Samstag, 29. August 2009

Der Kinnhaken oder Wie Manfred Krug 1962 den Mauerbau mit viel Selbstironie rechtfertigt


Hut ab vor so viel Raffinesse! Ich hatte platte Propagandafilme erwartet, aber was die Deutsche Film AG, kurz DEFA, da ein Jahr nach dem Mauerbau in die Ost-Berliner und ostzonalen Kinos brachte, war in beiden Fällen filmische Rechtfertigung vom Feinsten. Gestern liefen im Rahmen der Reihe zum Mauerfall zwei DEFA-Streifen aus dem Jahr 1962 im Schloss Sacrow (das Kino-Projekt von Ars Sacrow unter der Leitung von Joachim von Vietinghoff hatte ich schon weiter unten in meinem letzten Eintrag vor den Ferien am 10. Juli mit Beifall bedacht), die belegen, dass es in grauer Vorzeit tatsächlich in der Zone Menschen gegeben hatte, die die DDR für das bessere Deutschland hielten und diese schon seinerzeit ziemlich abwegige Überzeugung auch mit filmischen Mitteln zu veranschaulichen in der Lage waren. Doch der Reihe nach.

Am 29. August 1962, nur gut zwei Wochen nach dem ersten Jahrestag des Mauerbaus, kommt Frank Vogels Film ... und Deine Liebe auch in die Kinos der Deutschen Demokratischen Republik. Das Drehbuch stammt von Paul Wiens. Die männliche Hauptrolle spielt Armin Mueller-Stahl, geboren in Tilsit (einst Ostpreußen, gehört heute unter dem Namen Sowjetsk zu Russland), 1962 noch keine 32 Jahre alt und in diesem seinem siebten Film (von insgesamt 131 Filmen bis zu den Illuminati 2009) bereits ein Star. Die weibliche Hauptrolle gibt die mit 21 Jahren gerade volljährige Catherine, genannt Kati Székely, geboren in New York City, aufgewachsen in Mexiko, Tochter des 1938 aus Deutschland in die USA emigrierten ungarischen UFA-Drehbuchautors und späteren Oscar-Preisträgers János Székely. 1956 zieht Familie Székely nach Potsdam, wo Vater János für die Babelsberger DEFA Drehbücher schreibt und Tochter Kati vor der Kamera steht. Der Film ist eine Liebesgeschichte, den Plot fasst der zuständige Filmverleih Progress hier zusammen.

Am 30. November 1962, nur ein Viertel Jahr später, kommt der zweite Mauerbau-Streifen in die DDR-Kinos: Heinz Thiels Film Der Kinnhaken. (Die Abbildung oben rechts zeigt das Filmplakat mit Manfred Krug und Dietlinde Greiff in der aktuellen DVD-Version von Icestorm, ebendort oder bei Amazon für rund 14 Euro erhältlich oder in öffentlichen Bibliotheken ausleihbar, allerdings nur mit Vormerkung und auch nur in Ost-Berlin sowie in der Berliner Zentral- und Landesbibliothek AGB, der Amerika-Gedenkbibliothek.) Das Drehbuch ist ein Gemeinschaftswerk des späteren Erich-Weinert-Preisträgers Horst Bastian und des späteren Telekom-Volksaktien-Werbeträgers Manfred Krug, der auch, gerade 25 Jahre alt, die männliche Hauptrolle übernimmt. Die weibliche Hauptrolle, ein junges Barmädchen, das eigentlich in den Westen abhauen will, spielt die 23-jährige Dietlinde Greiff, die sechs Jahre später, 1968, tatsächlich rübermacht, die Schauspielerei aufgibt und nie wieder vor der Kamera stehen wird. Wie ... und Deine Liebe auch ist Der Kinnhaken ein Liebesfilm, den Plot hat wiederum Progress.

