Donnerstag, 29. November 2012

Die Wandlung der EU zur Europäischen Umverteilungsunion


Ausgabe 112 vom 29. November 2012.
 
Wegen meiner Tätigkeit für den Informations- und Hintergrunddienst DER HAUPTSTADTBRIEF kommen meine Blogeinträge leider zu kurz. Ich bringe der geneigten Leserschaft hier ersatzweise mein Online-Editorial der Ausgabe 112 zur Kenntnis:


Berlin, 29. November 2012. Die Wandlung der EU zur Europäischen Umverteilungsunion soll im Jahr 2013 zu ihrem Abschluss kommen. Mit dem Einfügen des letzten Bausteins, der Bankenunion, wäre das neue Gebäude der Haftungsgemeinschaft komplett: Die Retter könnten künftig auf das gesamte deutsche Volksvermögen zurückgreifen, um strauchelnde Banken in jedem beliebigen Land der Eurozone zu retten.

Wie die Haftungsgemeinschaft in der neuen Europäischen Umverteilungsunion, die weiter unter dem Kürzel EU firmiert, funktionieren wird, lässt sich zum Jahresende 2012 anschaulich im Vorgriff, wenn auch nur im Kleinen verfolgen. Im Kleinen; denn die 44 Milliarden Euro Griechenlandhilfe, um die es in diesen Tagen im Deutschen Bundestag geht, sind nur die sprichwörtlichen Peanuts im Vergleich zu den Beträgen, die auf Deutschlands Steuerzahler und Sparer von 2013 an zukommen werden, würde die Bankenunion tatsächlich Wirklichkeit werden.

Wie die Enteignung und Umverteilung des deutschen Volksvermögens zur Zeit noch unmerklich, schleichend auf Samtpfoten voranschreitet, zeigt der neue HAUPTSTADTBRIEF in mehreren Beiträgen. Ganz aktuell, weil in diesen Tagen vom Bundestag zu entscheiden, lässt sich das bei der Griechenland-Rettung verfolgen.
Unsere Autoren Roland Tichy und Anja Kohl beschreiben und kommentieren die 44 Milliarden Euro teure Beruhigungspille, mit der die Retter die Griechen sedieren wollen. Aber der Schmerz wird nicht nur den Patienten, sondern auch deutsche und andere europäische Steuerzahler überkommen, deren Vermögen der verschreibende Arzt seit April 2010, dem Beginn des verschleppten Staatsbankrotts Griechenlands, völlig unnötig und vertragswidrig zur Behandlung einsetzt.

Wie die Enteignung und Umverteilung des deutschen Volksvermögens von 2013 an im großen Stil vonstatten gehen soll, legt Philipp Bagus in seiner Analyse der geplanten Bankenunion dar: Die Staatsschulden sind nichts gegen die Bankschulden, die so hoch sind, dass sie im Grunde sogar die Haftungsfähigkeit des gesamten deutschen Volksvermögens übersteigen. Gäbe es in Deutschland eine Opposition – diese Bankenunion würde nie Wirklichkeit werden.

Wie die Enteignung und Umverteilung des deutschen Volksvermögens bereits jetzt, im Jahr drei der Euro-Staatsschuldenkrise, im Kleinen funktioniert, so still und leise, dass Otto Normalverbraucher gar nicht mitkriegt, wie ihm geschieht, erhellt Reiner Holznagel: Es tut jetzt schon weh, stellt der Präsident des Bundes der Steuerzahler fest und zeigt, wie Niedrigzinspolitik und Eurorettung jeden Bürger im Alltag treffen: als Steuerzahler, klar, aber auch Sparer, als Versicherten, als Mieter oder Wohneigentümer, als Riester-Rentenvorsorger.

Was hier vor aller Augen seinen Lauf nimmt, beleuchtet der neue HAUPTSTADTBRIEF im Weiteren unter vielen verschiedenen Gesichtspunkten. Hans Kremendahl beschreibt, wie der EU-Haushalt falsche Prioritäten setzt, Kurt Schlotthauer beobachtet vergleichbare Fehlentwicklungen in unserem engsten Nachbarland Frankreich, Friedrich Heinemann geht der deutschen Realitätsverweigerung auf den Grund, Rainer Kirchdörfer und Bertram Layer analysieren die Irrwege deutscher Steuerpolitik. Und Stefan Aust behält sein Thema im Auge: Wie steht es um den letzten handgreiflichen Vermögenswert der Bürger – die deutsche Goldreserve? Der Bundesrechnungshof hat nun nämlich angeordnet, deren Unversehrtheit zu prüfen.

Das im engeren Sinne Politische (als sei Geldvernichtung unpolitisch) fasst Peter Voß ins Auge, und zwar in Gestalt der Grünen, in denen er eine weltanschauliche Grundhaltung lebendig sieht, die im Deutschland der Weimarer Republik aufkam und mit einigen Wandlungen bis heute gilt. Peter Schneider lehnt sich gegen die Abwicklung Amerikas im kulturellen Gedächtnis Berlins auf, ein verwandtes Thema. Was die Hauptstadt sonst noch bewegt und erregt, lesen Sie ab Seite 68. Kunstthemen runden ab Seite 77 eine Ausgabe ab, von der ich hoffe, dass Sie sie anregend finden werden.

Dieses Online-Editorial können Sie auch online lesen, zur jeweils aktuellen Ausgabe geht es hier. Dort haben Sie die Möglichkeit, sich für einen Newsletter einzutragen. Er informiert Sie, sobald es eine neue Ausgabe des HAUPTSTADTBRIEFS online gibt.
  

Samstag, 29. September 2012

Bayern als eigener Staat

   
Im Informations- und Hintergrunddienst DER HAUPTSTADTBRIEF, Ausgabe 110 vom September 2012, habe ich mich mit einem Buch über Bayern beschäftigt. Hier mein Text:
  

Wilfried Scharnagl denkt einen Gedanken, der verboten gehört, wenn es nach dem Willen der Euroretter ginge. Denn Bayern würde aufhören zu zahlen

Wilfried Scharnagl stellt sein Buch im Haus des Familienunternehmens vor.
   
Darf man das? Sich Bayern als eigenen Staat vorstellen? Ein Staat in der Europäischen Union, aber nicht mehr in der Bundesrepublik Deutschland? Als Berliner müsste ich umstandslos Nein sagen; denn mein Bundesland hängt am bayerischen Tropf. Drei Milliarden Euro Zuschuss, davon der größte Batzen aus München, würden uns Berlinern jedes Jahr im Landeshaushalt fehlen, würde Bayern die innerdeutsche Transferunion sprengen.

Länderfinanzausgleich heißt diese Unterhaltszahlung offiziell und war einst als Hilfe zur Selbsthilfe gedacht: Die Starken geben den Schwachen, damit diese selber stark werden. Die Umverteilung eines Anteils des von der bayerischen Bevölkerung erwirtschafteten Wohlstands nach Berlin macht uns Hauptstädter aber nicht stark, sondern lässt unsere öffentlich bedienstete Parteienelite nur immer mehr erschlaffen. Mittlerweile ist sie so schwach und hilflos, dass sie nicht einmal imstande ist, einen Flughafen bauen zu lassen.

Solchen Versagern die Alimente zu verweigern, würden die Berliner sofort begrüßen, wüssten sie nicht, dass ein Ausbleiben der bayerischen Transferleistung ihnen schadete, aber kein Ausbleiben des goldenen Handschlags für ihre Schädiger bedeutete. Aus Berliner Sicht ist Bayern als eigener Staat also keine gute Idee. Wilfried Scharnagl schreibt aber aus bayerischer Sicht. Und aus der ist sein Plädoyer für den eigenen Staat schlüssig.

„Von 1950 bis 1986 erhielt der Freistaat Bayern aus Mitteln des Länderfinanzausgleichs insgesamt 3,4 Milliarden Euro.“ Aber seit 26 Jahren ist Bayern Nettozahler: „Bis zum Jahr 2011 hat Bayern auf dem Wege des Länderfinanzausgleichs 38,268 (!) Milliarden Euro an andere Länder gezahlt“, rechnet er auf Seite 115 seines Buchs Bayern kann es auch allein vor. Es ist nicht die Transferleistung als solche, die ihn aufbringt, es ist ihre Sinnlosigkeit: Die schwachen Länder werden immer schwächer.
Peter Gauweiler moderiert das Gespräch mit dem Autor, 30. August 2012.
 
Wenn schon die innerdeutsche Alimente ein Fehlanreiz ist, wie ist es dann erst mit dem europäischen Länderfinanzausgleich? Es ist genau diese schon begonnene Transformation der Europäischen Union in eine europäische Transferunion, die Scharnagl alarmiert: Bayern ist unversehens „Doppelmitglied in einer Transferunion – einer deutschen und einer europäischen“. Der Dreh- und Angelpunkt ist das „unversehens“. Der Freistaat Bayern als Land der Bundesrepublik Deutschland hat keinerlei Einfluss auf eine Umverteilung von Reichtum, die seine Bevölkerung Milliarden kosten wird, ohne dass jemals jemand in Bayern dieser Enteignung von Volksvermögen zugestimmt hätte oder auch nur zustimmen dürfte. Der Demokratieverlust ist das eigentliche Thema des Buches, der Eigentumsverlust der Auslöser, es zu schreiben.
  
Das zweite Kapitel ist deshalb das beste, weil es in Sachen Verlust von Volkssouveränität einen unvergesslichen Aha-Effekt auslöst. Es schildert den schwarzen Tag für Bayern, an dem das Deutsche Reich die Herrschaft übernahm. Es sind drei Wochen im Januar 1871, als es in der Bayerischen Abgeordnetenkammer um „Sein oder Nichtsein Bayerns“ ging – obwohl schon alles entschieden war: der Beitritt Bayerns zum Reich per 1. Januar 1871. Die Abgeordneten führten die Debatte dennoch mit großer Ernsthaftigkeit, und viele der Wortmeldungen, die Scharnagl zitiert, zeigen, dass hier nicht bayerische Mini-Nationalisten gegen preußische Maxi-Nationalisten fochten, sondern Föderalisten gegen Zentralisten.

Mein Text erschien im HAUPTSTADTBRIEF 110.
Mit großer Hell- und Weitsicht kritisierten die Befürworter einer Bundeslösung (Einheit in Vielfalt von unten nach oben) die längst schon „alternativlose“ Reichslösung (ein Gott, ein Reich, ein Kaiser). Sie würde nach innen Hegemonie Preußens und nach außen Hegemoniestreben über Europa bedeuten und unweigerlich zu Krieg und Verderben führen. Die totalitäre Disposition des Nationalismus ist von den bayerischen Abgeordneten bereits 1871 mit einer Klarheit beschrieben worden, die Staunen macht – und erschauern lässt, wenn sie vor der Folie des heutigen Supra-Nationalismus gelesen wird, der sich als europäische Einheitslösung schon wieder ohne Alternative behauptet, auch wenn es dieses Mal nur um die Kaschierung einer Schuldenunion geht.
 
Darf man das? Sich Bayern als eigenen Staat vorstellen? Ein Staat in der Europäischen Union, aber nicht mehr in der Eurozone? Denn nur so könnte sich die bayerische Bevölkerung der doppelten Enteignung erwehren: der politischen durch mehr Mitsprachemöglichkeit, der wirtschaftlichen durch den Abschied vom Euro. Als Bayer würde ich Ja sagen – und hätte dann allerhand Fragen. Da müsste Wilfried Scharnagl aber ein zweites Buch schreiben; denn wie man sich die Alternativen vorzustellen hätte, sagt er in seinem ungemein anregenden ersten Band nicht.

Bayern kann es auch allein. Von Wilfried Scharnagl. Quadriga Verlag, Berlin. 191 Seiten, gebunden, 17 Euro.
Die Buchvorstellung fand am 30. August 2012 im Haus des Familienunternehmens am Pariser Platz in Berlin-Mitte statt. Die Buchbesprechung erschien am 6. September 2012. Es gibt sie online auch im HAUPTSTADTBRIEF.

 

Mittwoch, 4. Juli 2012

Topographie des Terrors wird 25 oder Wozu erinnern?


Topographie des Terrors im Morgenlicht des 29. Juni 2012.
Unter der Überschrift Von Deutschland lernen heißt, erinnern lernen veröffentlicht WELT ONLINE heute meine Laudatio auf die Topographie des Terrors. Diese Einrichtung der Erinnerungsarbeit begeht am heutigen 4. Juli ihr 25-jähriges Jubiläum. Seit zwei Jahren hat sie ihr neues, festes Domizil auf dem Gelände des früheren Reichsicherheitshauptamtes an der Berliner Wilhelmstraße (Foto, Mitte). Von diesen zwei Jahren handelt der WELT-Beitrag.

Meine Laudatio ist ein Jubellied mit Molltönen. Das kommt daher, dass ich mir die Frage stelle: Wozu erinnern? Die Antworten führen geradewegs in unsere Gegenwart und sogleich zeigt sich: In Gegenwart des Geländes der Topographie wird eine Vergangenheit ge- und verehrt, die so gar nicht zum Anliegen dieser Einrichtung passen will: durch Erinnern zu erkennen helfen, was unsere Rechte und Freiheiten vermehrt – und wer oder was sie mindern oder beseitigen könnte. Hier geht's zum Text.

Nachtrag von Freitag, dem 13. Juli 2012. Der Beitrag hat, wie zu erwarten war, ein gemischtes Echo hervorgerufen. Zwei Emaildialoge, die ich im Anschluss an die Veröffentlichung geführt habe, seien hier festgehalten. In meinem Text hatte ich geschrieben: ”Mit den Nachgeschichten des Nationalsozialismus ist aber schwerer umzugehen als mit seiner Geschichte und auch seiner Vorgeschichte. Die Nachgeschichten dauern nämlich noch an.“ Dazu erreichte mich auf Facebook am 8. Juli die folgende Zuschrift:
Nach dem Lesen Ihres Artikels, lieber Herr Dr. Bieling, war ich am Freitag zu einem ersten Besuch im Dokumentationszentrum. So viele Eindrücke, so großes Erschrecken, dass ich nach einer Stunde abbrach, aber nur, um demnächst wiederzukommen.

Indirekt selbst betroffen durch meinen Vater (SS Leibstandarte), recherchiere ich seine Geschichte, da er mir nur in Andeutungen und stark geschönt von dieser Zeit erzählt hat. Ganz herzlichen Dank fürs "Aufrütteln".
Ich antwortete mit einer grundsätzlichen Bemerkung über Schuld und Verantwortung:
Das finde ich gut, dass Sie meinen Beitrag als Anstoß empfunden und zum Anlass genommen haben, sich in die Topographie zu wagen. Die SS-Leibstandarte Adolf Hitler war dem Führer so nah wie kein zweiter Verband. Da muss einer schon guter Märchenerzähler sein, um sein Engagement, das aus tiefster nationalsozialistischer Überzeugung gespeist sein musste, schönzureden.
Das braucht, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, bei Ihnen keine Schuldgefühle auszulösen. Schuld kann nur ein Individuum auf sich laden, auch eine Gruppe von Individuen, die gemeinsam Verbrechen begeht. Aber schon eine Kollektivschuld der – zeitgenössischen, damaligen – deutschen Bevölkerung kann es nicht geben. Vielmehr traten nach 1945 auch die Unschuldigen in eine Haftungsgemeinschaft für die von 1939 bis 1945 begangenen Verbrechen ein. Es war eine deutsche Schuld, weil diese Verbrechen im Namen des deutschen Volkes begangen worden waren, aber keine Schuld der Deutschen.
Diese Haftungsgemeinschaft ist unauflösbar. Wir heutigen Deutschen haben keine Schuld an den Verbrechen, aber wir tragen an der Schuld der Damaligen, der Väter und Großväter. Deren Schuld bleibt, sie wird nie getilgt, und es ist unsere Verantwortung, uns dieser deutschen Schuld zu stellen. Wir Heutigen tragen die Verantwortung für die Erinnerung an diese Vergangenheit, und wir sind gut, wenn uns dieses Erinnern ohne Beschönigen und Verharmlosen gelingt. Wir sind besser, wenn wir übers Erinnern hinaus erkennen, das das Totalitäre im Nationalsozialismus einem Dreischritt von Anmaßung, Unterwerfung, Enteignung folgte, dem wir heute in anderen totalitären Bewegungen weiterhin begegnen, vor denen wir auf der Hut sein müssen.
Die Antwort kam gestern:
Danke für Ihre Rückmeldung. Schuldgefühle habe ich deshalb keine. Aber ich will Klarheit darüber, was damals war. Meine Vermutung ist die, dass mein Vater an Gräueltaten am Katarapass beteiligt war. Dem gehe ich gerade nach.

Da er wußte, dass ich mich in Griechenland gut auskenne, fragte er mich, ob ich den Pass kenne. Ich dachte mir nie etwas dabei. Bei einer meiner Fahrten fotografierte ich das Schild und schickte ihm das Foto. Dann wollte ich natürlich auch wissen, was es mit dem Katarapass auf sich hat. Er sagte nur vage, er sei im Krieg da gewesen. Und dann las ich eines Tages von den Gräueltaten dort. Nun suche ich nach Spuren, die meine Vermutung bestätigen, dass er u.a. auch dort mit daran beteiligt war.
Topographie mit Mauerrest, Wilhelmstraße Ecke Niederkirchnerstraße.
Der zweite Emaildialog bestätigt eine Feststellung, die ich in meinem Text getroffen hatte: ”Sich mit den Nachgeschichten des Nationalsozialismus zu befassen, führt geradewegs in einen unerfreulichen Plural im Präsens.“ Das belegen die folgende Zuschrift und der anschließende Dialog vom 12. Juli:
Was soll ich dazu sagen? Da ich gerade selbst ein über 600seitiges Buch auf Englisch geschrieben habe und mich recht gut mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus auskenne und vor allem das Versagen der deutschen, aber auch internationalen gegenwärtigen Forschung kenne, ist Ihr Beitrag wissenschaftlich obsolet, ja grotesk. Doch das ist nicht das Schlimmste:

Woher kommt Ihr Hass auf die Niederkirchner-Straße, die nach einer Frau benannt ist, die von der SS im KZ Ravensbrück erschossen wurde?


Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion wünschte sich Käthe Niederkirchner, selbst am Kampf gegen den Faschismus teilzunehmen. Deswegen meldete sie sich bei der Roten Armee. Sie bereitete sich intensiv auf eine illegale Untergrundarbeit in Deutschland vor. Am 7. Oktober 1943 sprang sie gemeinsam mit Theodor Winter aus einem sowjetischen Flugzeug über dem von Deutschland besetzten Polen ab. Gemeinsam sollten sie in Berlin Kontakt mit mehreren illegalen Gruppen aufnehmen, wurden aber auf dem Weg dorthin entdeckt, von der Gestapo verhaftet und unter Folter verhört. Ohne ein Gerichtsverfahren wurde sie nacheinander in verschiedenen Gefängnissen inhaftiert und schließlich Ende Mai 1944 in das Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt, wo sie in Isolationshaft genommen wurde. In dieser Zeit fertigte sie geheime Tagebuchaufzeichnungen an, die erhalten geblieben sind.
In der Nacht vom 27. zum 28. September 1944 wurde Käthe Niederkirchner von Angehörigen der SS erschossen.
Meine Antwort ging so:
Nein, von Hass kann keine Rede sein. Ich teile Ihr Mitgefühl mit den Menschen, die von Nationalsozialisten gedemütigt, verletzt, zerstört, enteignet, vertrieben, gefoltert oder ermordet wurden. Dieses Mitgefühl gilt auch Käthe Niederkirchner.

Ich folge allerdings nicht der
totalitären Logik der Nationalsozialisten, die alle gleich macht: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Aus der Sicht des nationalsozialistischen Kollektivs sind alle, die sich der Gleichschaltung widersetzen, gleich: Systemfeinde. Nationalsozialisten machen keinen Unterschied, ob der Systemfeind auf Wiederherstellung der zerstörten Demokratie oder auf Ersetzung der nationalsozialistischen durch die realsozialistische Diktatur aus ist.

Aus gutem Grund
folge ich nicht der nationalsozialistischen Logik. Ich erkenne den Unterschied zwischen einem Menschen, der sich der Diktatur widersetzt hat, um den Rechten und Freiheiten des Einzelnen wieder Geltung zu verschaffen, wie es Elisabeth Schmitz getan hat. Und einem Menschen, der sich der Diktatur widersetzt hat, um die Diktatur eines anderen, konkurrierenden Kollektivs zu erreichen, wie es Käthe Niederkirchner getan hat.

Mit der Namensgebung Niederkirchnerstraße hat die DDR-Führung eine
Märtyrerin der Diktatur geehrt, wie ich geschrieben habe. Das missfällt mir. Das Unrecht, dass ihr durch die Nationalsozialisten widerfahren ist, steht mir dabei deutlich vor Augen. Käthe Niederkirchners Ermordung halte ich für eine deutsche Tragödie.
Daraufhin erhielt ich als Antwort:
Ich habe die letzten Wochen und Monate mit einigen Leuten über Renegaten diskutiert: kann es sein dass Sie, der Sie ja früher auch obskur links waren, da nie etwas aufgearbeitet, sondern nur aggressiv abgelegt haben und nun pro-deutsche Propaganda betreiben?

Wenn Sie den Unterschied zwischen dem NS-Deutschland und der Sowjetunion nicht sehen, sind Sie blind. Die einen bauten Auschwitz-Birkenau, die anderen befreiten es. Ich kenne ja - im Gegensatz zu vielen, die darüber reden, ohne zu wissen, um was es geht - die internationale Forschungslage zu dieser Thematik.
Aus Ihrem Text spricht Hass gegen eine von der SS erschossene und zuvor gefolterte Kommunistin.

Und dieser Hass mag auch ein Hass gegen den Rainer Bieling der 1960 und 1970er Jahre sein, als Sie noch kein Renegat waren, aber einer womöglich (wie Posener oder Herzinger) abstrusen Richtung der Neuen Linken angehörten. Doch bitte bearbeiten Sie Ihre eigenen psychischen Probleme (die Sie gar nicht als solche wahrnehmen!) nicht auf Kosten von extrem mutigen Frauen, die im Kampf gegen die elenden Deutschen ermordet wurde.
Geschottert mit Grauwacke: Die Farbe der Topographie.
 Mit diesen Schlussworten beendete ich den Dialog:
Nein, das kann nicht sein.

Nein,
ich war in keiner obskuren Linken, sondern in den vom SDS initiierten Gruppierungen der Neuen Linken, zuletzt im Sozialistischen Büro, in dem am Ende seines Lebens auch Rudi Dutschke wirkte. Unser Marxismus war reflektiert, kenntnisreich und von hoher intellektueller Brillanz.

Nein,
ich habe nicht nie etwas aufgearbeitet, sondern gehöre zu den wenigen meiner Generation, die ganz im Gegenteil genau das getan haben. Als Sie noch ein Schuljunge waren, habe ich bereits eine Analyse der Neuen Linken vorgelegt, die 1988 des zwanzigsten Jahrestages von 1968 gedachte.

Nein,
die Projektion eines Renegaten bringt auch in der Retrospektion nichts; denn nach meinem Buch Die Tränen der Revolution habe ich mich geschlagene 20 Jahre mit der Linken nicht mehr beschäftigt. Sie war ja nach der Implosion des realen Sozialismus mit der DDR wie vom Erdboden verschluckt, ohne dass mir das recht aufgefallen wäre.

Nein,
ich bin nicht blind was den Unterschied zwischen nationalsozialistischen Konzentrationslagern und realsozialistischen Arbeitslagern betrifft und kann auch den Unterschied in der Mortalitätsrate beziffern. Für den Realsozialismus von 1917 bis zu den Killing Fields der späten 1970-er Jahre fällt der Unterschied wenig schmeichelhaft aus.

Nein,
ich habe keine psychischen als vielmehr politische Probleme. Ich habe ein politisches Problem mit totalitären Systemen, die ihre Gegner als psychisch oder geistig krank stempeln, um sie aus dem Kollektiv aussondern und in Sonderbehandlung oder Isolationshaft nehmen zu können. Die realsozialistische Psychologisierung der politischen Gegner der Breschnew-Ära war ihrerseits eine Abmilderung gegenüber der Eliminierung in der Stalin-Ära.

Nein,
alles, was Sie schreiben, ist keine Entgegnung, sondern eine Entgleisung. Sie haben die Spur verloren. Aber sie ist noch da, ich sehe sie vor mir, und lässt sich wiederfinden.

Montag, 25. Juni 2012

Wertewandel mitgestalten oder Was uns Rechte und Freiheiten wert sind


Die Veranstaltung, über die ich hier berichte, liegt schon etwas zurück. Der Bericht selbst aber ist erst heute erschienen, und zwar im Informations- und Hintergrunddienst DER HAUPTSTADTBRIEF, Ausgabe 109. Ich dokumentiere den Text (in der Onlinefassung) auch an dieser Stelle, weil er einen Gedanken erörtert oder doch anreißt, der über den Anlass hinaus Bestand hat: den Zusammenhang materieller und ideeller Werte und deren gemeinsamer Herkunft aus Marktwirtschaft – wo Märkte sterben, sterben Werte, materielle und ideelle zur gleichen Zeit. Und, die Erinnerung an die Staatswirtschaften des 20. Jahrhunderts ruft es ins Gedächntnis, nach den Werten sterben die Menschen. Hier der Bericht:
Frank-Walter Steinmeier spricht über Wertewandel am 24. Mai 2012.

Selten passen Handlungsort, handelnde Personen und Handlungsinhalte so gut zusammen, wie das unlängst in Berlin zu beobachten war. Die Handlung selbst war die Vorstellung eines Buches mit dem Titel Wertewandel mitgestalten, bei der das Werk, wie es sich gehört, zur Kenntnis gebracht und gepriesen wurde.

Handlungsort ist die neue Repräsentanz der Stiftung Familienunternehmen am Pariser Platz gleich neben dem Brandenburger Tor. Hier, mitten im Parlaments- und Regierungsviertel, erheben seit 2012 (DER HAUPTSTADTBRIEF 107 berichtete) jene Unternehmen der deutschen Wirtschaft ihre Stimme, die im öffentlichen Konzert zuvor nicht gut zu Gehör kamen. Das zu ändern und der Stimme einen Ort zu geben, ist Sinn und Zweck des Hauses des Familienunternehmens.

Handelnde Personen an diesem Vormittag sind die Herausgeber des Buches, Brun-Hagen Hennerkes und George Augustin, ersterer Vorstand der Stiftung Familienunternehmen, letzterer Direktor des Kardinal Walter Kasper Instituts für Theologie, Spiritualität und Ökumene in Vallendar. Handelnde Personen sind Walter Kardinal Kasper in persona und Frank-Walter Steinmeier, Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Es sind der Katholik und der Sozialdemokrat (Foto oben, zum Vergrößern anklicken), die das geistige Spektrum des Wertewandel-Buchs in ihren Reden vermessen (DER HAUPTSTADTBRIEF dokumentiert eine Rede in dieser Ausgabe, die andere online).

Handlungsinhalte sind die drei Bestandteile des Buchtitels: Werte, Wandel, mitgestalten. Welche anspruchsvolle Aufgabe sich die beiden Herausgeber damit gestellt haben, diese gewichtigen Inhalte ihren Gästen aus Politik und Wirtschaft, darunter der CDU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder und FDP-Fraktionsvize Martin Lindner, vorzustellen, zeigt ein näherer Blick auf jeden einzelnen dieser Bestandteile.
Buchvorstellung »Wertewandel« im Haus des Familienunternehmens.

Werte sind ein Begriff im Plural nicht nur, weil es mehrere und verschiedene sind (im Gegensatz zu ihrem Gegenteil, dem Unwerten, das es nur im Singular gibt und das, als Ideologie praktiziert, zu ebenso singulären Verbrechen führt), sondern auch, weil es materielle und ideelle Werte gibt, deren Verkettung aufzulösen zu großen geschichtlichen Tragödien geführt hat und immer wieder führen wird. Werte entstehen, wenn Menschen in und zu ihrem Handeln Gemeinschaften bilden, in denen ihnen Rechte und Freiheiten zuwachsen, um dieses Handeln zu gestalten und dessen Früchte zu genießen. Sobald sich Menschen dieser Werte bewusst werden und sie bewahren wollen, beginnen sie, sie zu kodifizieren. Seit dem Kodex Hammurabi tun sie das, mithin seit rund 3 800 Jahren.

Wandel zeigt an, dass Werte nichts Statisches sind, wiewohl sich ihr Kernbestand über die Jahrtausende als gleichbleibend erwiesen hat, wie ein Blick auf den genannten Kodex zeigt, der im Berliner Pergamonmuseum in Kopie zu sehen ist und dessen Kernsätze in den Gesetzestexten der Thora, den fünf Büchern Mosis, nachzulesen sind. Weil aber Werte beständig von denen mit Füßen getreten werden, denen ideelle Werte nichts wert sind, weil sie der Aneignung fremder materieller Werte im Wege stehen, müssen Werte immer wieder neu bestimmt werden, und jedes Mal geht die Verlusterfahrung in die Neubestimmung ein. Den Wandel der Werte treibt also beides: Die Fähigkeit von Menschen, Werte zu schaffen, wenn man sie lässt, und die Notwendigkeit, Werte zu bestimmen, damit man sie lässt.

Mitgestalten verweist auf das Programmatische: Den Wandel der Werte mitgestalten (und eben nicht: gestalten) enthält eine angemessene Portion Demut; denn Gestalter oder Demiurg kann ein Einzelner nicht sein, das widerspräche dem, was Werte sind – Schöpfungen von Menschen in Gemeinschaft. Dass es ein führender Kopf der deutschen Familienunternehmen ist, der andere Menschen eingeladen hat, gemeinsam über Werte nachzudenken, um damit Impulse zu geben, deren Wandel mitzugestalten, ist bei näherer Betrachtung nur schlüssig. Familienbetriebe sind Unternehmen, die materielle Werte von Generation zu Generation weitergeben, was nur geht, wenn solcherart Nachhaltigkeit in einem Wertekanon eingebettet ist, dessen Vielstimmigkeit Rechte und Freiheiten des Einzelnen und seines Eigentums als Konsens besingt. Dass daraus ein gerüttelt Maß an Verantwortung für alle erwächst, die an diesem Gemeinschaftswerk mitwirken, hat die Buchvorstellung erfreulich klar gemacht.

Mittwoch, 2. Mai 2012

100 Jahre Axel Springer, 45 Jahre »Enteignet Springer«

Martin Walser, Thomas Schmid, Mathias Döpfner am 25. April 2012

Heute wäre der Verleger Axel Springer 100 Jahre alt geworden. Auf die Wiederkehr seines Geburtstags am 2. Mai 1912 stimmte gestern bereits arte mit der Dokumentation Drei Leben: Axel Springer ein. Was es mit den "drei Leben" auf sich hat, verdeutlicht der Untertitel: Es geht um seine Leben als Verleger, Feindbild, Privatmann. Die Sendung wird am 15. Mai auf arte wiederholt und ist sehenswert, weil sie ausgewogen und fair mit einer Figur umgeht, die für viele meiner früheren Freunde immer noch Hassfigur ist: das ewige Feindbild Springer, als wäre die Kampagne »Enteignet Springer« weiter aktuell.

