Aktuelle Vorbemerkung vom 1. Juli 2011: Der folgende Blogeintrag vom 5. März 2009 ist keine Besprechung des Buches, sondern trägt einen Einwand zu einer unzutreffenden Aussage vor. Seit der zweiten Auflage ist diese Aussage korrigiert, mein Einwand also gegenstandslos. Als historisches Dokument eines aufschlussreichen Vorgangs lasse ich den Blogeintrag unveränder stehen. Arabboy gibt es jetzt in einer günstigen Ausgabe für 4,50 Euro bei der Bundeszentrale für politische Bildung.
Um es frei heraus zu sagen: "Arabboy" ist ein wertvoller Beitrag zur Beantwortung der Frage, wie die deutsche Mehrheitsgesellschaft mit den muslimischen Parallelgesellschaften umgehen soll. Ich benutze den Plural; denn
Güner Balci, deren Eltern aus der Türkei nach Berlin kamen, beschreibt das arabische Milieu der Hauptstadt, nicht das türkische. Es ist also ein Buch über die Eigenheiten der arabischen Parallelgesellschaft, mithin die Schilderung eines Teilbereichs der muslimischen Diaspora.
Um es kurz zu sagen: Nach 286 Seiten ist klar, dass es diese Teilmenge niemals hätte geben dürfen. Und dass es nun, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist, politische Aufgabe und Ziel sein muss, das Kind aus dem Brunnen zu ziehen und den Status quo ante wieder herzustellen. Anders wird die Zivilgesellschaft keinen Frieden finden und ihre Freiheit nicht bewahren können. Und es gibt auch keinen Grund, anders verfahren zu wollen; denn die Ursache des Zuzugs dieser arabischen Flüchtlinge, der Libanonkrieg von 1982, liegt 27 Jahre zurück. Seither ist der Libanon zu einem Land geworden, in dem sich Araber jede Freiheit herausnehmen können und das auch tun, wie zuletzt der (am Ende gescheiterte) Angriff der
Hisbollah auf den Nachbarn Israel deutlich gemacht hat.
Das Stichwort Israel führt zur einzigen Schwäche dieser ansonsten ausgezeichneten Schilderung eines frauen- und inländerfeindlichen, durch und durch totalitären arabisch-muslimischem Milieus. Auf Seite 27 schreibt Güner Balci über Rashids Eltern - Rashid ist der titelgebende "Arabboy":
"Rashids Eltern zählten zu den vielen tausend geduldeten Kriegsflüchtlingen, die hier, in Deutschland, Aufnahme fanden, nachdem Israel 1982 Teile des Südlibanons besetzt hatte und bis West-Beirut vorgedrungen war, der Heimatstadt von Rashids Eltern. [...] Leila [Rashids Mutter] war dabei gewesen, als israelische Soldaten bei einem Massaker in den Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila in Beirut zwei ihrer fünf Brüder auf offener Straße hinrichteten."
Die
Massaker von Sabra und Schatila sind
nicht von Israelis, sondern von Libanesen verübt worden. Sie waren Teil der Auseinandersetzung zwischen christlichen Milizen und palästinensischen Kämpfern um die Macht im Libanon. Einige Israelis machen sich
heute Vorwürfe, diese Massaker nicht rechtzeitig gestoppt zu haben - der Film
Waltz With Bashir, auf den ich bereits zwei Mal in meinem Blog zu sprechen kam (siehe Einträge vom
21. November 2008 und
12. Januar 2009 weiter unten), handelt davon.
Es ist unverständlich, warum Güner Balci diese
unzutreffende Behauptung in den Raum stellt - auch wenn es hier nur zur literarischen Konstruktion einer arabische Opferbiografie dient. Es ist unverzeihlich, dass ihr Lektorat diesen Passus nicht korrigiert hat.
