Freitag, 24. Februar 2023

Wenn sich Diktatur und Krieg die Hand reichen

Gedenken und Gedanken anlässlich des 80. Todestages von Mildred Harnack und des Jahrestags des russischen Angriffs auf die Ukraine

16. Februar 2023. Am Schild der Mildred-Harnack-Straße in Berlin-Friedrichshain, das sich auf Höhe des Vorplatzes der Mercedes-Benz Arena befindet, ermöglicht ein Baustellen-Poller das Anbringen einer roten Nelke zum Gedenken an Mildred Harnack.

Das war eine gelungene Kundgebung zum Gedenken an Mildred Harnack anlässlich ihres 80. Todestags! Schon ein paar Tage her, fand sie im Freien statt, in Friedrichshain und zum Glück bei winterlich mild-trockenem Wetter am Donnerstag, dem 16. Februar 2023. Auf den Tag genau 80 Jahre zuvor, am 16. Februar 1943, es war ein Dienstag, hatte der Scharfrichter in der Berliner Hinrichtungsstätte Plötzensee das Todesurteil des Reichskriegsgerichts vollstreckt und Mildred Harnack um 18:57 Uhr mit dem Fallbeil enthauptet. Die Hinrichtung geschah nicht zufällig zwei Tage vor dem Abend des 18. Februar 1943, an dem Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast seine berüchtigte Rede zur Einstimmung auf den „totalen Krieg“ hielt. Da war der totale Krieg gegen die politischen Gegner im Inneren des Reiches bereits in vollem Gange, allerdings im Geheimen: Ohne es an die Öffentlichkeit zu tragen, waren am 22. Dezember 1942 schon elf Regimegegner in Plötzensee hingerichtet worden, unter ihnen Mildreds Ehemann Arvid Harnack.

Wie es zu diesen Staatsverbrechen gekommen war, schildern die Veranstalter (es sind zwei Bürgerinitiativen, die Stadtteilgruppen „Wir bleiben alle Friedrichshain“ und „Wem gehört der Laskerkiez?“, sowie die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“, kurz VVN-BdA) an diesem 80. Todestag von Mildred Harnack, geborene Fish, in mehreren Redebeiträgen mit kurzen Skizzen ihres Lebens, das in den Vereinigten Staaten von Amerika am 16. September 1902 in Milwaukee, Wisconsin,  begonnen und im Deutschen Reich in Berlin-Plötzensee so jäh und jung geendet hatte. Bei ihrer Hinrichtung lag Mildred Harnacks runder Geburtstag, es war ihr 40., auf den Tag genau fünf Monate zurück. 

Auf halber Höhe grenzt die Mildred-Harnack-Straße an den Vorplatz der Mercedes-Benz Arena. Hier findet die Gedenkkundgebung statt. Nach einführenden Worten der Moderatorin ergreift der Ehrengast des Abends das Wort: Rebecca Donner.

Die beteiligten Bürgerinitiativen haben es in ihren kurzen Referaten sehr anschaulich verstanden, die verschiedenen Stationen des Lebens und Wirkens dieser tüchtigen und tapferen Frau und Widerständlerin in Erinnerung zu rufen. Besondere Aufmerksamkeit an diesem frühen Abend fand die Anwesenheit der amerikanischen Autorin Rebecca Donner, die gleich zu Beginn der Gedenkkundgebung über das Wirken ihrer Urgroßtante Mildred im deutschen Widerstand sprach. Im Anschluss an die zusammen gut einstündigen Rede- und auch Musikbeiträge schmückten sie und die Veranstalter das Schild der Mildred-Harnack-Straße mit roten Nelken und stellten Kerzen auf den nebenstehenden Baustellen-Poller. Da war es 18:37 Uhr – und da hatte, vor 80 Jahren, Mildred Harnack noch 20 Minuten zu leben.

Rebecca Donner platziert die zweite Nelke zum Gedenken an ihre Urgroßtante Mildred, der sie mit dem gleichnamigen Buch zu breiter und dauerhafter Erinnerung verhelfen will.
 

