Mittwoch, 4. Juli 2012

Topographie des Terrors wird 25 oder Wozu erinnern?


Topographie des Terrors im Morgenlicht des 29. Juni 2012.
Unter der Überschrift Von Deutschland lernen heißt, erinnern lernen veröffentlicht WELT ONLINE heute meine Laudatio auf die Topographie des Terrors. Diese Einrichtung der Erinnerungsarbeit begeht am heutigen 4. Juli ihr 25-jähriges Jubiläum. Seit zwei Jahren hat sie ihr neues, festes Domizil auf dem Gelände des früheren Reichsicherheitshauptamtes an der Berliner Wilhelmstraße (Foto, Mitte). Von diesen zwei Jahren handelt der WELT-Beitrag.

Meine Laudatio ist ein Jubellied mit Molltönen. Das kommt daher, dass ich mir die Frage stelle: Wozu erinnern? Die Antworten führen geradewegs in unsere Gegenwart und sogleich zeigt sich: In Gegenwart des Geländes der Topographie wird eine Vergangenheit ge- und verehrt, die so gar nicht zum Anliegen dieser Einrichtung passen will: durch Erinnern zu erkennen helfen, was unsere Rechte und Freiheiten vermehrt – und wer oder was sie mindern oder beseitigen könnte. Hier geht's zum Text.

Nachtrag von Freitag, dem 13. Juli 2012. Der Beitrag hat, wie zu erwarten war, ein gemischtes Echo hervorgerufen. Zwei Emaildialoge, die ich im Anschluss an die Veröffentlichung geführt habe, seien hier festgehalten. In meinem Text hatte ich geschrieben: ”Mit den Nachgeschichten des Nationalsozialismus ist aber schwerer umzugehen als mit seiner Geschichte und auch seiner Vorgeschichte. Die Nachgeschichten dauern nämlich noch an.“ Dazu erreichte mich auf Facebook am 8. Juli die folgende Zuschrift:
Nach dem Lesen Ihres Artikels, lieber Herr Dr. Bieling, war ich am Freitag zu einem ersten Besuch im Dokumentationszentrum. So viele Eindrücke, so großes Erschrecken, dass ich nach einer Stunde abbrach, aber nur, um demnächst wiederzukommen.

Indirekt selbst betroffen durch meinen Vater (SS Leibstandarte), recherchiere ich seine Geschichte, da er mir nur in Andeutungen und stark geschönt von dieser Zeit erzählt hat. Ganz herzlichen Dank fürs "Aufrütteln".
Ich antwortete mit einer grundsätzlichen Bemerkung über Schuld und Verantwortung:
Das finde ich gut, dass Sie meinen Beitrag als Anstoß empfunden und zum Anlass genommen haben, sich in die Topographie zu wagen. Die SS-Leibstandarte Adolf Hitler war dem Führer so nah wie kein zweiter Verband. Da muss einer schon guter Märchenerzähler sein, um sein Engagement, das aus tiefster nationalsozialistischer Überzeugung gespeist sein musste, schönzureden.
Das braucht, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, bei Ihnen keine Schuldgefühle auszulösen. Schuld kann nur ein Individuum auf sich laden, auch eine Gruppe von Individuen, die gemeinsam Verbrechen begeht. Aber schon eine Kollektivschuld der – zeitgenössischen, damaligen – deutschen Bevölkerung kann es nicht geben. Vielmehr traten nach 1945 auch die Unschuldigen in eine Haftungsgemeinschaft für die von 1939 bis 1945 begangenen Verbrechen ein. Es war eine deutsche Schuld, weil diese Verbrechen im Namen des deutschen Volkes begangen worden waren, aber keine Schuld der Deutschen.
Diese Haftungsgemeinschaft ist unauflösbar. Wir heutigen Deutschen haben keine Schuld an den Verbrechen, aber wir tragen an der Schuld der Damaligen, der Väter und Großväter. Deren Schuld bleibt, sie wird nie getilgt, und es ist unsere Verantwortung, uns dieser deutschen Schuld zu stellen. Wir Heutigen tragen die Verantwortung für die Erinnerung an diese Vergangenheit, und wir sind gut, wenn uns dieses Erinnern ohne Beschönigen und Verharmlosen gelingt. Wir sind besser, wenn wir übers Erinnern hinaus erkennen, das das Totalitäre im Nationalsozialismus einem Dreischritt von Anmaßung, Unterwerfung, Enteignung folgte, dem wir heute in anderen totalitären Bewegungen weiterhin begegnen, vor denen wir auf der Hut sein müssen.
Die Antwort kam gestern:
Danke für Ihre Rückmeldung. Schuldgefühle habe ich deshalb keine. Aber ich will Klarheit darüber, was damals war. Meine Vermutung ist die, dass mein Vater an Gräueltaten am Katarapass beteiligt war. Dem gehe ich gerade nach.