Es sind Twens, die vor der Kamera stehen (nur Mueller-Stahl ist mit 32 seinen Zwanzigern bereits entwachsen), und Twens sind wohl auch die Zielgruppe dieser beiden Filme: Die Jungen sind es, die der DDR zu Hunderttausenden bis zu jenem Sonntag, dem 13. August 1961, den Rücken gekehrt hatten, die tüchtigen Arbeiter, Handwerker, Akademiker, die es zu was im Leben bringen und sich nicht von einem unfähigen Regime ihr Leben versauen lassen wollten. Der Spielwitz und die Selbstironie des Krug-Drehbuchs für Der Kinnhaken, die moderne Musik und die modische Kleidung in ... und Deine Liebe auch sprechen eine deutliche Sprache und setzen auf klare Symbolik. Handwerklich perfekt in Kameraführung, Bildideen und Schnitt sind es zwei Spielfilme, die so subtil wie raffiniert Propaganda für das Dableiben im realen Sozialismus und gegen das Abhauen in den dekandenten Westen machen, wie ich es der DDR nicht zugetraut hätte.

Aber es hat der DDR nix genutzt. Drei der vier Hauptdarsteller sind ihr lange vor dem Mauerfall abhanden gekommen (Greiff 1968, Krug 1977, Mueller-Stahl 1980), der Rest des Staatsvolkes machte sich im Sommer 1989 auf die Socken. Die beiden Filme zeigen ungewollt, warum. Es ist nicht so sehr die technische Rückständigkeit, die zu sehen ist (Glühbirnen erhalten ihren Glühfaden bei Narva augenscheinlich in Handarbeit eingepfropft) und die von Krug auch auf die Schippe genommen wird. Es ist die geistige Rückständigkeit des realen Sozialismus: ein unfassbar reaktionäres Frauenbild, dem das Zubereiten einer Kohlroulade zum höchsten Glück wird, das die Frau dem Mann ihrer Träume bescheren kann. (Die scheinbare Emanzipation der Frau durch den Sozialismus kam daher, dass jede Frau berufstätig sein musste, um das Millionenloch an Arbeitskräften zu stopfen, das in der DDR durch die Massenflucht, in Russland durch den Massenmord, entstanden war.) Damit einhergehend ein unsäglich biederes Männerbild, das den ehrpussligen Amateurfunker und Hobbybastler zum vorbildlichen Betriebskampfgruppenobmann wachsen lässt. Mit solchen Charakteren lässt sich eine Staatswirtschaft betreiben, bis sie alle vorhandenen Resourcen verbraucht hat. Etwas Neues, wie es die Marktwirtschaft jeden Tag hervorbringt, lässt sich solcherart zugerichteten Frauen und Männern nicht schaffen.

Ich danke allen Beteiligten, denen von damals wie denen von gestern, für diese Einsicht. Und frage mich erneut (wie schon im Eintrag vom 10. Juli angedeutet), warum ich sie einer unentgeltlich tätigen Privatinitiative verdanke und nicht dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das ich mit 215,76 EUR jährlich alimentiere, ohne auch nur den geringsten Einfluss ausüben zu können. Im Gegenteil habe ich es mit öffentlich Bediensteten zu tun, die nicht müde werden zu erklären, sie wüssten schon, was gut für mich ist. Erinnert mich irgendwie an die Argumentation der beiden Brigadiers Mueller-Stahl und Krug. Aber die hatten es besser: Sie konnten der DDR die Freundschaft kündigen.
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Postscriptum:
Zu meinen Ermittlungen, wie erfolgreich die beiden Filme seinerzeit beim DDR-Publikum waren, schreibt mir mein früherer Zitty-Kollege Manfred Hobsch, seinerzeit unser Filmredakteur:
Die Frage nach den Besucherzahlen in der DDR ist nicht so einfach, da müsste man wohl in die Archive der DEFA-Stiftung. Was ich Dir aber zeigen kann, sind Die erfolgreichsten DDR-Filme in der DDR, da sind die beiden allerdings nicht dabei.

Die Aufführungsdaten für Der Kinnhaken: Erstaufführung: 29.11.1962 Kino DDR/25.10.1963 DFF 1/29.6.1999 Video. Und für Und Deine Liebe auch: Erstaufführung: 27.9.1962 Kino DDR/13.9.1963 DFF 1. Also einen offiziellen Kinostart hatten beide Filme in der BRD nicht. In der westdeutschen Zeitschrift Filmkritik gibt es aber in der Ausgabe 6/1964 einen Text von Ulrich Gregor zu dem Film Und Deine Liebe auch, das spricht dafür, dass es vielleicht doch eine Aufführung in Clubs oder auf einem Festival gegeben hat - es sei denn, Gregor hat den Film in Ost-Berlin gesehen. Nach der Wende wurde der Film Und Deine Liebe auch übrigens am 28. Juli 1994 im ORB gezeigt. Der Kinnhaken hatte keine TV-Termine.