Gut, dass es in dieser unwirtlichen Gegend neben der Mercedes-Benz Arena wenigstens dieses Straßenschild als Zeichen der Erinnerung gibt. Wer mehr über Mildred Harnack erfahren will, solle die Biografie ihrer Urgroßnichte Rebecca Donner lesen, empfahl die ebenfalls anwesende Autorin Sabine Lueken den Umstehenden. Sie hatte das Buch aus dem Berliner Kanon Verlag, das kurz und bündig „Mildred“ heißt, im Januar 2023 in der Monatszeitschrift Konkret ausführlich und positiv besprochen.

Ganz bewusst im Gegensatz zu einer negativen Besprechung in der Wochenzeitschrift Der Spiegel, die das Buch von Rebecca Donner gleich bei dessen Erscheinen im September 2022 in einer Weise zerrissen hatte, die einer zweiten Hinrichtung der Mildred Harnack gleichkam – der Hinrichtung der Erinnerung: „Reine Fantasie“ betitelte die Zeitschrift in ihrer Ausgabe 38 den Beitrag (auf gut Deutsch “Do not read this Book!”). Bei der Titelzeile handelte es sich aber nicht um die abschätzigen Worte der beiden – mit dem Thema erkennbar überforderten – Spiegel-Autoren, sondern um das Zitat einer Randnotiz des Leiters der Gedenkstätte deutscher Widerstand zu einer nicht näher genannten Textstelle im Buch. Diese Randglosse der von Amts wegen befragten Autoritätsperson hatte die Redaktion des Blattes als Überschrift des Buchverrisses gewählt. *)

Den Rednern auf der Veranstaltung, allesamt keine deutungsbefugten Beamten staatlicher Erinnerungspolitik und überwiegend auch keine ausgewiesenen Historiker, gelang es hingegen zutreffend, die Art des Widerstands zu beschreiben, den das Reichskriegsgericht für todeswürdig erachtet hatte. Das Urteil gegen Mildreds Ehemann Arvid Harnack nennt als Gründe „Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung und Spionage“. Dazu muss man wissen, dass Mildred Harnacks Ehemann als Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium arbeitete und seiner Ehefrau geheimes Wissen über die Kriegsvorbereitungen mitteilen konnte, das sie ihrerseits an die Verantwortlichen in der Amerikanischen Botschaft in Berlin weitergab, mit denen sie gut bekannt, teils sogar eng befreundet war.

Das Leitmotiv der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ (VVN-BdA) als Banner der Erinnerung.
 

Streng genommen war es also kein Hochverrat, der auf den gewaltsamen Umsturz im Innern gerichtet ist, sondern juristisch gesehen Landesverrat, der den eigenen Staat in seiner Sicherheit gegenüber ausländischen Staaten schwächen soll. Das macht einer der Redner auf der Gedenkveranstaltung überraschend deutlich klar: dass es Mildred Harnack und ihrem Ehemann, die Teil eines losen Netzwerks von Regimegegnern waren, nie möglich und deshalb auch nie in den Sinn gekommen wäre, die Reichsregierung stürzen zu wollen. Das Regime saß so fest im Sattel, dass nur ein gewaltsamer Umsturz von außen, herbeigeführt durch einen Sieg der alliierten Armeen im Krieg mit dem Deutschen Reich, den Regimewechsel erzwingen konnte.

Die Tragödie beider Harnacks ist nicht nur, dass für sie dieser löbliche Landesverrat tödlich endete, sondern auch, dass er beide Male nicht gefruchtet hatte. Als Mildred Harnack ihre Vertrauten in der Amerikanischen Botschaft im Sommer 1939 unterrichtete, dass die massive Aufrüstung der Wehrmacht auf akute Kriegsvorbereitung hindeutete, da stieß  sie auf taube Ohren. (Zu der Zeit wusste sie nichts vom bevorstehenden, am 23. August 1939 im geheimen Zusatzprotokoll zum Deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vereinbarten gemeinsamen Angriffskrieg der deutschen und der sowjetrussischen Regierung gegen Polen und der von der Reichsregierung gebilligten Absicht Sowjetrusslands, sich nicht nur die Westukraine und das westliche Belarus einzuverleiben, sondern auch gleich noch dazu die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie Teile Rumäniens.) Und als Arvid Harnack seinen Vertrauten in der Sowjetischen Botschaft im Juni 1941 vom bevorstehenden Angriffskrieg der deutschen gegen die eben noch verbündete sowjetische Armee informierte, vom Aufmarsch der Wehrmacht an den gerade erst neu gezogenen Grenzen vom September 1939, da stieß er auf verschlossene Augen. Stalin höchst selbst, von seinem Geheimdienstchef desinformiert, wischte die Warnung vom Tisch.