Keine mir bekannte Quelle weist auch nur auf eine Teilnahme von Israelis an den Massakern hin - dass die Massaker in diesem Roman sogar als israelische Massaker dargestellt werden, möchte ich nicht hinnehmen. Es wäre gut, wenn sich der S. Fischer Verlag bei einer wünschenswerten zweiten Auflage an dieser Stelle mit der Autorin auf eine Korrektur verständigt, die den historischen Tatsachen Rechnung trägt. Ein britischer Bischof, der den Mord an Juden leugnet, eine deutsche Autorin, die den Mord durch Juden erdichtet, das stimmt mich unfroh.
POSTSCRIPTUM
Soeben teilt mir die verantwortliche Mitarbeiterin des
S. Fischer Verlags auf meinen ihr emailig vorgetragenen Einwand hin folgendes mit:
"Vielen Dank für Ihren kritischen Hinweis in Güner Balcis Buch "Arabboy". Ihr Einwand ist vollkommen berechtigt - in der zweiten Auflage des Buches, die wir im November 2008 (schon kurz nach Erscheinen des Buches Anfang September) nachgedruckt haben, ist die Stelle auf Seite 27 des Buches deshalb auch bereits entsprechend korrigiert. Wir bitten ausdrücklich um Entschuldigung für diesen Fehler!"
Ich habe sie um den Wortlaut der neuen Textpassage gebeten, die ich nach Eingang hier zitieren werde. +++ Der neue Text der zweiten Auflage liegt mir nun vor. Der Satz lautet jetzt nach Angabe des S. Fischer Verlags so:
»(...) Leila war dabei gewesen, als christlich-libanesische Phalange-Milizen das Massaker von Sabra und Schatila mit Billigung der israelischen Armee verübten. Zwei ihrer fünf Brüder wurden auf offener Straße hingerichtet. (...)«
Na ja, völlig im
grünen Bereich würde der Satz wohl anders klingen, aus dem
roten ist er jedenfalls raus. Warum sieht es dennoch nach
tief Gelb aus? Erstens natürlich wegen des "mit Billigung der israelischen Armee". Würden wir für die entsprechenden nationalsozialistischen Verbrechen sagen, sie seien "mit Billigung der deutschen Bevölkerung" geschehen? Wir würden wohl vom "Wegsehen" sprechen. Die Massaker in den Flüchtlingslagern wurden ja gerade deshalb am Ende
von der israelischen Armee unterbunden, nachdem einzelne israelische Soldaten nicht länger wegsehen mochten und Druck auf ihre Vorgesetzen ausgeübt hatten. Ein
Mit-Leiden, das in der deutschen Bevölkerung zur Zeit des Nationalsozialismus wenig verbreitet war, woran uns dieser Tage der Film
Der Vorleser noch einmal mit beklemmenden Szenen aus dem Auschwitz-Prozess erinnert.
Und nun zum
zweiten unbefriedigenden Punkt der Korrektur. Haben Sie den Unterschied zwischen Aktiv und Passiv bemerkt? Alte Fassung, aktiv: "als israelische Soldaten bei einem Massaker [...] zwei ihrer fünf Brüder auf offener Straße hinrichteten". Neue Fassung, im Anschluss an "mit Billigung der israelischen Armee", passiv: "Zwei ihrer fünf Brüder wurden auf offener Straße hingerichtet." Wurden hingerichtet, von wem? Eine redliche Korrektur hätte gelautet: "Die Milizionäre richteten zwei ihrer fünf Brüder auf offener Straße hin." Ein klarer Fall für den Aktiv.
Wieso werde ich den Verdacht nicht los, dass der
"Fehler", für den sich S. Fischer entschuldigt,
systemisch ist, um ein neues Modewort zu erproben, und
auf die "Korrektur" abfärbt. Rund sechzig Prozent der Deutschen halten Israel für die größte Gefahr für den Weltfrieden, wie eine lange unter Verschluss gehaltene EU-Studie vor zwei oder drei Jahren ermittelt hatte. Und es gibt seit 9/11 einen wachsenden muslimischen Antisemitismus, der im November Gegenstand einer
Tagung an der TU Berlin war oder hätte sein sollen, an der ich teilnahm. Kann es sein, dass diese beiden Tendenzen so wirkmächtig sind, dass sich Autorin und Lektorat ihnen weder in der ersten noch in der zweiten Auflage völlig zu entziehen vermochten?
