Donnerstag, 31. Dezember 2009

Gorilla Bathes at Noon und tschüss 2009


Gorilla badet am Mittag ist eine der typischen Hinweistafeln für die Besucher des Berliner Zoos und hat einem Film zu seinem (englischen) Titel verholfen, der auch Tiger is fed in the morning hätte lauten können; denn neben dem Gorilla spielt der Sibirische Tiger (panthera tigris altaica) in dieser Liebeserklärung an das wiedervereinigte Berlin eine tragende Rolle: Der Filmheld, ein nach dem Abzug der Sowjetarmee in der Hauptstadt gestrandeter Rotarmist, klaut den Menschenaffen Bananen und seinen "Landsleuten" aus Sibirien, den Tigern, das Fleisch, um sich über Wasser zu halten.

Gorilla Bathes at Noon ist ein 1991-92 gedrehter Berlinfilm von Dušan Makavejev, dessen Inhalt hier kurz geschildert ist. Zum ersten Mal war der Streifen im Februar 1993 außer Konkurrenz im Wettbewerb der 43. Berlinale zu sehen und zum hoffentlich nicht letzten Mal gestern in Sacrow. Makavejevs Film bildete den Abschluss der vorzüglichen Filmreihe AugenBlicke im Schloss, auf die ich schon in früheren Einträgen (29. August 2009 und 10. Juli 2009) gut zu sprechen war. Beim Schloss handelt es sich um das Schloss Sacrow, Veranstalter der Filmreihe ist der Verein Ars Sacrow.

Die New York Times beschrieb den Film 1995 anlässlich des New York Film Festivals treffend als eine whimsical cinematic collage, zu Deutsch eine wunderliche, schrullige, absonderliche, seltsame, kurz: ziemlich schräge filmische Collage. Auf der maßgeblichen amerikanischen Bewertungsseite Rotten Tomatoes gab es dafür 67 % Zustimmung auf dem Tomatometer und den 59. Rang auf der Top-150-Liste der Besten unveröffentlichten fremdsprachigen Filme der New Yorker Zeitschrift Film Comment. Da kann sich Ars Sacrow über ein Mitglied freuen, dessen Arbeit auch in Amerika Anklang findet (oben rechts im Bild Gorilla-Produzent Joachim von Vietinghoff, der gestern in den Film eingeführt hat und hier dabei ist, die Bonbons Babelsberger Schüler und ein Making-Of dieses Kurzfilms als Zugabe anzukündigen).

Goodbye Lenin hätte der Film besser heißen sollen; denn um den Abschied vom roten Diktator ging es Regisseur Makavejev, der noch im Königreich Jugoslawien zur Welt gekommen war (1932) und die Niederkunft des realen Sozialismus in seiner Heimat erlebt hatte (1945). Goodbye Lenin ist wörtlich zu nehmen; denn wir sehen im Film die Demontage und Deportation des riesigen Lenindenkmals vom einstigen Leninplatz in Friedrichshain, der heute Platz der Vereinten Nationen heißt. Der Abbau der weltberühmten Monumentalfigur von Nikolai Tomsky, von dem auch das Moskauer Leninmausoleum in seiner heutigen Gestalt stammt, begann am 8. November 1991. Makavejev war vorher und währenddessen mit seiner Kamera und seinem Hauptdarsteller dabei und drehte seine Spielfilmhandlung in diesen Echtzeitrahmen eingebettet. Das ist wirklich unglaublich zu sehen, wie der echte Leninkopf und der falsche Rotarmist vom Platz fahren.

Die filmische Collage, von der die New York Times spricht, ist Gorilla Bathes at Noon aber nicht nur wegen der eingebundenen Originalaufnahmen von der Entsorgung eines Überbleibsels des realen Sozialismus (der neuerdings eine virtuelle Wiederauferstehung erlebt), sondern auch wegen der in die Spielfilmhandlung einbezogenen historischen Filmaufnahmen von dessen Ankunft im April 1945. Allerdings benutzt Makavejev nicht wie (von IMDb) behauptet Szenen aus dem berühmten Dokumentarfilm Berlin (1945) von Yuli Raizman und Yelizaveta Svilova, der den amerikanischen Verleihtitel The Fall of Berlin trägt und in einer nachgestellten Szene das Hissen der Hammer-und-Sichel-Fahne auf dem Reichstag zeigt - in Schwarzweiß. Statt dessen arbeitet Makavejev mehrere Sequenzen aus dem Farbfilm Padeniye Berlina (1949) von Mikheil Chiaureli ein, der ebenfalls unter dem US-Titel The Fall of Berlin läuft und das Hissen der Sowjetflagge im Rahmen der Spielhandlung hoch theatralisch auf die ausgebrannte Kuppel des Reichstags verlegt, wo es in echt nun überhaupt nicht stattgefunden hat.

Stalin landet auf dem Flughafen von Berlin und wird dort 1945 von den Eltern des Sowjetsoldaten begrüßt, den Makavejev durch das Berlin von 1992 geistern lässt. Auch diese Szene aus Padeniye Berlina (hier auf Youtube) hat es in echt nicht gegeben. Stalin hatte Flugangst und war im August 1945 mit dem Zug aus Moskau direkt nach Potsdam zur (Potsdamer) Konferenz gereist. Und wir sehen natürlich auch nicht Stalin, sondern Micheil Gelowani, der seit 1938 bis zum Tode des Diktators 1953 in 14 Propagandafilmen den Stalin gab. Der war ein Georgier - und Gelowani ebenso, und auch Regisseur Chiaureli war Georgier! Den Fall von Berlin (Padeniye Berlina) brachte er Anfang 1949 als Zweiteiler aus Anlass von Stalins 70. Geburtstag (der auch für mein Schicksal bedeutsam war) in die sowjetischen Kinos. Aus diesem Propagandaschinken schöpft Makavejev mit vollen Händen, und eben diese Mischung aus historischem Spielfilm, aktueller Spielhandlung und Dokumentarfilm, der sich so nahtlos im Spielfilm fortsetzt wie der sich unbekümmert an den historischen Spielfilm (der wie ein Dokumentarfilm wirken sollte und es noch tut) anlehnt - mit dieser Collageform erzeugt Gorilla Bathes at Noon eindringliche Bilder, die lange nachwirken.

Schade, dass die Filmreihe zum Mauerfall nun vorbei ist. Schön, dass es im Jahr 2010 eine Fassbinder-Retro in Sacrow geben soll. Das kündigte der Spiritus Rector der AugenBlicke im Schloss an. Rainer Werner Fassbinder, Jahrgang 1945, wäre 2010 am 31. Mai 65 geworden, wenn er nicht 1982 schon gestorben wäre, in demselben Jahr, in dem kurz zuvor Konrad Wolf gestorben war. Fassbinder hätte Wolf, nach dem die Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen benannt ist (HFF Konrad Wolf), sehr geschätzt, und deshalb sei eine Doppel-Retro ins Auge gefasst. Das bestätigte und begrüßte Juliane Lorenz, Präsidentin und Geschäftsführerin der Rainer Werner Fassbinder Fondation, die nach Sacrow gekommen war und die geplante Retrospektive mit vorbereiten wird. Das verspricht spannend zu werden.

Da bedauere ich es ein klein wenig, ausgerechnet jetzt wieder nach Berlin in die Stadt zu ziehen, wo ich es doch von Kladow aus in 12 Minuten zum Schloss schaffe. Aber vielleicht will ein Filmfreund des Ars Sacrow aus Berlin den umgekehrten Weg gehen und die Schlossnähe in Kladow suchen: Mein Haus (ein original 60er-Jahre-Architektenbau) steht hier zum Verkauf (bitte weitersagen). Im übrigen bleibe ich der Meinung, dass es eine Schande ist, dass all die anregenden Filme der Sacrower Filmreihe zum Mauerfall im Jubiläumsjahr nicht auch im gebührenfinanzierten Fernsehen liefen. Und das war's dann für den heutigen Silvestertag: Gorilla Bathes at Noon und tschüss 2009.
 

Mittwoch, 25. November 2009

Die Anwälte oder Was geschah mit Otto, Horst und Hans-Christian?