Bei der Gelegenheit möchte ich Dich auf einen ebenfalls vergessenen DEFA-Film hinweisen, ich habe ihn in den 1990er-Jahren im Babylon-Kino gesehen. Bis jetzt ist er immer noch nicht auf DVD erschienen und im TV ist er auch nicht gezeigt worden: Dabei ist Chiffriert an Chef - Ausfall Nr. 5 ein aufschlußreicher Film [aus dem Jahr 1979] über die Stasi und das Verhalten von Führungsoffizieren [zur Zeit des Mauerbaus 1961].

Donnerstag, 27. August 2009

Besuch bei der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen (BStU)


Antrag eines Betroffenen auf Einsichtnahme heißt es im Kopf des Formulars, das sich jeder auf der Website der „Bundesbauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ aus dem Internet herunterladen kann. Das hatte ich bereits im Juni getan, und ich hatte es gleich ausgedruckt und ausgefüllt - um es dann aus Zeitmangel liegen zu lassen. Heute nun als erste Amtshandlung nach den Ferien ein Besuch bei der bei der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen, kurz BStU. So kürzt sich die Stasi-Unterlagen-Behörde selbst offiziell ab, die Aufnahme rechts zeigt ihren Amtssitz in der Karl-Liebknecht-Straße 31 in Berlin-Mitte (Copyright by BStU).

Warum jetzt? Der ausgefüllte Antrag lag zwei Monate rum, aber im Grunde genommen habe ich mir fast zwanzig Jahre Zeit gelassen, ihn zu stellen. Dabei befindet sich die Birthler-Behörde heute schräg gegenüber meiner alten Wirkungsstätte Guter Rat, der in den 1990er Jahren im früheren ADN-Gebäude Liebknecht/Ecke Mollstraße untergebracht war. Seinerzeit war der Andrang nach Akteneinsicht aber riesengroß, da schien es mir angemessen, den ernstlich Betroffenen den Vortritt vor einem wie mir zu lassen, der nur neugierig ist. Und dann ließ die Neugier nach.

Die Enthüllung, dass der West-Berliner Polizist, der Benno Ohnesorg erschoss, ein Ost-Berliner Agent der Staatssicherheit war, war der Weckruf (siehe meinen Eintrag vom 2. Juni 2009 weiter unten). Jetzt wollte ich es wissen: Wer hat uns denn seinerzeit versucht auszuspionieren und zu manipulieren? An der Oberschule, an der Universität, in den politischen Gruppen und später bei Zitty? Da gab es ganz bestimmt und stets geheime Informanten der Staatssicherheit; die Einflussagenten der SEW traten ja öffentlich auf, die kannten wir, sie konnten wir attakieren und isolieren, wo wir, die Anti-DDR-Linke, die Mehrheit hatten.

Antirevisionistische Linke hieß das im damaligen Sprachjargon. Aus heutiger Sicht war es eine überwiegend totalitäre Konkurrenz; denn auch die Spontigruppen, die neben den offen stalinistischen K-Gruppen die Hauptmacht der "revolutionären Linken" stellten, waren antiamerikanisch, antiparlamentarisch, antikapitalistisch, kurz antidemokratisch im Sinne des Grundgesetzes. Der SED-Führung war diese Konkurrenz ein Dorn im Auge, deshalb behielt sie sie im Auge. Es würde mich wundern, wenn ihre Agenten auf mich kein Auge geworfen hätten. Andererseits: No evidence of existence is not an evidence of non-existence - kein Beweis für die Existenz [einer Akte] ist kein Beweis der Nichtexistenz [seinerzeitigen Ausspionierens]. Schaun wir mal.