Ich habe den Eindruck, seitens des S. Fischer Verlags wird dem "Fehler" keine große Bedeutung beigemessen, zumal er ja "korrigiert" ist. Es liegt mir fern, den Lapsus skandalisieren zu wollen, dazu ist Güner Balcis "Arabboy" ein viel zu wichtiges Buch zur richtigen Zeit. Aber die erste Auflage mit angeblichen israelischen Gräueltaten hat sich ja nicht in Luft aufgelöst. Sie liegt zu hunderten Exemplaren in unseren öffentlichen Bibliotheken, genauer liegt sie dort nicht, sondern die 42 theoretisch verfügbaren Exemplare sind in Berlin dauernd ausgeliehen und oft nur auf Vorbestellung zu haben.
Wenn Autohersteller Fahrzeuge mit Mängeln ausgeliefert haben, rufen sie diese Wagen bei Bekanntwerden des Mangels sofort zurück. Da wird gar nicht diskutiert. Die Werkstätten beheben den Mangel auf Kosten des Herstellers.
Warum geht es einem mangelhaften Buch im Vergleich mit einem mangelhaften Auto so schlecht? Und das Buch wird obendrein noch mit ermäßigten 7 % Umsatzsteuer und durch Buchpreisbindung als Kulturgut vom Staat gleich doppelt gepämpert.
Armes Buch, wärst du doch ein Auto.
Dann müsste ich mich nicht wie heute nachmittag geschehen von einer patzigen Mitarbeiterin belehren lassen, "solche Diskussion" führe man in einer (ihrer) öffentlichen Bibliothek nicht. "Solche Diskussion" hatte ich bei der Rückgabe des "Arabboy" ausgelöst mit der Überlegung, ob es nicht besser wäre, statt der ersten künftig die zweite Auflage zu verleihen. Die Vorstellung, dass vor allem in
Berlin-Neukölln, der Hochburg des neuen muslimischen Antisemitismus
und der Arabboy-Ausleiher ("Keine verfügbaren Exemplare, Vormerkung möglich"), das Buch in erster, unkorrigierter Fassung durch hunderte von Händen wandert, macht mich unruhig. Ich spüre, wie es auf Seite 27 in hunderten von Hirnen rumort: Aha, und wer ist wieder mal an allem Schuld? Na klar, die Juden. Sonst wären die doch gar nicht hier, die Araber.
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NACHTRAG
Bei Hugendubel am Tauentzien Ecke Rankestraße stehen
am 8. April genau 8 Exemplare des Arabboy im Regal: 5 Exemplare der zweiten Auflage und 3 der ersten. Wer hier danebengreift, nimmt die Mär vom mörderischen Juden nach Haus. Das ist nicht gut. Wären die Herstellung und die Verbreitung von Büchern in Deutschland nicht von Staats wegen durch Buchpreisbindung und Umsatzsteuerbegünstigung reguliert, läge ein klarer Fall von Marktversagen vor. Im deutschen Buchwesen hat sich die Marktwirtschaft jedoch nie völlig gegen die Restposten nationalsozialistischer Staatswirtschaft durchsetzen können. Wie die Dinge liegen, ist mit der
causa Arabboy ein weiterer Fall von
Staatsversagen zu beklagen. Dass die Sozialdemokraten nun auch einen Teil der Autoindustrie unter Kuratel stellen wollen, verheißt nichts Gutes. Am Ende wird man sagen: Armes Auto, jetzt gehts dir wie 'nem Buch. Du hast Mängel? Da pfeifen sie drauf.