So voll habe ich das Kreuzberger Programmkino fsk noch nie erlebt. Beinahe ausverkauft war der große Saal gestern Abend, und das an einem Dienstag mitten in der Woche. Allerdings hat der Film Die Anwälte von Birgit Schulz einen Protagonisten, der in Kreuzberg ein Star ist: Hans-Christian Ströbele, der im September 2009 im Wahlkreis 84, zu dem Kreuzberg gehört, 73.721 Erststimmen erzielte und mit 46,8 Prozent ein Direktmandat für den Deutschen Bundestag gewann. Auch die beiden anderen Protagonisten sind hier keine Unbekannten: Otto Schily und Horst Mahler, zusammen mit Hans-Christian Ströbele sind sie "Die Anwälte".

Die Dokumentarfilmerin Birgit Schulz hat bereits für etliche Fernsehdokumentationen, hauptsächlich für WDR/arte, Preise eingeheimst. Ihrem ersten Kinofilm gab sie den Untertitel "Eine deutsche Geschichte", und ich bin sicher, dass es dafür weitere Preise geben wird. Das wäre mir recht; denn dieser Dokumentarfilm ist schon deshalb so sehenswert, weil die Autorin es schafft, sich selbst vollkommen zurückzunehmen, sich kein bisschen wichtig zu machen und statt dessen die Anwälte zu Wort kommen zu lassen. Sie sind es, die eine deutsche Geschichte erzählen - und zwar aus drei verschiedenen Blickwinkeln. Das genügt, um klar zu machen: Dieses Kapitel der deutschen Geschichte ist unabgeschlossen.

Was geschah mit Otto, Horst und Hans-Christian? Einst waren sie linke Anwälte und verteidigten 1967/68 und danach Aktivisten der APO, später der RAF. Und heute? Otto Schily ist Bundesinnenminister a.D. und Sozialdemokrat. Horst Mahler ist NPD-Anwalt a.D. und Nationalsozialist. Hans-Christian Ströbele ist Grüner im Dienst und Radikalsozialist. Was sagt das über 68 und die Folgen? Rein statistisch sagt es, dass sich zwei Drittel der Protagonisten von der totalitären Ideologisierung der antiautoritären Bewegung nie gelöst haben (eines hat obendrein noch die Farbe gewechselt: von Rot auf Braun). Und dass das letzte Drittel eine libertäre Haltung vertritt, die es heute, nach der aktuellen Reideologisierung von Sozialdemokraten und Grünen, in den beiden Parteien mit 68er Vergangenheit kaum noch gibt.

Lesenswert ist das Begleitheft zum Film, das neben anderen nützlichen Materialien auf der Website zum Film zu finden ist. Hörenswert ist die Filmmusik von Pluramon. Sehenswert ist dieser Film (er läuft nur in wenigen deutschen Kinos) für alle Fünfzigjährigen und Sechzigjährigen, die damals irgendwie dabei oder angesteckt waren und ebenso für Menschen aller Altersgruppen, die diese Zeit nur vom Hörensagen oder aus dem Fernsehen (DDR-Bürger) kennen und spüren, dass sich damals eine deutsche Geschichte ereignete, deren offene Wunden heute noch nicht geheilt sind. Sehr gut, dass dieser Film keine neue Wunde aufreißt und Teil der Lösung und nicht Teil des Problems ist wie der Baader-Meinhof-Film, den Das Erste am Wochenende mit großem Tamtam (einschließlich Gewinnspiel) ausstrahlte (meine negative Bewertung des Films hatte ich bereits in einem Eintrag am 12. Januar 2009 verdeutlicht).
 

Donnerstag, 22. Oktober 2009

Broders Kritik am Zentralrat: Die Grundhaltung stimmt

 
Ob Henryk M. Broders Beschreibung der Befähigung des Führungspersonals des Zentralrats der Juden zutrifft, vermag ich nicht zu beurteilen. Dass der im Text erwähnte Generalsekretär keine Ahnung hat, wovon er redet, ist mir auch schon aufgefallen (siehe meinen Blogeintrag vom 10. Oktober 2009 unter http://docbieling.blogspot.com). Was Broders Bewerbungsschreiben für das Amt des Präsidenten des Zentralrats so lesenswert macht, ist die libertäre Grundhaltung, mit der er alle totalitären Anmaßungen gleichermaßen zurückweist. Diese Haltung ist selten geworden in Deutschland, und deshalb ist es gut, dass er sich für ein Amt bewirbt, das eben nicht ohne Ansehen der Person zu beurteilen ist.
Der Eintrag bezieht sich auf diesen Artikel: Henryk M. Broder: Meine Kippa liegt im Ring (view on Google Sidewiki)

Nachsatz: Henryk M. Broder hat seine Kandidatur inzwischen zurückgezogen, wie Spiegel online mitteilt.
 

Samstag, 10. Oktober 2009

Kopftuchmädchen


Lettre International ist über jeden Verdacht erhaben, eine Zeitschrift zu sein, die Gedankengut verbreitet, das "Göring, Goebbels und Hitler große Ehre erweist". In "geistiger Reihe mit den Herren" zu stehen, macht ein deutscher Verbandssprecher nun einem Gesprächspartner des Lettre-Chefs Frank Berberich zum Vorwurf. Berberich, der zum Gründerkreis der taz gehört, hat in der Ausgabe 86 Berlin auf die Couch gelegt (rechts die Abbildung des aktuellen Titelbilds, das Heft gibt es überall hier) und sich mit Thilo Sarrazin über die Hauptstadt unterhalten. Eine gute Idee; denn der fühere Finanzsenator weiß, wie es um Berlin steht. Wer Augen hat zu sehen und ein Hirn, das Gesehene gedanklich zu bewältigen, wird zu keinem nennenswert anderen Befund kommen. Vor 25 Jahren habe ich vergleichbare Interviews in Zitty veröffentlicht. Ich erinnere mich an eines mit Heinrich Lummer, einem CDU-Rechtsaußen und bis 1986 Innensenator. Thilo Sarrazin ist SPD-Mitglied. Ich hätte ich so ein Gespräch, wie es Frank Berberich mit ihm geführt hat, ebenfalls ohne mit der Wimper zu zucken veröffentlicht. Zum Hitler-Sarrazin-Vergleich hat Henryk M. Broder im immer lesenswerten Blog Die Achse des Guten (und deshalb links in der Randspalte einer meiner ständigen Blogtipps) das Nötige schon gesagt.

Wer Anschauungsunterricht nehmen möchte, wie es sich mit jenem Teil der Berliner Bevölkerung verhält, der "für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert", der mag sich um zehn vor acht vor eine Grundschule am, sagen wir, Kottbusser Tor stellen und Augen und Ohren offen halten, mehr ist gar nicht nötig. Wer Anschauungsunterricht nehmen möchte, worin der Unterschied zwischen Nationalsozialisten wie Göring, Goebbels und Hitler auf der einen und einem Sozialdemokraten wie Thilo Sarrazin auf der anderen Seite besteht, der lese den ganzen Text, und den gibt es hier und an zahlreichen Verkaufsstellen. Ich empfehle für 17 Euro den Erwerb der kompletten Zeitschrift, weil Lettre International Nummer 86 ein Füllhorn ist, voll von Blumen (Bildern) und Früchten (Texten) aus und über Berlin. Im übrigen handelt es sich bei besagten Kopftuchmädchen um kein ethnisches Phänomen, sondern um ein ideologisches. Dazu bietet die Rubrik Meine Buchtipps in der linken Randspalte weiter unten vielfälige Anregungen zum Weiterlesen.
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Postscriptum
Der haarsträubende Vergleich des Sozialdemokraten Sarrazin mit den Nationalsozialisten Göring, Goebbels und Hitler hat Henryk M. Broder offenbar dermaßen auf die Palme gebracht, dass er gestern, am 21. Oktober 2009, seine Kandidatur für das Amt des Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland öffentlich im Berliner Tagesspiegel bekannt gegeben hat - ein wegen der darin zum Ausdruck gebrachten libertären Grundhaltung lesenswertes Bewerbungsschreiben. Ha, Google hat seit heute ein neues Instrumnt namens Sidewiki. Damit lassen sich Websites oder einzelne Beiträge darauf oder Teile derselben kommentieren. Die Bemerkungen sind für alle, die ebenfalls Sidewiki in ihrer Browser-Toolbar installiert haben, öffentlich zu sehen. Sie lassen sich auch gleich weiterleiten, mit Email oder an ein Blog. Das habe ich soeben ausprobiert und siehe da - oben, in meinem nächsten Blogeintrag vom 22. Oktober, ist der Kommentar zum Broder-Artikel im Tagesspiegel nachzulesen.

