Freitag, 28. November 2008

Seit 108 Jahren


... quält sich die SPD mit dem Sozialismus. Ich habe mir das in diesem Jahr, dem 108ten, eine Weile angesehen und angehört (siehe meinen ersten Eintrag, ganz unten, vom 12. April 2008) und im Spätsommer reichlich nachgedacht, woran das liegen könnte (siehe meinen Eintrag vom 12. September 2008), und bin dann zu dem Ergebns gekommen: Ohne Sozialismus geht es besser. So heißt jedenfalls der Beitrag, den Die Welt in ihrer gedruckten Ausgabe am 26. November 2008 auf Seite 7 veröffentlicht hat. Wer die Ausgabe verpasst hat und sie auch nicht mehr in seinem Café findet, hier ist die Onlineversion der Printfassung (Abbildung rechts, durch Klicken aufs Bild lässt sich die Abbildung vergrößern - das gilt für alle Bilder und Fotos auf dieser Seite). Es handelt sich dabei um einen Auszug aus meiner akuten SPD-Analyse. Die Veröffentlichung hat sogleich etliche Kommentare nach sich gezogen, deren drastischster lautet:
"Zum Artikel des Herrn Bieling kann ich nur sagen: Für so was dürfte man kein Geld bekommen sondern Berufsverbot." So spricht Hmann0815261. Das ruft sogleich Bürger 11336 auf den Plan: "Der Genosse Parteivorsitzender hat entschieden. Berufsverbot! Sie verraten sich immer wieder." Später wird Hmann0815261 sein Recht auf Satire geltend machen, Bürger 11336 glaubt ihm in seiner Replik kein Wort. M.Meusel schreibt: "So ein Quatsch - ohne Sozialmus geht es besser?" und führt dann aus, warum das Gegenteil richtig wäre. Jokus709 haut in die gleiche Kerbe: "Alles sehr schön, Rainer Bieling, doch was soll eine Sozialdemokratische Partei ohne den demokratischen Sozialismus...?" Nur Denker spendet Zuspruch: "Auf welchem Niveau die hier geäußerte Kritik stattfindet ist angesichts des zugrunde liegenden Artikels geradezu haarsträubend." Danke, Denker.
 

Freitag, 21. November 2008

Waltz with Bashir


Dieser Film ist schier unglaublich und in dreierlei Hinsicht herausragend. Das beginnt mit dem, was man hört.

Was man hört ist der Sound der frühen Achtziger, weiche und harte New Wave, obwohl es nur zwei Originalstücke aus dieser Zeit sind, die Komponist Max Richter neben seiner eigenen Filmmusik zulässt. Zuerst geht es mit Enola Gay, dem Hit von OMD (Orchestral Manoeuvres in the Dark) aus dem Jahr 1980, in den Krieg. Das passt, denn Enola Gay ist der Name des B-29-Bombers, der die Atombombe nach Hiroshima trägt. Und dann hat der Soldat Ari Folman 24 Stunden Heimaturlaub von der Front, und es erklingt This Is Not A Love Song von PIL (Publik Image Ltd.) aus dem Jahre 1983. Das passt, denn es ist keine Love Story, an der wir teilhaben. Diese beiden musikalischen Eckpunkte verbindet der deutsche Komponist, der jetzt in England lebt, mit seinem Soundtrack, der vom ersten Ton an klarmacht, das ist nicht Vietnam, das ist nicht Apocalypse Now, das ist nicht The End und es sind nicht The Doors und wir sind auch nicht in den 1960er Jahren - es ist der Libanon, es ist Bashir's Waltz, es ist kein Love Song und es gibt kein Happy End. Wir sind in den 1980er Jahren und die hören sich ganz anders an als die späten Sechziger. Sehr gut gemacht, Max Richter, der Ton stimmt. Ich muss es wissen; denn in den frühen 1980er Jahren habe ich die Musikredaktion von Zitty geleitet, und da haben wir genau diese Art von Musik geliebt und gefeatured. Wie klingt diese Art 2008? Hören Sie selbst.

Was man sieht, wenn man hört, ist nicht die heile Welt, von der West-Berlin im Jahr 1982 ein Teil war. Es ist die kaputte Welt von Beirut im Jahr 1982, und sie geht vor unseren Augen entzwei. Und das ist so schrecklich: die positiv besetzte Musik und die negative Kraft der Zerstörung. Was der israelische Filmemacher Ari Folman da ins Bild setzt, habe ich so noch nie gesehen. Er macht aus dem verheerenden Einmarsch Ariel Scharons in den Libanon einen Zeichentrickfilm. Wer nun abwinkt und sagt, das kennen wir doch von Marjane Satrapis Comicfilm Persepolis, sollte weiterlesen. Ja, da gibt es Parallelen in der autobiografischen Geschichtsbetrachtung mit den Mitteln des Animationsfilms. Nein, Folmans Waltz With Bashir ist keine bittersüße Tragigkomödie, sondern ein abgrundtiefes Schreckensgemälde. Es ist nicht nur der Horror von Krieg und Massaker, der schockiert. Der Zuschauer sieht auch in menschliche Abgründe, die noch viel größeren Schrecken erzeugen: Kommt einem das nicht alles sehr bekannt vor? Das Stilmittel des Gezeichneten erzeugt eine Wirklichkeit, die erschüttert, weil sie realer scheint als die Realität selbst. Was wir hier vor uns haben, ist virtual history von Feinsten. Sehen Sie selbst.