Da er wußte, dass ich mich in Griechenland gut auskenne, fragte er mich, ob ich den Pass kenne. Ich dachte mir nie etwas dabei. Bei einer meiner Fahrten fotografierte ich das Schild und schickte ihm das Foto. Dann wollte ich natürlich auch wissen, was es mit dem Katarapass auf sich hat. Er sagte nur vage, er sei im Krieg da gewesen. Und dann las ich eines Tages von den Gräueltaten dort. Nun suche ich nach Spuren, die meine Vermutung bestätigen, dass er u.a. auch dort mit daran beteiligt war.
Topographie mit Mauerrest, Wilhelmstraße Ecke Niederkirchnerstraße.
Der zweite Emaildialog bestätigt eine Feststellung, die ich in meinem Text getroffen hatte: ”Sich mit den Nachgeschichten des Nationalsozialismus zu befassen, führt geradewegs in einen unerfreulichen Plural im Präsens.“ Das belegen die folgende Zuschrift und der anschließende Dialog vom 12. Juli:
Was soll ich dazu sagen? Da ich gerade selbst ein über 600seitiges Buch auf Englisch geschrieben habe und mich recht gut mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus auskenne und vor allem das Versagen der deutschen, aber auch internationalen gegenwärtigen Forschung kenne, ist Ihr Beitrag wissenschaftlich obsolet, ja grotesk. Doch das ist nicht das Schlimmste:

Woher kommt Ihr Hass auf die Niederkirchner-Straße, die nach einer Frau benannt ist, die von der SS im KZ Ravensbrück erschossen wurde?


Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion wünschte sich Käthe Niederkirchner, selbst am Kampf gegen den Faschismus teilzunehmen. Deswegen meldete sie sich bei der Roten Armee. Sie bereitete sich intensiv auf eine illegale Untergrundarbeit in Deutschland vor. Am 7. Oktober 1943 sprang sie gemeinsam mit Theodor Winter aus einem sowjetischen Flugzeug über dem von Deutschland besetzten Polen ab. Gemeinsam sollten sie in Berlin Kontakt mit mehreren illegalen Gruppen aufnehmen, wurden aber auf dem Weg dorthin entdeckt, von der Gestapo verhaftet und unter Folter verhört. Ohne ein Gerichtsverfahren wurde sie nacheinander in verschiedenen Gefängnissen inhaftiert und schließlich Ende Mai 1944 in das Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt, wo sie in Isolationshaft genommen wurde. In dieser Zeit fertigte sie geheime Tagebuchaufzeichnungen an, die erhalten geblieben sind.
In der Nacht vom 27. zum 28. September 1944 wurde Käthe Niederkirchner von Angehörigen der SS erschossen.
Meine Antwort ging so:
Nein, von Hass kann keine Rede sein. Ich teile Ihr Mitgefühl mit den Menschen, die von Nationalsozialisten gedemütigt, verletzt, zerstört, enteignet, vertrieben, gefoltert oder ermordet wurden. Dieses Mitgefühl gilt auch Käthe Niederkirchner.

Ich folge allerdings nicht der
totalitären Logik der Nationalsozialisten, die alle gleich macht: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Aus der Sicht des nationalsozialistischen Kollektivs sind alle, die sich der Gleichschaltung widersetzen, gleich: Systemfeinde. Nationalsozialisten machen keinen Unterschied, ob der Systemfeind auf Wiederherstellung der zerstörten Demokratie oder auf Ersetzung der nationalsozialistischen durch die realsozialistische Diktatur aus ist.

Aus gutem Grund
folge ich nicht der nationalsozialistischen Logik. Ich erkenne den Unterschied zwischen einem Menschen, der sich der Diktatur widersetzt hat, um den Rechten und Freiheiten des Einzelnen wieder Geltung zu verschaffen, wie es Elisabeth Schmitz getan hat. Und einem Menschen, der sich der Diktatur widersetzt hat, um die Diktatur eines anderen, konkurrierenden Kollektivs zu erreichen, wie es Käthe Niederkirchner getan hat.