Postscriptum 2 Die Frankfurter Allgmeine Sonntagszeitung hat bereits am 18. Oktober 2009 in einem blendend recherchierten und glänzend geschriebenen Beitrag von Volker Zastrow die Hintergründe der Bundesbank ausgeleuchtet, die offenbar gezielt und absichtsvoll eine Sarrazin-Falle aufgestellt und hat zuschnappen lassen, um ihr Vorstandsmitglied "über die Bande gespielt" abschießen zu können. Die "Bande" ist hier das künstliche Erregen eines öffentlichen Ärgernisses - lesenswerte Story!

Die Geschichte nimmt heute, am 27. November, die nächste Wendung. Nun verklagt Lettre die Bild-Zeitung wegen Content-Klaus (also Inhalte-Diebstahls), wie die Mediendienste kress und Meedia berichten. Dagegen wehrt sich der Bild-Chefredakteur in seinem Blog - alles höchst amüsant für uns Zuschauer.

Dienstag, 6. Oktober 2009

Schöne alte Welt


Die Linke ist Vorhut einer virtuellen DDR und deshalb geht sie mir ja schon lange auf den Keks, wie hier auf dieser Seite verstreut, aber regelmäßig nachzulesen ist. (Links in der Randspalte gibt es weiter unten die Rubrik Labels, die das Auffinden von Inhalten durch Anklicken von Namen und Themen ungemein erleichtert). Nun hat DIE WELT meinen Essay über Die Linke und ihre virtuelle DDR unter dem Titel Schöne alte Welt veröffentlicht und zwar passgenau am 2. Oktober 2009, dem Vorabend des 19. Jahrestags der Deutschen Einheit. Der Aufsatz ist nach guter neuer WELT-Sitte gleichzeitig online erschienen (Abbildung rechts, lässt sich durch Klicken vergrößern) und hier nachzulesen.

Heute ist in der WELT ONLINE ein Leserbrief von Friedbert Groß zu dem Essay erschienen, den ich gern zitiere, weil er eine treffende Schlussfolgerung aus meinem Text zieht, nämlich den Menschen nicht länger "einzureden, dass mit dem Verschwinden der kommunistischen Diktatur die Ostdeutschen ihrer Lebensleistung beraubt würden". Den Satz lege ich besonders Herrn Thierse ans Herz, der sich neulich bei Anne Will (siehe unten Eintrag vom 23. Mai) wie ein Aal wandt, der das Wort Unrechtsstaat nicht ausspucken wollte.

Mit Interesse und großer Zustimmung habe ich den Essay von Rainer Bieling über die geistige, mentale Situation nach der so genannten friedlichen Revolution und die Rolle, die die alten DDR-Eliten dabei spielen, gelesen. Für bemerkenswert halte ich, dass eine westdeutsche Persönlichkeit, die 1990 eine leitende Position in einer ostdeutschen Zeitschrift übernahm, kritisch auf ihre Tätigkeit zurückblickt, ja dabei nachwirkende Versäumnisse einräumt. Deswegen zolle ich dem Verfasser Respekt.

Auch wenn die beschriebene Entwicklung mehr oder weniger für alle gesellschaftlichen Felder gilt, wiegen die Defizite im Bereich der Medien besonders schwer, weil, statt Zuversicht und Aufbruchsstimmung zu befördern, oft die alten Ressentiments der Klassenkampfideologie geschürt wurden. Am Beispiel einer Zeitschriftenredaktion macht Rainer Bieling deutlich, wie auch in anderen Medien – ich denke hier vor allem an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk – unter den (wegschauenden) Augen der aus dem Westen kommenden Führungskräfte die SED–PDS ihre Strategie realisierte, nämlich den Menschen einzureden, dass mit dem Verschwinden der kommunistischen Diktatur die Ostdeutschen ihrer Lebensleistung beraubt würden. Gewiss, das Versäumte lässt sich nicht einholen. Aber auch dieses Kapitel der jüngsten deutschen Geschichte bedarf dringend der Aufarbeitung.

Samstag, 19. September 2009

1968 oder Was war, was bleibt


Ha, das ist doch ein Bild für die Götter: Von links nach rechts icke, Rainer Langhans, Detlev Claussen. Anlass für das Gruppenbild (lässt sich durch Anklicken vergrößern): eine Podiumsdiskussion zur Frage 1968 - Was war, was bleibt? am 17. September bei der Friedrich-Ebert-Stiftung auf dem Bonner Venusberg. Also, was bleibt, ist schnell gezeigt: eine harmonische Runde älterer Herren (hier die Beweisfotos), die angenehm entspannt positive Impulse und negative Effekte von Achtundsechzig auseinander zu halten wissen.

In so friedlicher Eintracht hätten wir drei seinerzeit sicher nicht zusammen gesessen. Das liegt nicht daran, dass wir heute einer Meinung wären. Aber wir haben unterdes verstanden, dass vielseitige Ereignisse eine Vielfalt von Bewertungen hervorbringen. Von denen mögen etliche abwegig sein, andere sind es nicht und können ohne weiteres nebeneinander bestehen. Ja, und was war? Ich versuche es mal in drei Sätzen.

Sensibilisierung, 1964-66: Es war einmal eine subkulturelle Jugendbewegung in der westlichen Welt, deren Freiheits- und Selbstbestimmungsbedürfnis der offenen Gesellschaft Freiräume abforderte, die seinerzeit nicht vorgesehen waren. Der Zusammenstoß der vornehmlich Jungen mit den überwiegend Alten war zwar auch ein Generationenunfall, aber mehr noch die Kollision von Grundhaltungen, von antiautoritärem Infragestellen und autoritärem Beharren. Das konnte nicht gut gehen; denn keine Seite, weder die Protestler noch das Establishment, hatten Erfahrung im Umgang mit einem Innovationsschub, der aus den Tiefen des Marktes kam (als Markt- und Mentalitätsinnovation) und so tat, als ginge es um die (Kommando-)Höhen des Staates.

Politisierung, 1967-68: Es war einmal eine sozialistische Linke, die mit den Erfolgen der Marktwirtschaft in der westlichen Nachkriegswelt und dem offenkundigen Scheitern der sozialistischen Staatswirtschaft im Ostblock jede Rechtfertigung verloren hatte. Anfang der 1960er Jahre war sie am Ende und überlebte nur in stasigesteuerten Tarnorganisationen und selbstorganisierten Akademikerzirkeln (SDS). Als aber Jugendbewegung und Polis (Staat und Gesellschaft, Gesetz und Konvention) 1967, 1968 aneinandergerieten, Schüsse fielen und Menschen, politisierten sich die Akteure und fanden Antworten bei den Neuen Linken des SDS, die über Nacht an der Spitze einer außerparlamentarischen Opposition (APO) gegen die Notstandsgesetzgebung marschierten - und grandios scheiterten.

Ideologisierung, 1969-70 ff.:
Es war einmal eine antiautoritäre Protestbewegung, die Maß und Ziel verloren hatte und zur leichten Beute von sozialistischen Ideologen wurde: neue Autoritäten braucht das Land. "Marx, Engels, Lenin, Stalin - Mao Tse-tung!" (Ja, Pause vor und Betonung auf dem letzten Namen.) Das substitutiv Antiautoritäre (das Ersetzen einer falschen Autorität durch eine wahre) siegte in den 1970er Jahren über das alternativ Antiautoritäre (das Ersetzen autoritärer Herrschaft durch nicht-autoritäre Machtausübung). Das geht nun seit zweieinhalb Tausend Jahren so: Die totalitären Kommandogruppen (die mit der Wahheit im Sturmgepäck) siegen immer über die antiautoritären Haufen (die eben nur wissen, was sie nicht wollen). Den Sozialismus in seinem Lauf hielten dann aber Ochs und Esel auf: Im Westen verschwand er in den 1980ern stillschweigend, im Osten kollabierte er 1989 mit Knall und (Mauer-)Fall.