Eines steht heute schon fest: Die Linke konnte die Landplage, die sie heute ist, erst werden, nachdem sich ihre totalitäre Konkurrenz in Luft aufgelöst hatte. Das war spätestens 1989 mit der Kapitulation des realen Sozialismus der Fall. Und erst jetzt, zwanzig Jahre danach, mit dem Verblassen der Erinnerung an die Schrecken des Realsozialismus kann Die Linke ihr Alleinstellungsmerkmal voll zur Geltung bringen: Vertreterin des idealen Sozialismus zu sein, den die DDR nur deshalb nicht verwirklichen konnte, weil sie für diese große Idee zu klein war.
Heute gibt es auf der politischen Linken keine Kraft mehr, die Die Linke in Schach hielte. Im Gegenteil, Die Linke nimmt ihrerseits die SPD in Geseiselhaft, teilt sie mit ihr doch das Ziel des demokratischen Sozialismus. Es würde mich nicht wundern, in meiner Akte, so es sie denn (noch) gibt, Namen zu finden, die heute in beiden Parteien einträchtig an diesem Projekt werkeln. Stasi-Informanten im Westen waren nämlich Gesinnungstäter; im Osten waren es Opportunisten und Karrieristen. Gemeinsam war ihnen nur eines: Es waren Wichtigtuer.
 

Mittwoch, 26. August 2009

Springer Tribunal abgesagt und doch dringend nötig


Das erste, was ich nach den Ferien erfahre, ist die Absage des Springer Tribunals. Das geht aus einer Pressemeldung der Axel Springer AG vom 22. August hervor und ist schade, wirklich jammerschade; denn die Idee hatte mir sehr gut gefallen (siehe meinen Eintrag vom 3. Juli 2009 weiter unten). Der Grund scheint zu sein, dass namhafte Beteiligte der Enteignet-Springer-Kampagne von 1968 ihre Mitwirkung versagt haben. Das geht aus einer Stellungnahme des WELT-Chefredakteurs Thomas Schmid vom gleichen Tag hervor, ebenso aus einer Begründung vom 23. August, als deren Verfasser SPIEGEL ONLINE Peter Schneider, Bernhard Blanke und Daniel Cohn-Bendit nennt.

Vierzig Jahre nach 1968 ist die ideologische Verhärtung der Nach-68er Linken deutlich verfestigter als es die ideologische Verhärtung der Vor-45er Rechten je war, die sich vierzig Jahre nach ihrer Zeit, 1985, praktisch vollkommen in Luft aufgelöst hatte. Ich kann mich jedenfalls aus diesen Jahren an keinen waschechten Nationalsozialisten mehr erinnern. Statt dessen haben wir bereits zwanzig Jahre nach dem Mauerfall wieder jede Menge waschechter Realsozialisten, mit denen sich die kleine Schar der ewig Gestrigen von 1968 zusammentun könnte, wäre da nicht ein 70er-Jahre-Rest von antirevisionistischem Vorbehalt. Den scheint Cohn-Bendit aber gerade über Bord zu werfen, wenn ich seine Einlassung bei der Sommeruniversität der französischen Sozialisten Ende August 2009 in Marseilles recht verstehe. Ich würde es bedauern, wenn es der neuen Alten Linken tatsächlich gelänge, sich die alte Neue Linke restlos einzuverleiben. [Siehe zum Thema Die Linke auch oben die beiden Schlussabsätze meines Eintrags vom 27. August 2009 anlässlich des Besuchs der Birthler-Behörde.]

Das Foto oben ist im 17. Stockwerk des Hochhauses der Axel Springer AG aufgenommen (mit Blick auf die Oranienstraße und die Bundesdruckerei - Bild lässt sich durch Anklicken vergrößern), und zwar nachträglich am 11. Januar 2010 und zeigt deshalb nicht, wie sich der Chefredakteur der Welt wegen der Absage des Tribunals vor Enttäuschung aus dem Fenster stürzt. Zu sehen ist vielmehr die Nachbildung der Figur eines Mauerspringers, die jetzt in groß und echt auf dem Vorplatz des Axel-Springer-Hauses steht. Die Skulptur heißt Balanceakt und stammt von Stephan Balkenhol. Friede Springer hat sie am 25. Mai 2009 enthüllt. Und Thomas Schmid enthüllt an jenem winterlichen 11. Januar 2010, dass es ab 17. Januar 2010 die Online-Datenbank Medienarchiv68 geben werde, in dem alle Zeitungstexte aus dem Hause Springer zur Protestbewegung der Studenten von 1966 bis 1968 nachzulesen sein werden. Prosit - es möge nützen.