Mittwoch, 2. Mai 2012

100 Jahre Axel Springer, 45 Jahre »Enteignet Springer«

Martin Walser, Thomas Schmid, Mathias Döpfner am 25. April 2012

Heute wäre der Verleger Axel Springer 100 Jahre alt geworden. Auf die Wiederkehr seines Geburtstags am 2. Mai 1912 stimmte gestern bereits arte mit der Dokumentation Drei Leben: Axel Springer ein. Was es mit den "drei Leben" auf sich hat, verdeutlicht der Untertitel: Es geht um seine Leben als Verleger, Feindbild, Privatmann. Die Sendung wird am 15. Mai auf arte wiederholt und ist sehenswert, weil sie ausgewogen und fair mit einer Figur umgeht, die für viele meiner früheren Freunde immer noch Hassfigur ist: das ewige Feindbild Springer, als wäre die Kampagne »Enteignet Springer« weiter aktuell.

Die gestrige Sternstunde des Fernsehjournalismus ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil ich vor genau einer Woche aus dem selben Anlass zu Gast im Axel Springer Verlag war, wo WELT-Herausgeber Thomas Schmid ein Gespräch zwischen dem jetzigen Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer AG Mathias Döpfner und dem Schriftsteller Martin Walser moderierte (Foto, aufgenommen im Journalisten-Club des Axel Springer Verlags, lässt sich durch Anklicken vergrößern und näher betrachten), das beklagenswert unergiebig blieb. Und das lag nicht an den beiden Springer-Leuten, sondern an dem einstigen Springer-Gegner Walser, der sich der Auseinandersetzung mit dem Feindbild Springer verweigerte.

Schlimmer noch, Martin Walser verweigerte auch eine Stellungnahme zu der Einlassung von Günter Grass, Israel drohe dem Iran mit Auslöschung und gefährde den Weltfrieden. Dass dieses Thema zur Sprache kommen würde war klar, denn die Solidarität mit Israel war eines der Leitmotive Springers und gilt für sein Verlagshaus bis heute. Zu einer Stellungnahme, ob er die Grass-Äußerung als Hass-Äußerung oder Liebeserklärung empfinde, fühle er sich nicht aufgerufen, erklärte Walser auf dreimaliges Nachfragen. Auch in der Sache selbst habe er sich kein Urteil gebildet. Am Ende verließen die Gäste konsterniert den Saal.

Dem Feindbild Springer war an dem Abend des 25. April nicht beizukommen, die gestrige Fernsehsendung erwies sich hingegen als ergiebig, weil sie das Feindbild mit den Verleger Springer und den Privatmann Springer in einen Dreiklang setzte und einen Ansatzpunkt bot, wie es vor 45 Jahren zu der Kampagne »Enteignet Springer« kommen konnte. Diese Kampagne wurde nach dem tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg vom 2. Juni 1967 von Rudi Dutschke ins Gespräch gebracht, später im Republikanischen Club konkret ausgeheckt und entfaltete im Folgejahr 1968 bei den Osterunruhen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke ihre größte Wirkung.

»Enteignet Springer« war eine Reaktion der Außerparlamentarischen Opposition (APO) auf die außerordentlich feindselige Berichterstattung der Springer-Zeitungen über die Studentenbewegung. Axel Springer sah hier eine fünfte Kolonne der DDR am Werk, die ihm so verhasst war wie die DDR selbst (bei ihm "DDR"). Im Nachhinein wissen wir, dass die Staatssicherheit der DDR und deren Inoffizielle Mitarbeiter im Westen tatsächlich kräftig mitmischten und negativen Einfluss ausübten, aber die überwiegende Mehrheit der 1967 und 1968 über Springer Empörten waren Leute wie ich, die die DDR zeitlebens verabscheuten. (Meine unlängst zugestellte Stasi-Akte bescheinigt mir durchgängig Feindseligkeit gegenüber der DDR – was für eine Genugtuung!)

Die einseitige Wahrnehmung der Protestbewegung von 1968 und Springers Unverständnis gegenüber der Neuen Ostpolitik von Willy Brandt seit 1969, die er als Kapitulation vor der DDR und ihrem Großen Bruder, der Sowjetunion, missverstand, sind ein zusammenhängendes Fehlurteilspaar, das sich politisch nur schwer erklären lässt. Die arte-Dokumentation gibt hier Aufschluss, indem sie auch den Privatmann Springer beleuchtet: der hatte 1957 ein religiöses Erweckungserlebnis und blieb fortan von christlichem Eifer beseelt. Das sind Indizien, dass wir es bei Axel Springer nicht mit einem homo politicus zu tun haben, der mit kühlem Kopf analysiert, sondern mit einem Gefühlsmenschen, der mit Leib und Seele die Hitze des Gefechts sucht – und findet (und sich dabei die Finger verbrennt und dann auch darunter leidet).

100 Jahre Axel Springer, 45 Jahre »Enteignet Springer« sind ein guter Anlass, über eine dramatische Fehlentwicklung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nachzudenken. Falsche Urteile und schlechte Entscheidungen der Jahre 1967 bis 1969 – auf Seiten des Establishments und auf Seiten der APO – haben direkt in das hochideologisierte Jahrzehnt der 1970er Jahre geführt, das bei vielen Über-60-Jährigen, einigen Jüngeren und manchen älteren Teilnehmern weiter unverdaut in den Köpfen spukt. Der Abend mit Martin Walser hat daran auf ernüchternde Weise erinnert. Das sollte ein Ansporn sein, Vergangenheit und Gegenwart des Feindbilds Springer nicht als intellekuell unbewältigt stehen zu lassen.