Was war das, 1968? In der Rückschau vermengen sich die Dimensionen (drei habe ich gennannt) und die Projektionen (da sind zahllose möglich). Aus heutiger Sicht, da Die Linke so tut, als sei ihr Sozialismus nie vom Fenster weg gewesen, neige ich zu folgender Einsicht: Staatsfixierte Ideologien sind marktorientierten Wertvorstellungen überlegen, nicht weil sie besser wären, sondern wegen der Beseeltheit ihrer Akteure, die Welt von einem Punkt her aushebeln zu können. Das Pluriversum von Einigkeit und Recht und Freiheit unterliegt stets dem Universum der Einheit. Die SPD hat das 1933 schmerzlich erlebt, als sie der nationalsozialistischen Einheit des Volkes nichts entgegenzusetzen hatte (die der NS-Staat verwirklichte). Und noch einmal 1946, als sie der realsozialistischen Einheit der Arbeiterklasse fern blieb (die dann der SED-Staat betrieb). So gesehen ist 1968 2009 für mich eine Mahnung, für die SPD eine Warnung.

Es war schön, bei der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) auf Leute zu treffen, denen sich solche Überlegungen vortragen ließen. (Mein Blog beginnt mit einer gegenteiligen Erfahrung - siehe den ersten Eintrag vom 12. April 2008.) Danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, dass sie mein Insistieren auf dem Markt als Quelle von Lebensstil- und Mentalitätsinnovationen nicht von vornherein abgetan haben. Danke den beiden Seminarleiterinnen Jeanette Seiffert und Christiane Reiser, die schon mit der Themenstellung Die 68er Bewegung als Katalysator für die moderne Konsumgesellschaft den richtigen Akzent gesetzt hatten. Danke den beiden Mitdiskutanten auf dem Podium, Detlev Claussen und Rainer Langhans, denen mit Vergnügen und Gewinn zuzuhören war. Danke auch Alena Biegert, die uns so fotogen ins Bild gesetzt hat. Doch, bei der FES macht SPD-Nähe Freude. Im übrigen bleibe ich der Meinung, mein ceterum censeo: Ohne Sozialismus geht es besser.

Samstag, 29. August 2009

Der Kinnhaken oder Wie Manfred Krug 1962 den Mauerbau mit viel Selbstironie rechtfertigt


Hut ab vor so viel Raffinesse! Ich hatte platte Propagandafilme erwartet, aber was die Deutsche Film AG, kurz DEFA, da ein Jahr nach dem Mauerbau in die Ost-Berliner und ostzonalen Kinos brachte, war in beiden Fällen filmische Rechtfertigung vom Feinsten. Gestern liefen im Rahmen der Reihe zum Mauerfall zwei DEFA-Streifen aus dem Jahr 1962 im Schloss Sacrow (das Kino-Projekt von Ars Sacrow unter der Leitung von Joachim von Vietinghoff hatte ich schon weiter unten in meinem letzten Eintrag vor den Ferien am 10. Juli mit Beifall bedacht), die belegen, dass es in grauer Vorzeit tatsächlich in der Zone Menschen gegeben hatte, die die DDR für das bessere Deutschland hielten und diese schon seinerzeit ziemlich abwegige Überzeugung auch mit filmischen Mitteln zu veranschaulichen in der Lage waren. Doch der Reihe nach.

Am 29. August 1962, nur gut zwei Wochen nach dem ersten Jahrestag des Mauerbaus, kommt Frank Vogels Film ... und Deine Liebe auch in die Kinos der Deutschen Demokratischen Republik. Das Drehbuch stammt von Paul Wiens. Die männliche Hauptrolle spielt Armin Mueller-Stahl, geboren in Tilsit (einst Ostpreußen, gehört heute unter dem Namen Sowjetsk zu Russland), 1962 noch keine 32 Jahre alt und in diesem seinem siebten Film (von insgesamt 131 Filmen bis zu den Illuminati 2009) bereits ein Star. Die weibliche Hauptrolle gibt die mit 21 Jahren gerade volljährige Catherine, genannt Kati Székely, geboren in New York City, aufgewachsen in Mexiko, Tochter des 1938 aus Deutschland in die USA emigrierten ungarischen UFA-Drehbuchautors und späteren Oscar-Preisträgers János Székely. 1956 zieht Familie Székely nach Potsdam, wo Vater János für die Babelsberger DEFA Drehbücher schreibt und Tochter Kati vor der Kamera steht. Der Film ist eine Liebesgeschichte, den Plot fasst der zuständige Filmverleih Progress hier zusammen.

Am 30. November 1962, nur ein Viertel Jahr später, kommt der zweite Mauerbau-Streifen in die DDR-Kinos: Heinz Thiels Film Der Kinnhaken. (Die Abbildung oben rechts zeigt das Filmplakat mit Manfred Krug und Dietlinde Greiff in der aktuellen DVD-Version von Icestorm, ebendort oder bei Amazon für rund 14 Euro erhältlich oder in öffentlichen Bibliotheken ausleihbar, allerdings nur mit Vormerkung und auch nur in Ost-Berlin sowie in der Berliner Zentral- und Landesbibliothek AGB, der Amerika-Gedenkbibliothek.) Das Drehbuch ist ein Gemeinschaftswerk des späteren Erich-Weinert-Preisträgers Horst Bastian und des späteren Telekom-Volksaktien-Werbeträgers Manfred Krug, der auch, gerade 25 Jahre alt, die männliche Hauptrolle übernimmt. Die weibliche Hauptrolle, ein junges Barmädchen, das eigentlich in den Westen abhauen will, spielt die 23-jährige Dietlinde Greiff, die sechs Jahre später, 1968, tatsächlich rübermacht, die Schauspielerei aufgibt und nie wieder vor der Kamera stehen wird. Wie ... und Deine Liebe auch ist Der Kinnhaken ein Liebesfilm, den Plot hat wiederum Progress.

Es sind Twens, die vor der Kamera stehen (nur Mueller-Stahl ist mit 32 seinen Zwanzigern bereits entwachsen), und Twens sind wohl auch die Zielgruppe dieser beiden Filme: Die Jungen sind es, die der DDR zu Hunderttausenden bis zu jenem Sonntag, dem 13. August 1961, den Rücken gekehrt hatten, die tüchtigen Arbeiter, Handwerker, Akademiker, die es zu was im Leben bringen und sich nicht von einem unfähigen Regime ihr Leben versauen lassen wollten. Der Spielwitz und die Selbstironie des Krug-Drehbuchs für Der Kinnhaken, die moderne Musik und die modische Kleidung in ... und Deine Liebe auch sprechen eine deutliche Sprache und setzen auf klare Symbolik. Handwerklich perfekt in Kameraführung, Bildideen und Schnitt sind es zwei Spielfilme, die so subtil wie raffiniert Propaganda für das Dableiben im realen Sozialismus und gegen das Abhauen in den dekandenten Westen machen, wie ich es der DDR nicht zugetraut hätte.

Aber es hat der DDR nix genutzt. Drei der vier Hauptdarsteller sind ihr lange vor dem Mauerfall abhanden gekommen (Greiff 1968, Krug 1977, Mueller-Stahl 1980), der Rest des Staatsvolkes machte sich im Sommer 1989 auf die Socken. Die beiden Filme zeigen ungewollt, warum. Es ist nicht so sehr die technische Rückständigkeit, die zu sehen ist (Glühbirnen erhalten ihren Glühfaden bei Narva augenscheinlich in Handarbeit eingepfropft) und die von Krug auch auf die Schippe genommen wird. Es ist die geistige Rückständigkeit des realen Sozialismus: ein unfassbar reaktionäres Frauenbild, dem das Zubereiten einer Kohlroulade zum höchsten Glück wird, das die Frau dem Mann ihrer Träume bescheren kann. (Die scheinbare Emanzipation der Frau durch den Sozialismus kam daher, dass jede Frau berufstätig sein musste, um das Millionenloch an Arbeitskräften zu stopfen, das in der DDR durch die Massenflucht, in Russland durch den Massenmord, entstanden war.) Damit einhergehend ein unsäglich biederes Männerbild, das den ehrpussligen Amateurfunker und Hobbybastler zum vorbildlichen Betriebskampfgruppenobmann wachsen lässt. Mit solchen Charakteren lässt sich eine Staatswirtschaft betreiben, bis sie alle vorhandenen Resourcen verbraucht hat. Etwas Neues, wie es die Marktwirtschaft jeden Tag hervorbringt, lässt sich solcherart zugerichteten Frauen und Männern nicht schaffen.

