Montag, 27. Oktober 2008

An einem Montag in Spandau


Ich war zu spät gekommen, und mein Ticket hatte die Nummer 019. Viele waren wir nicht heute abend im Gotischen Saal der Zitadelle Spandau. Aber alle waren begeistert. Es spielten auf The Crooked Jades aus San Francisco, und aufspielen trifft es auf den Punkt. Diese West-Coast-Kapelle intoniert traditionellen amerikanischen Bluegrass so frisch, lebendig und mit solcher Energie, dass es reichte, eine ganze Dorffestgesellschaft auf die Beine zu bringen.
Das Foto zeigt vier der fünf Bandmitglieder und ihre Instrumente, die den Sound bestimmen: Soprano Ukelele, akustische Gitarre, Fiddle (Geige), Banjo (v.l.n.r.). Dazu kommen ein Bass, den der Bassist (fehlt im Bild) auch mit dem Bogen spielt, eine Slide Guitar und ab und zu ein Harmonium. Das ist ungewöhnlich und überaus selten: "Als Begleitinstrument zur Geige für traditionelle keltische Tanzmusik wird es gelegentlich immer noch in einigen Gegenden der kanadischen Atlantikküste verwendet", weiß Wikipedia. Stimmt, Harmonium-Spielerin Leah Abramson kommt aus Vancouver!
Die übrigen Crooked Jades kommen aus Portland, Oregon, Ohio und Massachusetts, ihren Lebensmittelpunkt haben sie in San Francisco. Das ist bezeichnend: Das Revival der Volks- und Tanzmusik (zum Teil wirklich Volkstanzmusik, Sqare Dance Music) kommt nicht von den Rednecks aus den Apalachen oder den Prairiestaaten des Mittleren Westens, es kommt aus dem urbanen Milieu der Westküste und wie die meiste neue Musik der letzten vierzig Jahre aus San Francisco. Erkenntnis: Es ist die Stadt, aus der der Fortschritt kommt, nicht das Land. (Mag der Fortschritt auch ein Rückgriff sein, er führt doch stets zu einer Renaissance.)
Das Neue an dieser Musik, die eine Retromusik oder besser eine roots music ist, ist, dass es sie gibt. Wieder. Und dass es coole junge Leute (drei Frauen, zwei Männer) sind, die sie mit allergrößter Selbstverständlichkeit vortragen. Das erinnert stark an den Klezmer, der sein Revival ebenfalls den jungen Bands verdankt. Und beide, Bluegrass und Klezmer, erinnern stark an die mitteleuropäische Folk- und Volksmusik, die heute noch auf norditalienischen Dorffesten zu hören ist. Aber da kommen beide auch her, aus Europa. In Amerika haben sie eine neue Klangfarbe angenommen, und es ist beruhigend zu hören, dass diese Farbe auf der anderen Seite des Atlantiks wieder einen vollen Klang hat. Was für ein toller Sound! Schön, dass der an einem Montag in Spandau zu hören war.
Die Crooked Jades haben in der Zitadelle ihre neue CD vorgestellt. Sie heißt Shining Darkness und ist noch nicht im Handel.
Mehr Informationen gibt es direkt bei den Crooked Jades
Auf Youtube sind ein paar Videos
Bei MySpace können Sie ebenfalls ein paar Takte hören (der zweite Song ist mit Harmonium!)
Dank ans Kulturhaus Spandau, das den spannenden Abend im Gotischen Saal der Zitadelle (allein schon ein Erlebnis: die meterdicken Backsteinmauern) organisiert hat, an SingerSongwriterin K.C. McKanzie, die mit ihrem Bassisten sehr gut und passend eingeführt hat und an HappySad-Moderatorin Christine Heise von Radio 1 "Nur für Erwachsene", die mich am vergangenen Donnerstag auf der Heimfahrt von einem 12-Stunden-Tag überhaupt erst in ihrer Sendung HappySad auf den Auftritt der mir bis dahin völlig unbekannten Crooked Jades mit Hörkostproben und Hintergrundinformationen eingestimmt hat. Gut gemacht, weiter so und mehr davon.
 

