Mittwoch, 23. Dezember 2020

Dezember 2020: Das Verbrauchermagazin Guter Rat feiert 75. Geburtstag

Für mich ein Doppel-Jubiläum: Vor 30 Jahren, im Dezember 1990, wurde ich Chefredakteur dieser ältesten deutschen Zeitschrift.


Titelbilder aus 75 Jahren: Als erstes oben links der Antrag vom 21.11.1945 mit sowjetischem Genehmigungsstempel, die Zeitschrift Guter Rat für Haus und Kleid vierteljährlich in einer Auflage von 250.000 Exemplaren zu verlegen, daneben die Nummer 1 für 70 Pfennige. Rechts in der oberen Reihe eine Ausgabe von Guter Rat in den Händen von Henry Hübchen in der Rolle des Hotte Ehrenreich in dem Film Sonnenallee von 1999. Der Film spielt in den 1970er Jahren.
Untere Reihe: Später erschien das Blatt unter dem Namen Guter Rat für heute und morgen im Magazinformat, dann nur noch als guter Rat und schließlich in meinen Jahren als Chefredakteur 1990 bis 1998 mit Ausrufezeichen: Guter Rat!

Es war vor 30 Jahren, im Dezember 1990, da übernahm ich die Chefredaktion von Guter Rat, einem der damals zahlreichen DDR-Magazine, deren Verlag im Verlauf des Jahres 1990 im Zuge der Wiedervereinigung von einem Westverlag gekauft worden war. Guter Rat gehörte neben der Frauenzeitschrift Sibylle zum Portfolio des Leipziger Verlags für die Frau, den die Nürnberger Gong-Sebaldus Verlagsgruppe erworben hatte. Die Nürnberger kooperierten in der Zeit mit dem Münchener Burda Verlag, der mich von meiner Tätigkeit für sein Wirtschaftsmagazin Forbes freistellte, damit ich nach Berlin zurückkehren und die Leitung des Verbrauchermagazins Guter Rat übernehmen konnte.

Das war eine kluge Entscheidung; denn unter den vielen Westdeutschen, damals „Wessis“ genannt, die ein DDR-Magazin übernahmen, war ich – zwar durch meinen Job bei Burda bedingt auch aus Westdeutschland, nämlich München, kommend – der einzige gebürtige West-Berliner und, wie sich bald erweisen sollte, auch der einzige Westler mit Ostkompetenz. Nicht nur, weil ein Teil der Bieling-Familie in Ost-Berlin und Umgebung lebte und mir bei Besuchen die Sinnlosigkeit des Sozialismus ein aufs andere Mal vor Augen geführt hatte; auch in meiner Zeit beim West-Berliner Stadtmagazin Zitty in den 1980er-Jahren hatte ich vielerlei Kontakte nach drüben, darunter einige aus dem Kreis der Prenzlauer-Berg-Szene, die tief in die Seele der vom SED-Staat schikanierten DDR-Bürger blicken ließen.

Die Westdeutschen hingegen, damals bald „Besserwessis“ genannt, die als Chefredakteure nun einstige DDR-Blätter führten, hatten vom Osten keine Ahnung und fuhren ihre Monatsmagazine und Wochenzeitschriften alsbald an die Wand. So kam es, dass Guter Rat als einzige Zeitschrift von wirtschaftlicher Bedeutung die Wiedervereinigung überlebte, neue Leser und Anzeigenkunden hinzugewann und als Verbrauchermagazin alsbald das Wirtschaftsmedium mit der größten Reichweite in Deutschland wurde. Daraufhin war der Verlag im Jahr 1997 bereit, Guter Rat auch in den Alten Bundesländern einzuführen. So kam es, dass es Guter Rat als einzige Zeitschrift von wirtschaftlicher Bedeutung schaffte, ein gesamtdeutsches Magazin zu werden – und es zu bleiben.


Drei der Redakteure, die ich in den Jahren 1990 bis 1998 für Guter Rat gewonnen hatte, arbeiten 2020 noch für das Blatt, zwei von Ihnen sehen Sie rechts im Bild: Bernd Adam (oben) und Gunnar Döbberthin.

