Verliehen im Beisein von polnischen Veteranen am 2. Mai 2025
Für Polen ist der 2. Mai 1945 ein Tag der Erinnerung: „Tag der Flagge der Republik Polen“, weil an diesem Tag vor 80 Jahren die polnische Flagge auf der Siegessäule im Tiergarten wehte, dort angebracht von Soldaten der 1. Polnischen Armee, die mit diesem symbolischen Akt die Eroberung Berlins feierten. Von Einheiten der Sowjetischen und Polnischen Armee besiegt, hatte die Wehrmacht in Berlin bereits am Morgen des 2. Mai 1945 kapituliert.
Aus Anlass des 80. Jahrestags der Eroberung Berlins hat das Berliner Pilecki-Institut am Pariser Platz, eine Zweigstelle des gleichnamigen Warschauer Instituts, am Freitag, dem 2. Mai 2025, einen Gedenktag organisiert, der von 10 Uhr am Morgen bis um 20 Uhr am Abend dauerte – zwei der insgesamt fünf Programmpunkte (neben der Ordensverleihung am Mittag noch die Podiumsdiskussion zum Abschluss des Tages) habe ich wahrgenommen und war berührt von dem Umstand, dass eine Handvoll Veteranen der polnischen Armee aus diesem Anlass nach Berlin gekommen war, hochbetagte Herren Ende 90, sogar ein Hundertjähriger unter ihnen.
Um 13 Uhr hatten sie im Veranstaltungssaal des Pilecki-Instituts in der ersten Reihe Platz genommen, um bald darauf aus der Hand des Ministers Michał Syska, der dem polnischen Amt für Veteranen und Opfer politischer Repressionen vorsteht, Ehrenmedaillen Pro Patria zur Erinnerung an den Einsatz ihres Lebens zur Niederringung der letzten Wehrmachteinheiten in der deutschen Hauptstadt entgegenzunehmen.

Anschließend würdigte der Minister eine Handvoll Deutscher, die sich nach 1945 für die deutsch-polnische Verständigung eingesetzt hatten, unter ihnen Reinhard Strecker, mit 94 Jahren ebenfalls schon hochbetagt, aber nicht mehr in der Lage, der Zeremonie persönlich beizuwohnen. An seiner statt nahm Tochter Rachel den Orden Pro Patria entgegen. Abschließend würdigte Kamil Majchrzak vom Vorstand des Internationalen Buchenwald-Komitees die Verdienste der Ausgezeichneten, bei Reinhard Strecker stellte er dessen Engagement gegen das Vergessen ins Zentrum: die Initiative für die zu ihrer Zeit höchst umstrittene und von vielen Seiten heftig angefeindete Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“, die zuerst im November 1959 in Karlsruhe, dem Sitz des Bundesverfassungsgerichts, und anschließend im Februar 1960 in West-Berlin zu sehen war.

Reinhard Strecker, damals Student an der FU, der Freien Universität Berlin, und politisch im SDS aktiv, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund, mobilisierte eine Handvoll Kommilitonen und organisierte mit ihnen eine Kampagne gegen eine westdeutsche und West-Berliner Richterschaft, die zu einem Gutteil aus ehemaligen Funktionsträgern des Dritten Reichs bestand, ohne dass deren Mitwirkung an nationalsozialistischen Staatsverbrechen gesühnt oder auch nur zur Sprache gekommen wäre. Etliche Todesurteile aus nichtigstem Anlass, die Strecker und sein Team detailliert nachweisen konnten, waren im besetzten Polen oder an polnischen Zwangsarbeitern im Reich vollstreckt worden.
In Zeiten des Kalten Krieges, gut eineinhalb Jahre vor dem Mauerbau am 13. August 1961, fand die Ausstellung viele Feinde – nicht nur einstige Funktionäre der NSDAP, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, auch Politiker der demokratischen Parteien lehnten die Ausstellung ab und bezeichneten sie als „Akt öffentlicher Agitation zugunsten sowjetzonaler Stellen“, um das „Ansehen der Justiz als tragendem Pfeiler der öffentlichen Ordnung“ zu beschädigen, wie Wikipedia in einem ausführlichen Eintrag zur Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ in Erinnerung ruft. Hintergrund der Anwürfe war die Tatsache, dass Reinhard Strecker nach Warschau, Prag und natürlich auch Ost-Berlin (das ging noch mit der S-Bahn) fahren musste, um Dokumente einzusehen, die bundesdeutsche Justizbehörden ihm vorenthielten.

Das bleibende Verdienst der Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ ist der Nachweis, dass „der Nationalsozialismus“ mitnichten am 8. Mai 1945 „endete“, sondern dass nationalsozialistische Funktionseliten im Justizwesen weiterhin und bis in die 1970er-Jahre tonangebend blieben, die Rechtsprechung prägten und die juristische Sühne für die von ihresgleichen begangenen Staatsverbrechen verhinderten. Aus heutiger Sicht ein Nachweis von Long-NS in Kreisen der Dritten Gewalt, der allerdings bis heute von der FU Berlin, deren Alumnus Reinhard Strecker ist, nicht angemessen gewürdigt wird. Umso mehr freut es mich, dass Reinhard, den ich seit 15 Jahren von unseren gemeinsamen Besuchen der Abendveranstaltungen der Topographie des Terrors kenne, nunmehr von polnischer Seite mit einer Verdienstmedaille geehrt worden ist, zumal er sich auch direkt um die deutsch-polnische Aussöhnung gekümmert hat.

„Polen – ein Schauermärchen“ hieß ein 1971 veröffentlichtes, gemeinsam mit Günter Berndt, dem Studienleiter der Evangelischen Akademie Berlin, von Reinhard Strecker herausgegebenes Buch, das die Gründung der deutsch-polnischen Schulbuchkommission zur Folge hatte, wie Wikipedia in einem ausführlichen Eintrag über Reinhard Strecker (Aktivist) in Erinnerung hält. Glückwunsch, lieber Reinhard, für diesen hoch verdienten Orden!

Hinweis zum Weiterlesen
An die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“, die vor 65 Jahren im Februar 1960 an der Freien Universität Berlin nicht gezeigt werden durfte, erinnerten im Februar 2020 eine Ausstellung und eine Abendveranstaltung in der Villa Oppenheim, dem Sitz des Museums Charlottenburg-Wilmersdorf. Unter dem Titel Die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ 60 Jahre danach beschreibe ich, wie dem Initiator Reinhard Strecker 2020 die späte Genugtuung der Anerkennung seiner Leistung von 1960 widerfährt.
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