Freitag, 3. Oktober 2008

Tag der deutschen Einheit



Die deutsche Einheit wird volljährig. Vor 18 Jahren kam die Bereinigung der Flurschäden des Zweiten Weltkriegs (in Europa) zu einem Abschluss, für die Bundesrepublik Deutschland wurde es ein zweiter Anfang. Da möchte ich auf einen Text des Berliners Sebastian Haffner aufmerksam machen, den die Büchergilde Gutenberg dem breiteren Publikum im Sommer 2008 zugänglich gemacht hat. Germany: Jekyll & Hyde beschreibt, wie es zu diesen Flurschäden kommen konnte. (Die Abbildung rechts zeigt den Buchumschlag.)

Diese erste ungekürzte deutsche Ausgabe eines ursprünglich im Londoner Exil auf Englisch verfassten und (1940) veröffentlichten Buchs trägt den Untertitel 1939 - Deutschland von innen betrachtet. Und das ist das eigentlich Erstaunliche: Der Jurist Sebastian Haffner, der gleich 1933 unter Protest gegen die Nationalsozialisten aus dem Staatsdienst ausgeschieden und 1938 mit seiner jüdischen Ehefrau nach England emigriert ist, beschreibt hell und klar all das, von dem es später hieß, das habe man doch nicht geahnt und nicht wissen können.

Eine Lüge. Die Mitläufer und Mittäter haben es gewusst wie die Weggucker und Stillschweiger. Sebastian Haffner zeigt aber auch, dass die nationalsozialistische Unterdrückungsmaschine wie geschmiert lief, dass Widerstand zwecklos war und in den sicheren Tod führte. Das Regime tyrannisierte die schweigende Mehrheit, die Haffner als teils loyal, teil illoyal beschreibt. Ein ganzes Jahrzehnt vor Hannah Arendts
The Origins of Totalitarianism (1951) liefert Haffner eine genaue Beschreibung totalitärer Herrschaft, aus der es außer durch Flucht kein Entrinnen gibt (solange Flucht überhaupt möglich ist und nicht durch einen Eisernen Vorhang oder eine Mauer verhindert wird).

Die zweite Stärke dieses bemerkenswerten Textes ist das Herausarbeiten des deutschen Imperialismus, den die Nationalsozialisten zum Höhepunkt und Abschluss brachten. Sebastian Haffner macht deutlich, warum Beschwichtigung und Appeasement gegenüber dem auf Anmaßung beruhenden und auf Unterwerfung zielenden Imperialismus scheitern muss. Noch vor dem Ausbruch des großen, totalen Krieges macht er klar, dass das nationalsozialistische Regime in einem (für die Bevölkerungen beider Seiten schrecklichen) Krieg besiegt und ausgeschaltet werden muss.

Der reale Imperialismus
hat eben nichts mit Lenins Phantasie ("höchstes Stadium des Kapitalismus") zu tun, er ist ein Grundübel der Zivilisation und Ursache für Konflikte und Kriege seit Beginn der Hochkulturen. Nichts zeigt dies deutlicher als die deutsche Einheit. Ihr Verlust nach 1945 war eine Folge der bedingungslosen Kapitulation des deutschen Imperialismus, ihre Wiederherstellung 1990 eine Folge der Implosion des russischen Imperialismus. Erst als Russland die Sowjetunion und das sozialistische Lager nicht mehr aufrecht erhalten konnte und Gorbatschow zum Rückzug blies, war der Raum für die Wiedervereinigung frei.

Heute, zur Volljährigkeit der deutschen Einheit, wird der Raum anderswo in Europa schon wieder enger und damit der Spielraum für politische Gestaltung auf eigenem Terrain. Im August 2008 musste Georgien erfahren, dass die Implosion des russischen Imperialismus nur ein Schwächeanfall war, nicht dessen Ende. Wir Deutschen haben 1990 von der Schwäche profitiert, bei uns gelten Gorbatschow (und der Georgier
Schewardnadse) als Helden. Zu recht; denn sie haben gezeigt, welches Potential für Frieden und Freiheit der Verzicht auf Anmaßung und Unterwerfung bereit hält.

Der Tag der deutschen Einheit ist ein guter Tag der Besinnung auf das Gestern im Morgen. Sebastian Haffners Buch liefert dafür eine geeignete Vorlage. Indem wir im Nachhinein staunen, was ein redlicher Zeitgenosse schon vor 68 Jahren über Deutschland zu sagen wusste, schöpfen wir Mut, unsererseits
Gut und Böse in der Welt von heute erkennen zu wollen. Zum Beispiel dies: Der Tag, an dem Gorbatschow auch in Russland als Held gefeiert wird, wird der Nacht vorausgehen, in der wir Europäer wieder ruhig schlafen können.