Samstag, 4. September 2010

Gelichter der Großstadt

Lichter der Großstadt: Blick nach Westen am 3.9. um 19.51 Uhr

B like Berlin ist ein sehr anregendes Blog eines alten Bekannten, in dem er zwei Formate erprobt, die mir besonders gut gefallen: täglich ein Schnappschuss mit einem typisch berlinischen Motiv als Foto mit einer kurzen Bildunterschrift dazu (die Aufnahme rechts ist allerdings von mir und zeigt den gestrigen Abendhimmel über dem Potsdamer Platz) und täglich ein Berlin-Zitat, in dem sich Menschen aller Art über ihre Stadt äußern. Eine solche Meinungsäußerung hat heute mein Missbehagen ausgelöst. Sie lautet:
Ich kann nur sagen, dass Berlin für mich das macht, was es für viele Künstler macht: Es hat einfach etwas Inspirierendes, in einer Stadt zu leben, wo man den allermeisten Leuten anmerkt, dass es ihnen nicht in erster Linie ums Geldverdienen geht. Man merkt der Stadt an, dass da viele Leute irgendwelchen verschrobenen Träumen nachgehen können.
(Judith Holofernes, deutsche Musikerin und Liedtexterin, Sängerin und Gitarristin von ‘Wir sind Helden’ – aus ‘SZ-Diskothek’, Interview, 24.08.2010)
Einen Stern war mir das das Zitat von Judith Holofernes wert ("very poor") und einen Kommentar, den ich hier zur Kenntnis bringen möchte, weil er etwas Grundsätzliches anspricht: eine Haltung, die mich schon lange an meinen Mitberlinern stört:
Sehr bedauerlich zu lesen, dass die sehr sympathische Sängerin zu jenem Milieu gehört, das der Marktwirtschaft feindselig gegenübersteht. Die Haltung ist leider typisch für Menschen, die ihr Geld mit der angenehmsten aller Arbeiten verdienen, einer selbstgewählten, selbstbestimmten und selbsterfüllenden. Statt dessen wäre es ausgesprochen wünschenswert, wenn es in Berlin mehr Menschen gäbe, denen es in erster Linie ums Geldverdienen geht; denn schon heute leben knapp 20 Prozent aller Hauptstädter von dem Geld, das andere für sie verdienen: eine Umverteilung in großem Stil – und ohne Schamgefühl. Denn die, deren Steuergeld hier konsumiert wird, verrichten in der Regel keine so lustvolle Arbeit wie Judith Holofernes.
Nachtrag: Auf Facebook gibt es ein Echo zu diesem Eintrag; und Tommy Tulip hat in seinem Blog blackbirds.tv mehr Aufschlussreiches über Judith Holofernes' Marktferne beigesteuert. Von einer Künstlerin, die sich in einem Markt mit ausgeprägtem Wettbewerb durchsetzt und die mit ihrer Popmusik in der und durch die Marktwirtschaft gutes Geld verdient, erwarte ich, dass sie die Chancenvielfalt offener Märkte zu würdigen und die Möglichkeiten, viel Geld zu verdienen, zu schätzen weiß - statt Leute hochzujubeln, denen es "nicht in erster Linie ums Geldverdienen geht". Diese Verachtung von Markt- und Geldwirtschaft war und ist Ausgangspunkt aller Ideologien, denen künstlerische Freiheit so schnuppe ist wie jedes andere Persönlichkeitssrecht. (Beachten Sie bitte auch die beiden Kommentare: unten zu klicken.)
   

2 Kommentare:

  1. Langzeit-Berliner/innen ebenso wie Neuzugänge aus der deutschen Provinz simulieren sich offenbar derzeit gern in eine imaginäre 70/80er Jahre-Retro-Version von Berlin (praktischerweise ohne Grenzkontrolle + Ostbrikettstink, dafür mit sanierten Altbauten, Starbucks & Co...)

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  2. Das ist ein guter Gedanke. Zu der virtuellen DDR, über die ich schon in einem früheren Eintrag (vom 6. Oktober 2009: Schöne alte Welt) gesprochen habe, gesellt sich als Parallelwelt ein imaginiertes sexy poor Berlin, das meine Zitty-Jahre prägte und im Rückblick die - das Beste aus den Umständen machende - Schlussphase der Insel West-Berlin war, die 1989 unterging.

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