Donnerstag, 7. Mai 2009

Learning by Movie


Das Jüdische Film Festival Berlin, kurz JFFB, ist in diesem Jahr besonders gelungenen. Das kommt sicher daher, dass etliche ungemein gute Filme zur Verfügung standen - und dass Festivalleiterin Nicola Galliner beherzt zugegriffen hat. So war der heutige vierte Festivaltag im Arsenal am Potsdamer Platz (die Abbildung rechts zeigt zeigt die Kinokasse im Untergeschoss des Filmhauses im Sony Center mit dem punktgesichtigen Festivalplakat [lässt sich durch Anklicken vergrößern] rechts unten am Tresen) mit gleich zwei Spitzenfilmen wieder außerordentlich ergiebig. Ich habe beide mit Gewinn gesehen. Um 18 Uhr The Wedding Song, um 20 Uhr The Gift To Stalin, beide mit Verspätung gestartet (es war richtig voll heute, erfreulicherweise, nach einem etwas verhaltenen Auftakt am Wochenbeginn - das Festival dauert im Arsenal laut Programm noch bis 14. Mai). Nachsatz: Mittlerweile ist es vorbei, aber hier gibt es ein paar Erinnerungsbilder und Eindrücke.

The Wedding Song (der Originaltitel Le chant des mariées, zu Deutsch Der Gesang der Bräute, bringt den Inhalt besser auf den Punkt als es der eingedeutschte englische Titel Das Hochzeitslied täte), ist eine französisch-tunesische Koproduktion von 2008. Die Regisseurin Karin Albou hat schon vor drei Jahren, 2006, eine als Spielfilm dargereichte Ethnostudie auf dem JFFB präsentiert, La petite Jérusalem (Little Jerusalem) von 2005, die unter dem Titel Mein kleines Jerusalem zuletzt am 4. Mai 2009 auf arte lief. Die beiden Spielfilme der aus einer Familie algerischer Sephardim stammenden Französin Karin Albou behandeln das gleiche Thema: die schwierige, aber mögliche Beziehung zwischen Menschen (es sind jeweils Tunesier) aus sephardisch-jüdischem und maghrebinisch-muslimischem Milieu. War der Maghreb in Little Jerusalem nach Paris in die Vorstadt der Jetztzeit verpflanzt, so geht The Wedding Song zurück an einen Originalschauplatz der Vergangenheit, in das Tunis der Kriegszeit.

Nun ist Tunesien nicht irgendein Land in Afrika, Tunesien ist Afrika und war es mal ganz allein. Das heutige Tunesien trug von 146 vor unserer Zeit bis ins Jahr 698 (mit Unterbrechungen) den römischen Provinznamen Africa, der erst später auf den ganzen Kontinent übertragen wurde (seit dem vierten Jahrhundert war Africa eine der zwölf Diözesen, "Verwaltungen", des Reiches). Zuvor war die Provinz/Diözese fast acht Jahrhunderte lang das Staatsgebiet Karthagos, einer ursprüngliche phönizischen Kolonie, die sich - wie Jahrtausende später die Vereinigten Staaten - vom Mutterland abgenabelt hatte und erst in einem langwierigen Kampf um die imperiale Vorherrschaft im westlichen Mittelmeer vom Römischen Reich zerstört worden war. Und nach den Römern waren die Araber eingefallen, seit den 630er Jahren die neue Imperialmacht am südlichen Mittelmeerrand. Die Araber waren gekommen, um zu bleiben. Mit nachhaltigem Erfolg, bis heute (mit Unterbrechungen) steht Tunesien, das alte Africa, unter der Herrschaft des Islam.

The Wedding Song öffnet ein Zeitfenster, das uns in eine der vielen für den Einzelnen schicksalhaften Episoden der dreitausendjährigen Geschichte Tunesiens blicken lässt. Es ist das Jahr 1942. Der Zweite Weltkrieg erreicht Tunis, seit 1881 französische Kolonie, seit 1940 (Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich und Teilung des Landes in ein deutsches Besatzungsgebiet und einen französischen Reststaat namens État français, das sogenannte Vichy-Regime) von französischen Behörden regiert, die als verlängerter Arm der Vichy-Regierung operieren. Das ist wörtlich gemeint. Die Operation zielt auf das Herausschneiden des jüdischen Krebsgeschwürs aus dem gesunden arabischen Volkskörper, um es in der Sprache der Nationalsozialisten auszudrücken. Im November 1942 besetzen deutsche Truppen Tunesien, die Wehrmacht übernimmt das Kommando. Die französischen Behörden gehen von der stillschweigenden Kooperation zur offenen Kollaboration über. Sie machen sich das Anliegen der Wannseekonferenz vom Januar 1942 zu eigen: Endlösung der Judenfrage - nun auch in Tunesien.