Was man fühlt ist schieres Entsetzen erst und große Ruhe anschließend. Ja, es ist ein Schock, was da auf der Leinwand geschieht. Es ist ein Schock, wie es erzählt wird. Und es ist ein Schock zu begreifen, warum ein Massaker wie das von Sabra und Schatila letzten Endes zum Vergessen verdammt ist. Wenn da nicht einer wie Ari Folmann kommt, der damals 19 und dabei war - als Zuschauer, nicht als Täter. Ein Zuschauer, der aber alle Bilder und das Ereignis selbst vergessen hat. Wäre da nicht sein Freund Boaz, der seit zwei Jahren unerklärlicherweise von 26 wilden Hunden träumt, die sein Haus bestürmen. Nacht für Nacht seitdem. Bis er es nicht mehr aushält und seinen Freund damit behelligt. Und so macht sich Ari auf eine Reise in seine eigene Vergangenheit, bei der er am Ende in seiner verschütteten Erinnerung ankommt. Er sieht die Bilder des Todes und wird ganz ruhig und der Zuschauer mit ihm. Wie beunruhigend. Der Film läuft noch gelegentlich in Berlin. Gehen sie selbst. Und beachten sie auch meinen Eintrag vom 12. Januar 2009: Bashir schlägt Baader.
NACHTRAG
Der Film erscheint am 15. Mai 2009 in Deutschland auf DVD.
 

Freitag, 7. November 2008

Am Fenster (Linie 1)


Aus meinem Büro am Tempelhofer Ufer blicke ich auf etwas wirklich Schönes, kräftig Gelbes, immerfort Bewegtes, typisch Berlinisches, sehr Urbanes und Uraltes: unsere U-Bahnlinie 1. Die Züge der Linie U1 kommen (mitten aus einem Wohnhaus heraus) von links vom Gleisdreieck im Westen und fahren nach rechts zur Möckernbücke im Osten (wohin der Zug im Foto gerade entschwindet) und umgekehrt. Die Linie 1 ist auf dem Teilstück vor meinem Fenster als Hochbahn ausgeführt und gehört zur Stammstrecke der Berliner U-Bahn. Der Kaiser selbst weihte Berlins erste U-Bahnlinie 1902 ein. Sie ging in West-Ost-Richtung vom Knie (Ernst-Reuter Platz) zur Warschauer Brücke und hatte am Gleisdreieck (daher der Name) einen Abzweig nach Norden zum Potsdamer Platz.
Als das berühmte und nach der Dreigroschenoper erfolgreichst deutsche Musical des Grips Theaters Linie 1 entstand (1986), fuhr die U1 von Ruhleben nach Schlesisches Tor (da war Schluss; denn dahinter kam die Mauer). Am Fenster (so der erste Hit der DDR-Rockband City von 1977) stehend sehe ich rechterhand die fast gegenüberliegende Station Möckernbrücke. Von hier geht es ins tiefste Kreuzberg, zur Enstehungszeit des Musicals Hochburg der Alternativszene und größtes türkisches Wohnviertel in Berlin. Für mich war 1986 die Zeit des Abschieds von Zitty, die damals noch am Kurfürstendamm Ecke Schlüterstraßem residierte. Später zog Berlins Stadtillustrierte in Räumlichkeiten ganz in der Nähe vom Tempelhofer Ufer mit Blick auf die wenige hundert Meter weiter östlich liegende U-Bahnstation Hallesches Tor. Mit der Linie 1 des Grips Theaters (nächste Aufführung am 19.12.2008) verbindet mich noch heute das Programmheft, das einen thematisch passenden Auszug aus meinem Buch Die Tränen der Revolution (siehe Eintrag vom 12.4.2008) aufgenommmen hat. So hängt alles mit allem zusammen, nur Zitty ist abhanden gekommen und mittlerweile Am Treptower Park zu Hause.
Und hier ein paar weiterführende Links zum Eintrag
Mehr Blicke aus dem Fenster (mit Google Map) bei Picasa
Am Fenster von City bei Youtube
Linie 1 im Spielplan des Grips-Theaters
Grips Theater über Linie 1
Zitty
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