Ich danke allen Beteiligten, denen von damals wie denen von gestern, für diese Einsicht. Und frage mich erneut (wie schon im Eintrag vom 10. Juli angedeutet), warum ich sie einer unentgeltlich tätigen Privatinitiative verdanke und nicht dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das ich mit 215,76 EUR jährlich alimentiere, ohne auch nur den geringsten Einfluss ausüben zu können. Im Gegenteil habe ich es mit öffentlich Bediensteten zu tun, die nicht müde werden zu erklären, sie wüssten schon, was gut für mich ist. Erinnert mich irgendwie an die Argumentation der beiden Brigadiers Mueller-Stahl und Krug. Aber die hatten es besser: Sie konnten der DDR die Freundschaft kündigen.
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Postscriptum:
Zu meinen Ermittlungen, wie erfolgreich die beiden Filme seinerzeit beim DDR-Publikum waren, schreibt mir mein früherer Zitty-Kollege Manfred Hobsch, seinerzeit unser Filmredakteur:
Die Frage nach den Besucherzahlen in der DDR ist nicht so einfach, da müsste man wohl in die Archive der DEFA-Stiftung. Was ich Dir aber zeigen kann, sind Die erfolgreichsten DDR-Filme in der DDR, da sind die beiden allerdings nicht dabei.

Die Aufführungsdaten für Der Kinnhaken: Erstaufführung: 29.11.1962 Kino DDR/25.10.1963 DFF 1/29.6.1999 Video. Und für Und Deine Liebe auch: Erstaufführung: 27.9.1962 Kino DDR/13.9.1963 DFF 1. Also einen offiziellen Kinostart hatten beide Filme in der BRD nicht. In der westdeutschen Zeitschrift Filmkritik gibt es aber in der Ausgabe 6/1964 einen Text von Ulrich Gregor zu dem Film Und Deine Liebe auch, das spricht dafür, dass es vielleicht doch eine Aufführung in Clubs oder auf einem Festival gegeben hat - es sei denn, Gregor hat den Film in Ost-Berlin gesehen. Nach der Wende wurde der Film Und Deine Liebe auch übrigens am 28. Juli 1994 im ORB gezeigt. Der Kinnhaken hatte keine TV-Termine.

Bei der Gelegenheit möchte ich Dich auf einen ebenfalls vergessenen DEFA-Film hinweisen, ich habe ihn in den 1990er-Jahren im Babylon-Kino gesehen. Bis jetzt ist er immer noch nicht auf DVD erschienen und im TV ist er auch nicht gezeigt worden: Dabei ist Chiffriert an Chef - Ausfall Nr. 5 ein aufschlußreicher Film [aus dem Jahr 1979] über die Stasi und das Verhalten von Führungsoffizieren [zur Zeit des Mauerbaus 1961].

Donnerstag, 27. August 2009

Besuch bei der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen (BStU)


Antrag eines Betroffenen auf Einsichtnahme heißt es im Kopf des Formulars, das sich jeder auf der Website der „Bundesbauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ aus dem Internet herunterladen kann. Das hatte ich bereits im Juni getan, und ich hatte es gleich ausgedruckt und ausgefüllt - um es dann aus Zeitmangel liegen zu lassen. Heute nun als erste Amtshandlung nach den Ferien ein Besuch bei der bei der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen, kurz BStU. So kürzt sich die Stasi-Unterlagen-Behörde selbst offiziell ab, die Aufnahme rechts zeigt ihren Amtssitz in der Karl-Liebknecht-Straße 31 in Berlin-Mitte (Copyright by BStU).

Warum jetzt? Der ausgefüllte Antrag lag zwei Monate rum, aber im Grunde genommen habe ich mir fast zwanzig Jahre Zeit gelassen, ihn zu stellen. Dabei befindet sich die Birthler-Behörde heute schräg gegenüber meiner alten Wirkungsstätte Guter Rat, der in den 1990er Jahren im früheren ADN-Gebäude Liebknecht/Ecke Mollstraße untergebracht war. Seinerzeit war der Andrang nach Akteneinsicht aber riesengroß, da schien es mir angemessen, den ernstlich Betroffenen den Vortritt vor einem wie mir zu lassen, der nur neugierig ist. Und dann ließ die Neugier nach.

Die Enthüllung, dass der West-Berliner Polizist, der Benno Ohnesorg erschoss, ein Ost-Berliner Agent der Staatssicherheit war, war der Weckruf (siehe meinen Eintrag vom 2. Juni 2009 weiter unten). Jetzt wollte ich es wissen: Wer hat uns denn seinerzeit versucht auszuspionieren und zu manipulieren? An der Oberschule, an der Universität, in den politischen Gruppen und später bei Zitty? Da gab es ganz bestimmt und stets geheime Informanten der Staatssicherheit; die Einflussagenten der SEW traten ja öffentlich auf, die kannten wir, sie konnten wir attakieren und isolieren, wo wir, die Anti-DDR-Linke, die Mehrheit hatten.

Antirevisionistische Linke hieß das im damaligen Sprachjargon. Aus heutiger Sicht war es eine überwiegend totalitäre Konkurrenz; denn auch die Spontigruppen, die neben den offen stalinistischen K-Gruppen die Hauptmacht der "revolutionären Linken" stellten, waren antiamerikanisch, antiparlamentarisch, antikapitalistisch, kurz antidemokratisch im Sinne des Grundgesetzes. Der SED-Führung war diese Konkurrenz ein Dorn im Auge, deshalb behielt sie sie im Auge. Es würde mich wundern, wenn ihre Agenten auf mich kein Auge geworfen hätten. Andererseits: No evidence of existence is not an evidence of non-existence - kein Beweis für die Existenz [einer Akte] ist kein Beweis der Nichtexistenz [seinerzeitigen Ausspionierens]. Schaun wir mal.

Eines steht heute schon fest: Die Linke konnte die Landplage, die sie heute ist, erst werden, nachdem sich ihre totalitäre Konkurrenz in Luft aufgelöst hatte. Das war spätestens 1989 mit der Kapitulation des realen Sozialismus der Fall. Und erst jetzt, zwanzig Jahre danach, mit dem Verblassen der Erinnerung an die Schrecken des Realsozialismus kann Die Linke ihr Alleinstellungsmerkmal voll zur Geltung bringen: Vertreterin des idealen Sozialismus zu sein, den die DDR nur deshalb nicht verwirklichen konnte, weil sie für diese große Idee zu klein war.
Heute gibt es auf der politischen Linken keine Kraft mehr, die Die Linke in Schach hielte. Im Gegenteil, Die Linke nimmt ihrerseits die SPD in Geseiselhaft, teilt sie mit ihr doch das Ziel des demokratischen Sozialismus. Es würde mich nicht wundern, in meiner Akte, so es sie denn (noch) gibt, Namen zu finden, die heute in beiden Parteien einträchtig an diesem Projekt werkeln. Stasi-Informanten im Westen waren nämlich Gesinnungstäter; im Osten waren es Opportunisten und Karrieristen. Gemeinsam war ihnen nur eines: Es waren Wichtigtuer.
 

Mittwoch, 26. August 2009

Springer Tribunal abgesagt und doch dringend nötig


Das erste, was ich nach den Ferien erfahre, ist die Absage des Springer Tribunals. Das geht aus einer Pressemeldung der Axel Springer AG vom 22. August hervor und ist schade, wirklich jammerschade; denn die Idee hatte mir sehr gut gefallen (siehe meinen Eintrag vom 3. Juli 2009 weiter unten). Der Grund scheint zu sein, dass namhafte Beteiligte der Enteignet-Springer-Kampagne von 1968 ihre Mitwirkung versagt haben. Das geht aus einer Stellungnahme des WELT-Chefredakteurs Thomas Schmid vom gleichen Tag hervor, ebenso aus einer Begründung vom 23. August, als deren Verfasser SPIEGEL ONLINE Peter Schneider, Bernhard Blanke und Daniel Cohn-Bendit nennt.

Vierzig Jahre nach 1968 ist die ideologische Verhärtung der Nach-68er Linken deutlich verfestigter als es die ideologische Verhärtung der Vor-45er Rechten je war, die sich vierzig Jahre nach ihrer Zeit, 1985, praktisch vollkommen in Luft aufgelöst hatte. Ich kann mich jedenfalls aus diesen Jahren an keinen waschechten Nationalsozialisten mehr erinnern. Statt dessen haben wir bereits zwanzig Jahre nach dem Mauerfall wieder jede Menge waschechter Realsozialisten, mit denen sich die kleine Schar der ewig Gestrigen von 1968 zusammentun könnte, wäre da nicht ein 70er-Jahre-Rest von antirevisionistischem Vorbehalt. Den scheint Cohn-Bendit aber gerade über Bord zu werfen, wenn ich seine Einlassung bei der Sommeruniversität der französischen Sozialisten Ende August 2009 in Marseilles recht verstehe. Ich würde es bedauern, wenn es der neuen Alten Linken tatsächlich gelänge, sich die alte Neue Linke restlos einzuverleiben. [Siehe zum Thema Die Linke auch oben die beiden Schlussabsätze meines Eintrags vom 27. August 2009 anlässlich des Besuchs der Birthler-Behörde.]