Die Fusion von nationalsozialistischem und muslimischem Antiseminitismus geht auf diese Zeit zurück. Karin Albou deutet das in ihrem Film nur sehr dezent an. Da hängt in einer kurzen Sequenz ein Foto des Großmuftis von Jerusalem an der Wand seiner tunesischen Verehrer. Für Moslems gilt die Fatwa eines Muftis ohnehin mehr als für Christen eine Enzyklika des Papstes. Der Großmufti aber, Mohammed Amin al-Husseini sein Name, hatte in der islamischen Welt eine herausgehobene Stellung - und ein Büro im nationalsozialistischen Berlin. Wikipedia berichtet:
Er traf Joachim von Ribbentrop und wurde offiziell von Hitler am 28. November 1941 in Berlin empfangen. Nazi-Deutschland richtete dem „Großmufti von Jerusalem“ ein Büro in Berlin ein, in dem ihm großzügige Geldmittel sowie ein umfangreicher Mitarbeiterstab zur Verfügung standen. Hier organisierte er Radiopropaganda für Deutschland, Spionage und Zersetzung in den islamischen Regionen Europas und des Nahen Ostens. [...] Nach dem Sieg der Alliierten bei el-Alamein rief er zum Dschihad
gegen die Juden: „Ich erkläre einen heiligen Krieg, meine Brüder im Islam! Tötet die Juden! Tötet sie alle!“
Mohammed Amin al-Husseini floh nach dem für ihn verlorenen Krieg mit zahlreichen nationalsozialistischen Gesinnungsgenossen nach Ägypten, wo sie Asyl erhielten. Da Ägypten seinerzeit den Gazastreifen besaß, konnte al-Husseini dort in seiner Eigenschaft als Großmufti von Jerusalem am 22. September 1948 eine Arabische Regierung für ganz Palästina ausrufen, die von etlichen muslimischen Regierungen anerkannt und erst 1959 von der Patronatsmacht Ägypten wieder aufgelöst wurde. al-Husseini war nicht nur ein entfernter Verwandter von Jassir Arafat, sondern auch dessen politischer Mentor. Arafat und die PLO, die heute die Autonomiebehörde des Westjordanlandes beherrscht, haben al-Husseini (gestorben 1974 in Beirut) stets, noch 2002, als unseren Helden verehrt. (Wer also bloß Hamas, Hisbollah und die Islamische Republik Iran für eine totalitäre Bedrohung des Nahostfriedens hält, springt erkennbar zu kurz.)

The Wedding Song ist ein Liebeslied, das uns das Lied vom Tod spielt. Aber der Tod summt dunkel und leise im Hintergrund. Im Vordergrund klingt hell und laut der Gesang vom Liebesleid der beiden Bräute, und alles, was ich bisher festgehalten habe, ist Learning by Movie, nicht das Movie selbst. Das ist wirklich große Kunst: Der Schrecken der Zeit, der Bombenwinter von 1942, die Kollaboration bei der Endlösung, Tunis am Vorabend der Schlacht um Tunesien (Frühjahr 1943 - der Wüstenfuchs der Wehrmacht, Erwin Rommel, gegen Eisenhower und Montgomery) - all das ist die Folie, die es braucht, um eine Geschichte zu erzählen, um eine Handvoll Einzelschicksale ins Bild zu rücken. Und hier findet, nein schafft Karin Albou Bilder von einer Offenheit, wie ich sie noch nie im Kino gesehen habe. Das war überwältigend. Chapeau!

Ein Satz noch über The Gift To Stalin. Dieser zweite Film des Abends war genauso gut, absolut sehenswert und nicht minder lehrreich. Eine Erkenntnis habe ich dazugewonnen und möchte ich weitergeben: Die Züge, mit denen im Sowjetreich Stalins hundertausende Juden und andere Feinde des realen Sozialismus in den 1940er Jahren in die Arbeitslager Kasachstans deportiert wurden, gleichen den nationalsozialistischen wie ein Ei dem anderen. Es waren Güterzüge, und es starb sich darin wie in den Viehwaggons nach Auschwitz.
 

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