ich habe den Sozialismus für Ecuador nicht ins Spiel gebracht. Das war Correa, der sich auf Morales beruft, der sich auf Chavez beruft, der sich auf Castro beruft, der sich auf Marx, Engels und Lenin beruft. Ich war’s definitiv – nicht.

Das Foto oben zeigt eine Werbung für das Ja zur Verfassung. Hier gibt es eine kleine Bilderserie vom Wahltag am 28. September 2008, aufgenommen von Leonard in Ecuador.

Bitte nehmen Sie auch an meiner kleinen Umfrage teil (links in der Randspalte).

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