Auch 30 Jahre nach dem Beginn meines Wirkens für Guter Rat existiert die Zeitschrift noch, gehört seit 2002 zum Burda Verlag, der mich einst als Chefredakteur entsandt hatte, und beschäftig noch drei der Redakteure, die ich in den Jahren 1990 bis 1998 für das Blatt gewonnen hatte. Heute hat Guter Rat eine verkaufte Auflage von immer noch fast 100.000 Exemplaren (laut IVW-Meldung fürs 3. Quartal 2020) und feiert mit der aktuellen Ausgabe vom Dezember 2020 seinen 75. Geburtstag. Guter Rat ist nämlich nicht nur das einzige überlebende DDR-Magazin von wirtschaftlicher Bedeutung (es gibt Nischenprodukte wie Das Magazin, das die DDR ebenfalls überlebt hat), es ist das älteste heute noch existierende Magazin Deutschlands überhaupt.

Das Logo zum Jubiläum 75 Jahre Guter Rat im Dezember 2020.


Unter dem anfänglichen Namen Guter Rat für Haus und Kleid, später Guter Rat für heute und morgen erschien die von der sowjetischen Besatzungsmacht lizensierte Publikation erstmals im November 1945 im Leipziger Verlag Otto Beyer, dem bereits im Sommer 1946 verstaatlichten und sogleich umbenannten späteren Verlag für die Frau. Die Ausgabe 12/2020 würdigt dann auch im Dezember 2020 den 75. Geburtstag von Guter Rat mit einem Artikel, in dem einer meiner Nachfolger über die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung, die frühen 1990er-Jahre, schreibt:

„Guter Rat ist in diesen Jahren etwas Einzigartiges gelungen. Ein Magazin, an das niemand mehr so recht glauben wollte, ist zu einem Vorreiter des anspruchsvollen Verbraucherjournalismus geworden. Guter Rat hat die Fragen der Zeit aufgegriffen, und es gab viele. Denn das Leben ist sehr komplex geworden. Nicht nur, wenn es um die Orientierung im Konsumdschungel geht. Die wachsende Eigenverantwortung stellt die Menschen vor existenzielle Fragen (...) Mit der Wende wurde Guter Rat das meistverkaufte Wirtschaftsmagazin Deutschlands.“ (Seite 37)

Dieses Kompliment nehme ich auch persönlich – es gilt dem damals einzigen Westler mit Ostkompetenz und einer Ostredaktion mit Westehrgeiz: Die anfangs überwiegend älteren Kolleginnen wollten es noch einmal wissen und waren ohne zu zögern bereit, gleich Anfang 1991 von ihren mechanischen Schreibmaschinen aus DDR-Zeiten auf den Apple Macintosh umzusteigen und die nach Forbes von Burda, wo ich 1989 den Mac kennen- und schätzen gelernt hatte, zweite rein digital erstellte Zeitschrift in Deutschland zu machen. Ein riesen Kompliment auch an die neu hinzugekommene Grafik, die mit Begeisterung das Layoutprogramm QuarkXPress für Apple Macintosh erlernte und Guter Rat schon im Frühjahr 1991 komplett digital umbrach. Ein halbes Jahr nach der Wiedervereinigung war Deutschlands ältestes Magazin sein mondernstes!


Auf den Seiten 34 und 35 präsentiert die Ausgabe 12 vom Dezember 2020 eine Doppelseite „Guter Rat in Zahlen und Fakten“ wie diesen: „Guter Rat-Leser sind treu: 52 Prozent aller Abonnenten beziehen Guter Rat bereits seit 10 Jahren oder länger“ und „730 000 Menschen lesen durchschnittlich eine Ausgabe“. Der obige Ausschnitt der Doppelseite zeigt weitere Zahlen und Fakten.