Mit der Namensgebung Niederkirchnerstraße hat die DDR-Führung eine
Märtyrerin der Diktatur geehrt, wie ich geschrieben habe. Das missfällt mir. Das Unrecht, dass ihr durch die Nationalsozialisten widerfahren ist, steht mir dabei deutlich vor Augen. Käthe Niederkirchners Ermordung halte ich für eine deutsche Tragödie.
Daraufhin erhielt ich als Antwort:
Ich habe die letzten Wochen und Monate mit einigen Leuten über Renegaten diskutiert: kann es sein dass Sie, der Sie ja früher auch obskur links waren, da nie etwas aufgearbeitet, sondern nur aggressiv abgelegt haben und nun pro-deutsche Propaganda betreiben?

Wenn Sie den Unterschied zwischen dem NS-Deutschland und der Sowjetunion nicht sehen, sind Sie blind. Die einen bauten Auschwitz-Birkenau, die anderen befreiten es. Ich kenne ja - im Gegensatz zu vielen, die darüber reden, ohne zu wissen, um was es geht - die internationale Forschungslage zu dieser Thematik.
Aus Ihrem Text spricht Hass gegen eine von der SS erschossene und zuvor gefolterte Kommunistin.

Und dieser Hass mag auch ein Hass gegen den Rainer Bieling der 1960 und 1970er Jahre sein, als Sie noch kein Renegat waren, aber einer womöglich (wie Posener oder Herzinger) abstrusen Richtung der Neuen Linken angehörten. Doch bitte bearbeiten Sie Ihre eigenen psychischen Probleme (die Sie gar nicht als solche wahrnehmen!) nicht auf Kosten von extrem mutigen Frauen, die im Kampf gegen die elenden Deutschen ermordet wurde.
Geschottert mit Grauwacke: Die Farbe der Topographie.
 Mit diesen Schlussworten beendete ich den Dialog:
Nein, das kann nicht sein.

Nein,
ich war in keiner obskuren Linken, sondern in den vom SDS initiierten Gruppierungen der Neuen Linken, zuletzt im Sozialistischen Büro, in dem am Ende seines Lebens auch Rudi Dutschke wirkte. Unser Marxismus war reflektiert, kenntnisreich und von hoher intellektueller Brillanz.

Nein,
ich habe nicht nie etwas aufgearbeitet, sondern gehöre zu den wenigen meiner Generation, die ganz im Gegenteil genau das getan haben. Als Sie noch ein Schuljunge waren, habe ich bereits eine Analyse der Neuen Linken vorgelegt, die 1988 des zwanzigsten Jahrestages von 1968 gedachte.

Nein,
die Projektion eines Renegaten bringt auch in der Retrospektion nichts; denn nach meinem Buch Die Tränen der Revolution habe ich mich geschlagene 20 Jahre mit der Linken nicht mehr beschäftigt. Sie war ja nach der Implosion des realen Sozialismus mit der DDR wie vom Erdboden verschluckt, ohne dass mir das recht aufgefallen wäre.

Nein,
ich bin nicht blind was den Unterschied zwischen nationalsozialistischen Konzentrationslagern und realsozialistischen Arbeitslagern betrifft und kann auch den Unterschied in der Mortalitätsrate beziffern. Für den Realsozialismus von 1917 bis zu den Killing Fields der späten 1970-er Jahre fällt der Unterschied wenig schmeichelhaft aus.

Nein,
ich habe keine psychischen als vielmehr politische Probleme. Ich habe ein politisches Problem mit totalitären Systemen, die ihre Gegner als psychisch oder geistig krank stempeln, um sie aus dem Kollektiv aussondern und in Sonderbehandlung oder Isolationshaft nehmen zu können. Die realsozialistische Psychologisierung der politischen Gegner der Breschnew-Ära war ihrerseits eine Abmilderung gegenüber der Eliminierung in der Stalin-Ära.

Nein,
alles, was Sie schreiben, ist keine Entgegnung, sondern eine Entgleisung. Sie haben die Spur verloren. Aber sie ist noch da, ich sehe sie vor mir, und lässt sich wiederfinden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen