Dienstag, 14. Dezember 2010

Güner Balci und Thilo Sarrazin bei Lea Rosh

Güner Balci und Thilo Sarrazin zu Gast bei Lea Rosh.

Das Erhellende an diesem Abend ist zweierlei: Der Befund, dass ein Teil, wahrscheinlich die Mehrheit der muslimischen Einwanderer sich in Deutschland nicht integriert und auch nicht vorhat, das zu tun, ist mittlerweile Konsens unter Deutschen, die in Parallelgesellschaften keine Bereicherung sehen, sondern den Verlust von Kohäsionsfähigkeit - der inneren Kraft offener pluralistischer Gesellschaften, den Zusammenhang der vielen verschiedenen Einzelinteressen zu stiften und beständig zu erneuern. Das Deuten dieses Befundes und das Ändern des Sachverhalts, den er beschreibt, sind hingegen noch konsensbedürftig.

Lea Rosh vereinte erstmals in ihrem gestrigen Salon im Ephraim-Palais die Berlinerin Güner Balci und den früheren Berliner Finanzsenator Theo Sarrazin im Gespräch. Güner Yasemin Balci ist Autorin der beiden Tatsachenromane Arabboy, mit dem ich mich in diesem Blog schon beschäftigt habe (siehe Eintrag vom 5. März 2009), und Arabqueen, die ich auch als Theaterstück im Heimathafen Neukölln gesehen habe (empfehlenswert, nächste Vorstellungen im Januar 2011). Thilo Sarrazin ist zur Zeit ebenfalls hauptberuflich Autor, Deutschland schafft sich ab liegt in dreizehnter Auflage vor, wenn ich es mir richtig gemerkt habe. Seine Kopftuchmädchen, ein Ausdruck des türkischen Nobelpreisträgers Orhan Pamuk (Hauptfiguren in dessen Roman Schnee, den es im Dezember 2010 im Ballhaus Naunynstraße in einer gelungenen Theaterversion gab), waren ebenfalls schon Gegenstand dieses Blogs (siehe Eintrag vom 10. Oktober 2009). Kurz, Lea Rosh (zu ihrem Auftritt beim Freitag Salon im Maxim Gorki Theater siehe meinen Blogeintrag vom 9. November 2010) brachte zwei Bekannte zusammen, auch wenn (s)ich beide in echt noch nie gesehen hatte(n).

Lea Rosh hält Sarrazin von vorn fest, der Spiegel von der Seite.
Das Fruchtbare des Abends ist eine bleibende Erkenntnis. Die muslimischen Parallelgesellschaften (ja, im Plural; denn es sind mindestens zwei, eine große türkische und eine kleinere arabische, vielleicht sogar drei: eine kurdische) sind geschlossene Kleingesellschaften in der offenen Großgesellschaft. Darin liegt die Asymmetrie: die Parallelgesellschaften sind nicht offene Miniaturen, sondern von völlig anderer Art als die Mehrheitsgesellschaft, ihr glattes Gegenteil. Das Grundgesetz der Großgesellschaft (Bundesrepublik Deutschland) gilt innerhalb der Parallelgesellschaften nicht, anders als einst in den Westsektoren Berlins, die zwar nicht von der Bundesrepublik Deutschland regiert wurden, aber im Geltungsbereich des Grundgesetzes lagen. Das Grundgesetz gilt in den geschlossenen Gesellschaften der Muslime nicht deshalb nicht, weil sie ein rechtsfreier Raum wären, sondern weil hier ein rechtsfremder Zustand herrscht: die Scharia, eine Jurisdiktion totalitären Typs, die keine Gewaltenteilung kennt und unmittelbar zu Gott ist, den sie Allah nennen. Hier herrscht (in den Begrifflichkeiten einer Religion) die Ideologie über die Menschen, das Kollektiv über die Individuen, der Mann über die Frauen; Ausstieg bei Todesgefahr verboten: aus der Religion, aus der Familie, aus der arrangierten Ehe.

Ein früherer Lehrer der Ferdinand-Freiligrath-Schule aus der Kreuzberger Bergmannstraße bringt es am Ende auf den Punkt: Wir haben es nicht mit einer anderen, neuen Kultur zu tun, die wir als Bereicherung unserer eigenen, alten Kultur zu begrüßen hätten, als würde sich B zu A gesellen, sondern wir haben es in den muslimischen Parallelwelten mit einer grundsätzlichen Verweigerung der Menschenrechte zu tun, die weit über die grundgesetzwidrige Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts der muslimischen Frauen und Mädchen hinausgeht, jener Enteignung der Frauen, die Güner Balci in Arabqueen so anschaulich beschreibt. Seit 30 Jahren, sagt der Lehrer, weigern "wir" (und meint damit die meinungsbildenden und entscheidungstragenden Eliten) uns nicht nur, diese Integrationsverweigerung zur Kenntnis zu nehmen, sondern wir (alle) unterwerfen uns ihr mit immer neuen Rücksichtnahmen auf immer neue Anmaßungen. Ein Abend wie der gestrige erhellt, warum wir uns um unsere Freiheiten nicht nur am Hindukusch, sondern gleich auch am Kreuzberg kümmern sollten.

Nachtrag zur Vertiefung: Cora Stephan macht, ebenfalls heute, in ihrem Blog auf den ins Deutsche übersetzten Artikel eines französischen Autors im Perlentaucher aufmerksam, der sich mit der Herkunft des islamistischen Kampfbegriffs der Islamophobie befasst. Von hier ist es nur ein Klick zu einem Beitrag zweier dänischer Autoren, die - ebenfalls vom Perlentaucher ins Deutsche übersetzt - darlegen, wie Kultur als politische Ideologie eingesetzt und zum totalitären Kampfbegriff der Menschenrechtsverächter wird.

Nachtrag zum früheren Lehrer: Ich kann ihn dank eines Hinweises nun identifizieren. Es handelt sich um Wolfgang Schenk, der 1986 bis 1988 schulpolitischer Sprecher der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus und aktives GEW-Mitglied war. Mittlerweile hat er den Schuldienst quittiert (und die GEW und die Grünen gleich mit); unter der Überschrift Ein Idealist packt aus hat die tageszeitung seine deprimierenden Erlebnisse und seine vernichtende Kritik der Berliner Schulpolitik aufgezeichnet. Das sollten Sie lesen, bevor Sie im Herbst Ihr Kreuz machen.
  

Donnerstag, 9. Dezember 2010

WikiLeaks hat auch etwas Beruhigendes

Logo © WikiLeaks

Alle großen journalistischen Enthüllungen von Watergate bis WikiLeaks beruhen ursächlich in der Regel nicht auf journalistischer Recherche, sondern darauf, dass ein Informant einem Journalisten etwas zuträgt. Der Informant handelt seinem Arbeitgeber gegenüber illoyal und in der Regel dem Gesetz nach illegal. Der ewige Streit geht darum, ob Medien derartige durch einen illegalen Akt, den sie selber nicht begangen haben, beschaffte Informationen veröffentlichen dürfen – und ob sie das tun sollen.

Wegen des Dürfens sind häufig die Gerichte bemüht worden, die meist die Pressefreiheit und das Allgemeininteresse höher stellen als das verletzte Rechtsgut der informationellen Selbstbestimmung des Klägers. Das mit dem Sollen ist stets heikel, weil X-Beliebige, denen Material zugespielt worden ist, nun Gott spielen können. Deshalb war es gut, dass WikiLeaks die Materialien u.a. an Spiegel, Guardian und New York Times zur Vorauswahl weitergegeben und somit einen Filter zwischengeschaltet hat, der die Selbstherrlichkeit auf eine etwas breitere Grundlage stellt: Nun wird nach Gutsherrenart entschieden, das immerhin ist menschlich. Es liegt auf der Hand, dass der Gutsherr Gefahr läuft, nicht über seinen Horizont hinauszublicken und einem Nachbarn Schaden zuzufügen.

Die Vorauswahl der genannten Printmedien hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Immerhin ist es beruhigend zu lesen, dass die Nato Russland völlig zu recht doch noch für eine Gefahr hält und neben den Polen auch die Balten vor den Russen schützen will. Beruhigend auch zu wissen, dass die Araber, obwohl selber Potentaten, den Iran für eine tödliche Gefahr und das aktuelle Appeasement vor allem der EU für so unklug halten wie das historische Appeasement von München (1938), das die Nationalsozialisten überhaupt erst endsiegreif gestimmt hatte. Insgesamt zeigt sich, dass verantwortlichen Akteuren in aller Welt der gesunde politische Menschenverstand nicht so gänzlich abhanden gekommen ist, wie deren offizielle Verlautbarungen mitunter befürchten ließen und lassen.

Dieser beruhigende Gesichtspunkt
stellt das Beunruhigende, das der Vorgang eben auch hat, in den Schatten und lässt einen die WikiLeaks-Veröffentlichung begrüßen. Nicht hinzunehmen indes ist die Haltung der amerikanischen Regierung, nun selbst nach Gutsherrenart amerikanische Unternehmen wie Amazon, PayPal und MasterCard zum Boykott von WikiLeaks zu bewegen. Der heutige Leitartikel der Financial Times Deutschland, der für den Gegenangriff von WikiLeaks-Sympathisanten auf MasterCard Verständnis äußert, kommentiert das Geschehen ganz in meinem Sinne.


Nachtrag: Die Tageszeitung Die Welt hat am 20. Januar 2011 Wikileaks-Enthüllungen zu dem Sympathieverhältnis von Türkei und Hamas und der darob gemeinsamen Sorge von Israelischer Regierung und Palästinensischer Autonomiebehörde veröffentlicht. Und weil es gut zu wissen sei, welche ungute Entwicklung im Hintergrund stattfinde, verkündet die Redaktion am Schluss des Beitrags: Welt Online bricht das Wikileaks-Kartell. Hier finden Sie alle Artikel zum Thema. Dort ist die Topmeldung am 23. Januar 2011 ein Ergebnis weiterer Wikileaks-Auswertungen: Irans Atomraketen sind made in China. Nur zur Erinnerung: Die Macheten für den schnellsten Völkermord aller Zeiten, den der 100 Tage von Ruanda, dem 1994 wahrscheinlich 800.000 Menschen zum Opfer fielen, waren ebenfalls made in China.
   

Freitag, 3. Dezember 2010

Hannah-Arendt-Preis 2010 oder Die Enteignung einer Namensgeberin

Dokumentiert ein Gesicht des Totalitären: Topografie des Terrors

Der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken geht heute in Bremen an den französischen Sinologen François Jullien. Aber ob dieser Preis dem Anliegen der Namensgeberin gerecht wird, wage ich doch zu bezweifeln. Nicht nur ist mir der Laudator Joscha Schmierer als alter KBW-Häuptling suspekt, auch der Ausgezeichnete, François Jullien, ist mir als großer China-Versteher ebenso verdächtig wie sein Verleger Merve Verlag, der einst jede Wendung der orientierungslosen Neuen Linken mit- oder öfter noch vorgemacht hat (auch wenn mir das Verlegerpaar Heidi Paris und Peter Gente seinerzeit immer sehr sympathisch war). Tja, und die Böll-Stiftung als grüner Thinktank ist eher genau so Lost in Interpretation wie ihr Namensgeber Heinrich Böll, der mir nicht als eindeutiger Vorkämpfer gegen das Totalitäre in Erinnerung geblieben ist, sondern als eindeutig Zweideutiger gegenüber RAF und russischen Raketen. (Allerdings hatte er sich für sowjetische Dissidenten eingesetzt, das rechne ich ihm hoch an.)

Das Totalitäre hat viele Gesichter (im Bild sehen wir die Berliner Topographie des Terrors, die eines dieser Gesichter dokumentiert, im frühen Schnee des 2. Dezembers 2010) und lässt sich auf der nach oben hin offenen Massenvernichtungsskala der Staatsverbrechen vielfältig skalieren. Die Begründung der Jury hat mit einem Versuch des Skalierens der chinesischen Spielart des Totalitären und somit mit der Hannah Arendt, die ich kenne, eigentlich rein gar nichts zu tun. Und der Hannah-Arendt-Preis nur in seltenen Fällen wie dem der Verleihung an die frühere Präsidentin Lettlands, Vaira Vīķe-Freiberga, die 2005 eine gute Wahl war. Ich habe sie unlängst in der Gedenkstätte Hohenschönhausen beim 3. Hohenschönhausen-Forum kennengelernt - eine unerschrockene Frau, die zu Recht in einem Atemzug mit Hannah Arendt zu nennen ist. Alles, was ich 2010 lese, läuft auf die Enteignung Hannah Arendts hinaus.
 
Postcriptum vom 4. Dezember 2010: In Dresden gibt es ein Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT). Dort wurde Ende November 2010 ein Stasi-Spitzel enttarnt und entfernt. Das hat einen Autor der Tageszeitung Die Welt veranlasst, am 30. November 2010 eine Schließung des Instituts und die Abkehr vom Begriff des Totalitären zu fordern. Zwei Tage später, am 2. Dezember 2010, stellt Welt-Herausgeber Thomas Schmid klar, warum er beides für keine gute Idee hält. Ersteres kann ich nicht beurteilen, letzteres wohl. Den Kampf gegen den Begriff des Totalitären führt die Linke, so lange ich denken kann - die Neue Linke seit 1968 eingerechnet. Im Geist totalitärer Anmaßung, der die Enteignung folgt (siehe oben), pflügen alte und neue Linke vor unseren Augen das intellektuelle Vermächtnis Hannah Arendts unter, und sie werden damit durchkommen, solange ihnen keiner in der Arm fällt. Thomas Schmid tut das, und das tut gut.