Mit Stolz und Wehmut erinnere ich mich an ein Ost-West-Team, das den Ball von 1990 so routiniert aufnahm, alle Chancen der Wiedervereinigung nutzte und gleich zwei einzigartige Tore schoss: als einzige Zeitschrift von wirtschaftlicher Bedeutung die Wiedervereinigung zu überleben und als einzige Zeitschrift von wirtschaftlicher Bedeutung ein gesamtdeutsches Magazin zu werden. Und es war dieses fabelhafte Ost-West-Team, das die beiden Tore schoss:
> die schon lange vor meiner Zeit bei Guter Rat tätigen Redakteurinnen Charlotte Schröder, Annelies Tuchtenhagen, Georgia Förster und Ingrid Krüger, die Bildredakteurin Helga Herzog und die beiden Sekretärinnen Renate Zibell und Regina Drescher – seit Sommer 1990 bereits angeleitet von der Burda-Gesandten Elisabeth Bär;
> die neu hinzugekommenen Grafikerinnen Anke Baltzer und Niccola Wenske, die Grafiker Erhard Bellot, Peter Hoffmann und der vor einem Jahr am 27. Dezember 2019 verstorbene Gerhard Schmidt – sie ersetzten nach und nach ihren Kollegen Siegmar Förster, der als freiberuflicher Designer bis 1989 jahrelang das Erscheinungsbild der Zeitschrift geprägt und noch den neuen Titelschriftzug Guter Rat! (mit Ausrufezeichen) gestaltet hatte;
> die nach 1990 hinzugestoßenen Redakteurinnen Heike Gerbig, Kerstin Backofen, Alrun Jappe, Ilona Hermann, Sophie Neuberg, Sonja Kastilan, Henrike Hoffmann (als Schülerpraktikantin) und die Korrektorin Erika Kähler, die Redakteure Werner Sündram, Pierre Boom und Bernd Adam, später noch Karl-Heinz Twele, Rolf Fischer, Martin Braun, Thilo Ries und Gunnar Döbberthin. Die beiden Letztgenannten sowie Bernd Adam und die Grafikerin Niccola Wenske arbeiten noch heute, Stand Dezember 2020, bei Guter Rat.

Guter Rat Nummer 12 vom Dezember 2020: Die Jubiläumsausgabe widmet die Seiten 34 bis 37 dem 75. Geburtstag. Alle obigen Abbildungen sind diesen Seiten entnommen.

Und hier geht es zur heutigen Website von Guter Rat.

Nachtrag vom 15. Januar 2021: Ich danke allen, die zu diesem Doppeljubiläum gratuliert und mir Anregungen und Ergänzungen, die inzwischen in den obigen Text eingeflossen sind, mitgeteilt haben, namentlich Bernd Adam, Heike Gerbig, Werner Sündram, Sophie Neuberg und Erhard Bellot; außerdem Siegmar Förster (siehe Nachtrag vom 18. Januar 2021).
Beim Stöbern in der Vergangenheit bin ich noch auf einen Artikel von mir aus dem Jahr 2009 gestoßen, in dem Guter Rat den Dreh- und Angelpunkt einer Betrachtung deutscher Zustände bildet. Die Tageszeitung Die Welt veröffentlichte den Text am 2. Oktober 2009 zum Tag der Deutschen Einheit. In deren Webarchiv ist der Meinungsbeitrag unter seiner Originalüberschrift Die DDR lebt virtuell weiter online verfügbar. Lesedauer: 8 Minuten.

Nachtrag vom 18. Januar 2021. Siegmar Förster ergänzt die Geschichte von Guter Rat in einer Email vom 16. Januar 2021 mit der Schilderung dieser Begebenheit zu Endzeiten der DDR:

Was Sie vielleicht nicht wussten: In der Endphase der DDR, als die Ressourcen immer knapper wurden, gab es im Verlag für die Frau die Überlegung, die Magazine Sibylle, Saison und Guter Rat zu einem Magazin mit dem Titel »Marlene« (wg. Modeikone Dietrich) zusammenzufassen. Ich war dazu im Verlag in Leipzig, um mit einem Stapel Vogue, Elle und anderen Heften (zum Ausschlachten) bepackt, nach Berlin zurückzufahren und daraus ein Dummy (damals noch mit Pappe und Gummilösung) zu basteln. Aus meinem Entwurf wurde dann (leider! – Gottseidank!) nichts, weil der Mauerfall dazwischenkam.“

Alle Abbildungen © Guter Rat

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