Die gestrige Sternstunde des Fernsehjournalismus ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil ich vor genau einer Woche aus dem selben Anlass zu Gast im Axel Springer Verlag war, wo WELT-Herausgeber Thomas Schmid ein Gespräch zwischen dem jetzigen Vorstandsvorsitzenden der Axel Springer AG Mathias Döpfner und dem Schriftsteller Martin Walser moderierte (Foto, aufgenommen im Journalisten-Club des Axel Springer Verlags, lässt sich durch Anklicken vergrößern und näher betrachten), das beklagenswert unergiebig blieb. Und das lag nicht an den beiden Springer-Leuten, sondern an dem einstigen Springer-Gegner Walser, der sich der Auseinandersetzung mit dem Feindbild Springer verweigerte.

Schlimmer noch, Martin Walser verweigerte auch eine Stellungnahme zu der Einlassung von Günter Grass, Israel drohe dem Iran mit Auslöschung und gefährde den Weltfrieden. Dass dieses Thema zur Sprache kommen würde war klar, denn die Solidarität mit Israel war eines der Leitmotive Springers und gilt für sein Verlagshaus bis heute. Zu einer Stellungnahme, ob er die Grass-Äußerung als Hass-Äußerung oder Liebeserklärung empfinde, fühle er sich nicht aufgerufen, erklärte Walser auf dreimaliges Nachfragen. Auch in der Sache selbst habe er sich kein Urteil gebildet. Am Ende verließen die Gäste konsterniert den Saal.

Dem Feindbild Springer war an dem Abend des 25. April nicht beizukommen, die gestrige Fernsehsendung erwies sich hingegen als ergiebig, weil sie das Feindbild mit den Verleger Springer und den Privatmann Springer in einen Dreiklang setzte und einen Ansatzpunkt bot, wie es vor 45 Jahren zu der Kampagne »Enteignet Springer« kommen konnte. Diese Kampagne wurde nach dem tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg vom 2. Juni 1967 von Rudi Dutschke ins Gespräch gebracht, später im Republikanischen Club konkret ausgeheckt und entfaltete im Folgejahr 1968 bei den Osterunruhen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke ihre größte Wirkung.

»Enteignet Springer« war eine Reaktion der Außerparlamentarischen Opposition (APO) auf die außerordentlich feindselige Berichterstattung der Springer-Zeitungen über die Studentenbewegung. Axel Springer sah hier eine fünfte Kolonne der DDR am Werk, die ihm so verhasst war wie die DDR selbst (bei ihm "DDR"). Im Nachhinein wissen wir, dass die Staatssicherheit der DDR und deren Inoffizielle Mitarbeiter im Westen tatsächlich kräftig mitmischten und negativen Einfluss ausübten, aber die überwiegende Mehrheit der 1967 und 1968 über Springer Empörten waren Leute wie ich, die die DDR zeitlebens verabscheuten. (Meine unlängst zugestellte Stasi-Akte bescheinigt mir durchgängig Feindseligkeit gegenüber der DDR – was für eine Genugtuung!)

Die einseitige Wahrnehmung der Protestbewegung von 1968 und Springers Unverständnis gegenüber der Neuen Ostpolitik von Willy Brandt seit 1969, die er als Kapitulation vor der DDR und ihrem Großen Bruder, der Sowjetunion, missverstand, sind ein zusammenhängendes Fehlurteilspaar, das sich politisch nur schwer erklären lässt. Die arte-Dokumentation gibt hier Aufschluss, indem sie auch den Privatmann Springer beleuchtet: der hatte 1957 ein religiöses Erweckungserlebnis und blieb fortan von christlichem Eifer beseelt. Das sind Indizien, dass wir es bei Axel Springer nicht mit einem homo politicus zu tun haben, der mit kühlem Kopf analysiert, sondern mit einem Gefühlsmenschen, der mit Leib und Seele die Hitze des Gefechts sucht – und findet (und sich dabei die Finger verbrennt und dann auch darunter leidet).

100 Jahre Axel Springer, 45 Jahre »Enteignet Springer« sind ein guter Anlass, über eine dramatische Fehlentwicklung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nachzudenken. Falsche Urteile und schlechte Entscheidungen der Jahre 1967 bis 1969 – auf Seiten des Establishments und auf Seiten der APO – haben direkt in das hochideologisierte Jahrzehnt der 1970er Jahre geführt, das bei vielen Über-60-Jährigen, einigen Jüngeren und manchen älteren Teilnehmern weiter unverdaut in den Köpfen spukt. Der Abend mit Martin Walser hat daran auf ernüchternde Weise erinnert. Das sollte ein Ansporn sein, Vergangenheit und Gegenwart des Feindbilds Springer nicht als intellekuell unbewältigt stehen zu lassen.