Das Foto oben ist im 17. Stockwerk des Hochhauses der Axel Springer AG aufgenommen (mit Blick auf die Oranienstraße und die Bundesdruckerei - Bild lässt sich durch Anklicken vergrößern), und zwar nachträglich am 11. Januar 2010 und zeigt deshalb nicht, wie sich der Chefredakteur der Welt wegen der Absage des Tribunals vor Enttäuschung aus dem Fenster stürzt. Zu sehen ist vielmehr die Nachbildung der Figur eines Mauerspringers, die jetzt in groß und echt auf dem Vorplatz des Axel-Springer-Hauses steht. Die Skulptur heißt Balanceakt und stammt von Stephan Balkenhol. Friede Springer hat sie am 25. Mai 2009 enthüllt. Und Thomas Schmid enthüllt an jenem winterlichen 11. Januar 2010, dass es ab 17. Januar 2010 die Online-Datenbank Medienarchiv68 geben werde, in dem alle Zeitungstexte aus dem Hause Springer zur Protestbewegung der Studenten von 1966 bis 1968 nachzulesen sein werden. Prosit - es möge nützen.

Freitag, 10. Juli 2009

Der Mann auf der Mauer


Was für ein drolliger Film! Oder war es die Doppelstadt Berlin-West und -Ost, die so drollige Figuren wie den Mauerspringer Arnulf Kabe, klasse gespielt von Marius Müller-Westernhagen, hervorbrachte vor langer, langer Zeit? Oder hatte das Elend der deutschen Teilung, die im Jahr 1982 den Szene-Berliner herzlich herzlos kalt ließ, eben auch drollige Züge? Ein bisschen von allem trifft zu auf Reinhard Hauffs Film Der Mann auf der Mauer. Das Drehbuch zu dem Film von 1982 hatte Peter Schneider geschrieben, ein Lesebuch folgte im selben Jahr unter dem Titel Der Mauerspringer (noch erhältlich bei Amazon; dort schreibt ein missvergnügter Kunde: "Langweiliges Buch über Ost-West-Kacke"). Der Film jedenfalls ist kurzweilig, skurril und eine Wiederbegegnung mit einer Vergangenheit, an teilgenommen zu haben man nicht mehr für möglich hält. So weit weg ist das alles, dabei habe ich in diesen 1980er Jahren Zitty gemacht, war mittendrin im Mauerstadtirrsinn und kannte sogar einen, der mit einem echten Mauerspringer befreundet war.

20 Jahre Mauerfall, und einer tut was. Aber es ist nicht arte, es ist Ars Sacrow, der rührige Verein zur Förderung des Kulturerbes in Potsdam-Sacrow, der die AugenBlicke im Schloss präsentiert. Das Schloss ist das königlich-preußische Schloss Sacrow (Abbildung oben rechts, fünf Autominuten oder fünfzig Laufminuten südlich von Berlin-Kladow, also ganz nah für mich), und die Filmreihe zum Mauerfall organisiert ehrenamtlich Vereinsmitglied Joachim von Vietinghoff, im Hauptberuf Filmproduzent in Berlin. Die Filme laufen jeweils am letzten Freitag des Monats im Spiegelsaal-Kino (auf dem Foto der Anbau ganz rechts im Schatten - Bild durch Anklicken vergrößern, dann lässt sich alles besser erkennen), der heutige Termin war eine Ausnahme. Eine lohnenswerte; denn es gibt stets nicht nur den Haupt-, sondern auch noch einen Vorfilm zu sehen (heute eine fabelhafte SFB-Produktion von 1985 mit fiktivem, vorweggenommenem Mauerfall; beim letzten Mal waren es Karin Bandelins 14 Minuten vor Mitternacht Achtung, Sie verlassen jetzt West-Berlin), und es sind stets Gäste da, heute Peter Schneider, der im Gespräch mit Michael Strauven Auskunft über Film, Buch und Zeitgeist gab. (Schade nur, dass der Gast so spät kam, gern hätte ich ihn noch zum Springer Tribunal befragt - siehe meinen letzten Eintrag vom 3. Juli). Die AugenBlicke zum Mauerfall sind ein Konzept, das sicher einem größeren Publikum gut täte. Wünschenswert wäre es, wenn arte im Herbst, wenn das Mauerfalljubiläum näher rückt, etwas Gleichwertiges auf die Beine stellte.

Freitag, 3. Juli 2009

Springer Tribunal


Das finde ich eine sehr gute Idee. Die Axel Springer AG selbst will im Herbst, Oktober oder November 2009, ein Springer Tribunal ausrichten, bei dem es um die Rolle der Printmedien dieses Konzerns (Bild, BZ, mopo) während der Studentenunruhen in den Jahren 1967 und 1968 gehen soll. Der Chefredakteur der Welt, Thomas Schmid, hat das gestern in seinem Blog angekündigt und begründet:
Kürzlich wurde bekannt, dass der Westberliner Polizist, der am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, im Nebenberuf SED-Mitglied und Stasi-Mitarbeiter war. Das war nun doch eine Überraschung, und in dieser Zeitung ist die Frage aufgeworfen worden, ob das nicht neue Fragen aufwerfe. Immerhin, der Mann, der Benno Ohnesorg erschoss, war nicht nur Repräsentant des bundesrepublikanischen Obrigkeitsstaates, sondern repräsentierte auch das "bessere Deutschland", die DDR. Manche jedoch sahen wenig Grund zu neuem Nachdenken und warfen dem Verlag Axel Springer vor, er wolle nun den Spieß umdrehen, die Geschichte der Studentenbewegung umschreiben und als später Sieger aus dem Duell "Enteignet Springer!"-Kampagne gegen Verlag Axel Springer hervorgehen. Das will, das soll geklärt sein.
Deswegen nimmt der Verlag den Faden auf, den die Springer-Gegner vor Jahrzehnten fallen gelassen haben. Im Frühjahr 1968 war in West-Berlin ein "Springer-Hearing" geplant, das auch als "Springer-Tribunal" konzipiert war. Dort sollten die Zeitungen des Hauses analysiert und als Organe politischer Hetze entlarvt werden. Doch das Tribunal fand nie statt. Das ist schade. Der Verlag Axel Springer will Abhilfe schaffen: Er wird das Tribunal in diesem Herbst nachholen, und zwar im eigenen Haus.
[Quelle: Welt online]
Mir gefällt diese Idee aus zwei Gründen: Seit dem 30. April 2009 gibt es in Berlin-Kreuzberg die Rudi-Dutschke-Straße, die mit der Axel-Springer-Straße eine gemeinsame Ecke bildet, in der das Springer-Hochaus steht (siehe auch meinen Eintrag vom 18. April 2009 mit einem Absatz zum historischen Kompromiss an der Kochstraße). Die Namensgebung erfolgte konfrontativ auf Betreiben von Teilnehmern und Nachfahren der Protestbewegung von 1967/68. Die Konfrontation empfand ich schon damals als Ausdruck gestriger Gesinnung. Viel mehr hätte ich mir gewünscht, dass Friede Springer und Gretchen Dutschke, die beiden Witwen der Kontrahenten von einst, sich unter dem Straßenschild die Hand gereicht und sich anschließend für eine Aussprache unter vier Augen zurückgezogen hätten. Und die Erben, die Verlagsführung auf der einen Seite, die Protestbewegten auf der anderen, hätten sich gemeinsam an einen Tisch setzen und reden sollen: Was war das damals? Und was sagen wir heute dazu? Dieser Teil meines Wunsches scheint nun im Oktober nachträglich in Erfüllung zu gehen. Das ist gut.

Als zweites habe ich einen persönlichen Grund. Im letzten Jahr, 2008, ging es um 40 Jahre 1968. Ursprünglich hatte ich die Absicht, mein Buch von 1988 (darin geht es um 20 Jahre 1968 - Abbildung oben rechts) online wiederzuveröffentlichen und aus heutiger Sicht zu kommentieren. Das habe ich sein gelassen, weil ich fand, in den letzten 20 Jahren keinen nennenswerten Erkenntniszuwachs zu dem Thema erzielt zu haben. Das änderte sich erst, als ich im Frühjahr 2008 einige Jubiläumsveranstaltungen besuchte. Sie waren der Auslöser zum Führen dieses Blogs (siehe meinen ersten Eintrag vom 12. April 2008). Der Erkenntiszuwachs lautete nun: Die Zeiten haben sich geändert, aber die 68er nicht mit ihnen. Im Gegenteil: Eine schier unfassbare Reideologiesierung der Linken findet statt und mit ihr die Rückkehr zur totalitären Matrix.

Das geplante Springer Tribunal kommt mir sehr entgegen. Es ist ein guter Anlass, den Faden vom letzten Jahr wieder aufzugreifen. Ob die Veranstaltung ein Erfolg wird, hängt am Ende von der Linken ab. Denn die erfreuliche Entideologisierung aller Diskurse von Atomkraft bis Schwulenehe hat zwar weite Teile der bürgerlichen Mehrheit erfasst (und nicht nur ihre intellektuellen Spitzen), aber die bürgerliche Minderheit, die allem und jedem marktorientierten Denken und Handeln ablehnend bis feindselig gegenüber steht, geht gerade in die entgegengesetzte Richtung. Das Echo, das die Ankündigung des Tribunals in diesen Kreisen heute fand, fiel entsprechend negativ aus. Kein gutes Wort beim Autor von spiegel online oder bei dem der taz. Na, dann schaun wir mal.
 

Montag, 29. Juni 2009

Olaf Leitner: "Wir haben den Grimme Online Arward"


Ein guter Bekannter aus alten Zitty-Tagen freut sich: Vor kurzem, am 24. Juni, ging der Grimme Online Arward 2009 an das Internetradio ByteFM (die Abbildung rechts zeigt die Homepage), und Olaf Leitner ist einer der Moderatoren dieses innovativen Onlinesenders. Seine Sendung Der West-Östliche Diwan ist alle zwei Wochen sonntags von 15-16 Uhr zu hören, die nächste am 12. Juli 2009. Herzlichen Glückwunsch, Olaf, dir und dem ganzen Team!

Olaf Leitner war in den 1980er Jahren eine wichtige Figur in der West-Berliner Szene, weil er als Musik- und Kulturredakteur beim RIAS immer darauf drang, über den Tellerrand zu gucken, der in Berlin eine Mauer war. Das war uns bei Zitty gerade recht, hatten wir doch mit unseren VEBerlin-Seiten als einzige im Westen ein 14-tägiges Ost-Berlin-Programm im Angebot und auch sonst immer wieder Beiträge aus der dortigen Subkultur und über sie - sehr zum Ärger der DDR-Behörden. 2002 hat mich Olaf Leitner für sein Erinnerungsbuch West-Berlin. Westberlin. Berlin (West), in dem es über Kultur, Szene und Politik in den Achtzigern geht, interviewt. Das war eine schöne Gelegenheit, von den letzten Jahren der Frontstadt vor dem Mauerfall zu schwärmen - und froh zu sein, das es sich bei alledem um abgeschlossene Vergangenheit handelt. Über den Charakter der DDR waren wir uns (anders als heute etliche Deutsche - siehe Eintrag vom 23. Mai) einig. Und nun also ByteFM. Olaf Leitner hat mir die folgende Siegesmeldung geschickt:
ByteFM ist ein Musikradio mit Anspruch – wie es wahrscheinlich nur im Internet existieren kann. Moderiert und gestaltet von Musikjournalisten, Musikern und Kennern der Szene, unabhängig von Plattenlabels und Werbekunden. Die Musik wird noch von Hand ausgewählt, gespielt werden neue und alte Platten ohne Superhits und Computerrotation, Mitschnitte von Live-Konzerten und exklusive Mixe von lokalen und internationalen DJs. Zusätzlich gibt es Interviews und Hintergrundinformationen über Musik und ihre Macher, Szenen, Bands, Entwicklungen und Zusammenhänge. Internetadresse: www.byte.fm

Begründung der Jury

"I am a DJ, I am what I play" sang David Bowie, bevor der kommerzielle Umbruch der Radiosender den geschmacksbildenden Radio-DJ durch den chartgesteuerten Computer ersetzte. Dass erst ein neues Medium genau das auferstehen lässt, was viele mit Wehmut an die früher vor dem alten Medium verbrachten Stunden zurückdenken lässt, mag Ironie des Schicksals sein. Doch ist "ByteFM" kein verklärter Blick in die Vergangenheit, sondern eine von Musikliebhabern für Musikliebhaber gestaltete und betriebene Plattform, die geschickt die Möglichkeiten des neuen Mediums nutzt, die Grenzen des Browsers durchbricht und über mehrere Kanäle hinweg ein stimmiges Erlebnis bietet. Die anspruchsvolle Technik bleibt dabei angenehm im Hintergrund, um dem Musikgenuss mehr Raum zu bieten. Von der Gestaltung der Website über den in einer unaufdringlichen Zusammenarbeit mit Panasonic angebotenen Player bis hin zu den redaktionellen Inhalten wird Qualität geboten, die nun ausgezeichnet wird.

Lediglich einen Wunsch kann "ByteFM" nicht erfüllen: Ein Archiv der Sendungen, so dass eine verpasste Sendung auch später noch gehört und die Nicht-Linearität eines Web-Radios ausgenutzt werden kann. Doch dieser Wunsch richtet sich eigentlich an die Musikindustrie, die gerade den Musikliebhabern, von denen sie ja schließlich lebt, bessere Nutzungsmöglichkeiten einräumen sollte.

"Video Killed the Radio Star" sangen die Buggles, und YouTube scheint diese Entwicklung zu beschleunigen, angefacht durch virales Marketing und crossmedialen Werbedruck. Gerade darum wird ein Kontrapunkt wie "ByteFM" dringend benötigt, um qualitativ hochwertige Orientierung abseits einer DSDS-geprägten Kultur zu bieten. [Ende der Jury-Begründung]

Und zum Schluss eine Werbung für Olaf Leitners Sendung DIWAN

2009 feiern wir 60 Jahre BRD und 60 Jahre die (nunmehr virtuelle) DDR.
Und wir haben Hochzeitstag: Deutschland-West und Deutschland-Ost sind 20 Jahre fest liiert. Ganz unvorbereitet sollte man diesen Ereignissen nicht entgegenfiebern. Auf dem West-Östliche Diwan wird deshalb Bilanz gezogen und rekapituliert, wie sich die beiden Deutschlands durch ihre Populärkultur definiert haben und ob das Willy Brandt´sche Zusammenwachsen wenigstens auf diesem Terrain geklappt hat. Ossis kannten Wessis aus dem Fernsehen. Aber was wussten Wessis von den Ossis? Was war hüben ähnlich, was war drüben ganz anders?
Mit Musik, Interviews und Analysen von damals und von heute blickt man auf dem West-Östlichen Diwan das Gesamtkunstwerk „BRDDR“ zurück. Und nach vorn.

Der West-Östliche Diwan

Alle zwei Wochen. Sonntags. 15 bis 16 Uhr. Auf ByteFM.

Mittwoch, 24. Juni 2009

Der Tod des Demonstranten


Stell dir vor, es gibt ein Denkmal, und keiner guckt hin. Bestimmt 5000mal bin ich an der Stelle schon vorbeigefahren, weil sie an meiner täglichen Route ins Berliner Stadtzentrum liegt. Bemerkt habe ich von dem Denkmal Der Tod des Demonstranten (rechts in Nahaufnahme) nie etwas. Erst die Berichte zum 2. Juni 2009 (siehe meinen Eintrag 2. Juni, der 42.) machte mich auf die Existenz dieser Erinnerungsstele neben der Deutschen Oper aufmerksam. Das Relief stammt von dem österreichischen Künstler Alfred Hrdlicka und will an den Tod des Studenten Benno Ohnesorg erinnern, der ganz in der Nähe ums Leben kam, als er am 2. Juni 1967 gegen den Schah von Persien demonstrierte.

Erstmals in meinem Leben habe ich gestern auf dem Weg in die Innenstadt angehalten und mir das Denkmal aus der Nähe angesehen (hier sind ein paar Fotos). Überzeugt hat es mich nicht. Der Standort ist lausig. Die Erinnerungstafel ist unlesbar. Die Bildsprache ist gestrig. Falls Sie es nicht erkennen: Zwei Polizisten halten einen fast nackten Demonstranten kopfüber an den Beinen, als wollten sie ihn in einen Brunnen fallen lassen. Die Polizisten sehen aus wie die auf den schrecklichen Bildern von 2009 aus Theheran (auf "Lizas Welt" gibt es das Fotos dazu), Berliner Polizisten von 1967 hatten noch keine Kampfmonitur mit Schutzhelm, sondern trugen einen Tschako. Der Text auf der Tafel, der sich vor Ort nicht mehr lesen lässt, lautet:

Am 2. Juni 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg im Hof des Hauses Krumme Straße 66 während einer Demonstration gegen den tyrannischen Schah des Iran von einem Polizisten erschossen. Sein Tod war ein Signal für die beginnende studentische und außerparlamentarische Bewegung, die ihren Protest gegen Ausbeutung und Unterdrückung besonders in den Ländern der Dritten Welt mit dem Kampf um radikale Demokratisierung im eigenen Land verband.
Unter diesem Eindruck schuf Alfred Hrdlicka 1971 das Relief
Der Tod des Demonstranten
Dezember 1990
Benno Ohnesorg hätte etwas Bessere verdient als ein unsichtbares Denkmal und die Erinnerung an die Ereignisse des 2. Juni 1967 etwas Sinnvolleres als einen unscharfen Text. Stell dir vor, es gäbe ein neues Denkmal zum 50. Jahrestag und jeder guckte hin. Das wäre gut, auch weil wir heute mehr wissen als gestern und die neuen Erkenntnisse bis 2017 sicher intelligent verarbeitet haben werden.
 

Freitag, 19. Juni 2009

Die Zeitungen des Tages


Das ist eine klasse Idee: Der Branchendienst meedia bringt jetzt jeden Tag eine aktuelle Galerie mit den Titelseiten der Tageszeitungen. Beginnend mit der Bild-Zeitung folgen die großen und kleinen Abonnement-Zeitungen von der FAZ zur taz, von der Welt zur Financial Times Deutschland. Anschließend an weitere deutsche Blätter kommen die großen US-amerikanischen Zeitungen New York Times, Washington Post und Wall Street Journal, dann die britischen Blätter und zum Schluss die französischen, die Libération stets dabei.

Nicht nur für Journalisten ist das interessant, sondern überhaupt für alle, denen das Zeitgeschehen nicht schnurz ist. Die können erstaunt feststellen, wie verschieden ein und derselbe Vortag in den vier Vergleichsländern Deutschland, Vereinigte Staaten, Großbritannien und Frankreich auf den Titelseiten abgebildet wird. Beträchtlich auch der Unterschied innerhalb Deutschlands, an manchen Tagen scheint es nicht sicher, ob sie alle im selben Land erscheinen. An anderen Tagen wiederum wirken sie wie wundersam gleichgeschaltet (gleiches Titelfoto, fast gleiche Titelzeile).

Ganz schön aus der Rolle gefallen ist gestern die tageszeitung (Abbildung: Titelseite der taz vom 18. Juni, lässt sich durch Klicken vergrößern und lesen). Zwar hat auch die FAZ den 80. Geburtstag von Jürgen Habermas zum Titelthema gemacht, aber längst nicht so eindringlich wie die taz. Was diese Titelgestaltung so bemerkenswert macht, ist, dass sie sich an die Einbandgestaltung von suhrkamp taschenbuch wissenschaft anlehnt, die der Typograf Willy Fleckhaus in den 1960er Jahren für die seinerzeit intellektuell führende Taschenbuchreihe entwickelt hatte. Chapeau! Und so kurbelt der neue meedia-Dienst sogar den Verkauf an: Ich habe die taz von gestern soeben bei meinem Zeitungshändler nachbestellt - danke, Herr K. Die muss ich haben!

------------------------ POSTSCRIPTUM ------------------------

Und, hat es sich gelohnt? Fragte mich Herr K. die Woche darauf, und ich antwortete ihm: Ja, sehr sogar, ich fand eine Perle. Davon will ich in diesem Nachtrag kurz berichten. Die Perle war ein Beitrag von Norbert Bolz, hieß Das Paradies des Diskurses (taz vom 18.6.2009, Seite 4) und ist leider nicht online nachzulesen. Darin erhält Habermas' Theorie ein Begräbnis erster Klasse, so kurz und bündig, das es ein intellektuelles Vergnügen ist, auch wenn es sehr schnell vorbei geht. Aber zum Glück ist der Autor Vielschreiber. Obwohl er ganz in der Nähe an der Technischen Universität Berlin Leiter des Fachgebietes Medienwissenschaft ist, hatte ich bis dahin nichts von ihm gehört oder gelesen. Das lässt sich nun leicht ändern: Bei Amazon habe eine lange Buchliste gefunden und bei Wikipedia eine lange Linkliste zum Weiterlesen. Ein Link führt zu einem aktuellen Focus-Interview, in dem Norbert Bolz abschließend sagt: "Ich stelle beispielsweise die These auf, dass nicht der islamistische Terror das Problem ist, sondern der Islam selbst." Er wird sich freuen zu erfahren, dass er da nicht allein steht. Danke, taz.
 

Donnerstag, 4. Juni 2009

Barack Obama: Rede von Kairo im Wortlaut


Rede vom 4. Juni 2009, heute gehalten an der an der Universität Kairo, übersetzt von der amerikanischen Botschaft in Berlin, verbreitet von dpa, veröffentlicht auf Deutsch von sueddeutsche.de. Hier zum Nachlesen oder Ausdrucken oder zum Lesen und Bearbeiten in Word.

Und in Englisch hier der Bericht der New York Times (NYT) mit Fotos, Video und einem Link zum Wortlaut des Originals in der vom Weißen Haus autorisierten Fassung. Sehr pfiffig ist das interactive video and transcript der NYT (Abbildung rechts, lässt sich durch Klicken vergrößern und lesen), das ein gleichzeitiges Zusehen und Mitlesen ermöglicht - und auch hören lässt, welche Passage Beifall bekommt, welche nicht. Das lässt tief blicken und ist nur manchmal ermutigend.

Meine Buchtipps zur weiteren Beschäftigung mit dem Islam habe ich in der Randspalte links neu angelegt, eine Sammlung meiner Lesefrüchte: Jeder Tipp ist klickbar und führt zur entsprechenden Verlagsseite mit Abbildung und näherer Beschreibung von AutorIn und Inhalt. Was mir auffällt: Die Autorinnen sind überwiegend Musliminnen, Islamkritik von männlichen Moslems ist rar. Wer die Bücher der Frauen liest, weiß, warum. Präsident Obamas neue Version der bereits einmal erfolgreichen Politik des Wandels durch Annäherung hakt genau hier ein. Der Ansatz eröffnet Chancen, birgt aber auch erhebliche Risiken. So einfach wie beim ersten Mal wird das nicht. Ich bin gespannt.

Von Kairo flog der Präsident nach Dresden, wo er anderntags (am 5. Juni) gemeinsam mit Bundeskanzlerin Merkel und Sachsens Ministerpräsidenten Tillich die Frauenkirche (und später, zusammen mit Elie Wiesel, das Konzentrationslager Buchenwald) besichtigte. Obama, Tillich und die Frauenkirche waren auch die optischen Signale auf der Titelseite der Beilage Welcome to Saxony, die ich aus Anlass des Obama-Besuchs für The German Times und The Atlantic Times konzipiert und realisiert hatte. Beide Monatszeitungen und auch der Freistaat selbst bieten die Beilage zum Download an. Ist wirklich ein klasse Bundesland, unser Sachsen! Interessant, welchen Zusammenhang die New York Times (in Stuart Emmrichs Blog In Transit) zwischen Kairo und Dresden sieht bzw. (aus Bloomberg) wiedergibt:

By “paying homage to his host nation’s cultural shrines and institutions — such as Obama’s visit June 4 to the Sultan Hassan mosque in Cairo, one of the largest in the Muslim world, or the refurbished Church of Our Lady [Frauenkirche] in Dresden, Germany, June 5 — the president shows he is attuned to others’ national sensibilities.”