Und das machte die persönliche Tragödie beider Harnacks, ihr Leben zu verlieren und nichts zu bewirken, zu einer historischen Tragödie nie gesehenen Ausmaßes in Europa: Die Rote Armee zog sich, auf den Angriff vom 22. Juni 1941 unvorbereitet, überrumpelt nach Russland bis kurz vor Leningrad und Moskau zurück und lieferte Millionen Bürger der westlichen Sowjetrepubliken, vor allem auf den Territorien der Ukraine, von Belarus und der drei baltischen Länder, der Willkür des Angreifers aus. In der Folge fanden in den Jahren der deutschen Besatzung Millionen Bürger den Tod durch Kriegshandlungen, Kriegsverbrechen und Zwangsarbeit, rund zwei Millionen kriegsgefangene Rotarmisten ließ die Wehrmacht allein im Winter 1941/42 verhungern und erfrieren, und fast dreimal soviel jüdische Bürger nicht nur aus und in den besetzten Gebieten im Osten, sondern dorthin deportiert aus dem Westen Europas, fanden von 1941 bis zur Rückkehr der Roten Armee, die letzten noch Anfang 1945, den Tod in der Shoa, dem vom deutschen Staatsapparat organisierten und von Staatsdienern in den besetzten Gebieten exekutierten Völkermord an den europäischen Juden.

Der Baustellen-Poller nimmt anschließend die Funktion eines Altars ein – der dort hinterlegte Aufruf zur Gedenkveranstaltung zeigt ein Foto von Mildred Harnack.

Die persönliche Tragödie der Eheleute Harnack und die europäische Dimension ihres Scheiterns kamen bei der Gedenkveranstaltung nicht zur Sprache. Es zeigt sich aber, wie anregend solcherart Erinnerung ist, die Gedanken freisetzt, die ohne das Engagement der beteiligten Bürgerinitiativen keinen Anlass gehabt hätten, gedacht zu werden. Solche Gedanken kommen einem in den Sinn, wenn am Tag ihrer Niederschrift (es ist mittlerweile der 20. Februar 2023) der Besuch des amerikanischen Präsidenten in Kiew Topmeldung in den Nachrichten ist. Man mag von ihm halten, was man will, aber es war Präsident Joe Biden, der bereits im Februar 2022 vor dem bevorstehenden Angriff warnte, als russische Truppen an den Grenzen zur Ukraine aufmarschierten wie weiland im Juni 1941 die Truppen der deutschen Wehrmacht, nur standen diese im Westen vor der Ukraine und nicht im Osten wie die russischen vor einem Jahr.

War Mildred Harnack 1939 in der Amerikanischen Botschaft noch auf taube Ohren gestoßen, so hat der amerikanische Präsident 2022 gezeigt, dass er aus der Tragödie von damals gelernt und offene Augen für das Hier und Heute hat. Das revanchistische Sowjetrussland von 1939 gibt es nicht mehr, das seine 1921 an Polen verlorenen Gebiete (Friedensvertrag von Riga) zurückerobern wollte; geblieben ist das revisionistische Russland von heute, das seine 1991 mit der Auflösung der Sowjetunion verlorenen Gebiete (Vertrag von Alma-Ata) zurückerobern will.

Solange es in Moskau keine beherzte Widerständlerin gegen die „Spezialoperation“ gibt, die Landesverrat begeht, besser noch den Hochverrat vorbereitet und mithilft, dem russischen Präsidenten einen gelingenden Zwanzigsten Juli zu bescheren, solange werden die Bürger der Ukraine sterben wie sie immer schon gestorben sind, wenn ein allmächtiger Staat in ihrer Nachbarschaft auf Landraub sinnt. Einst gab es deren gleich zwei – gäbe es am Ende keinen mehr, wäre das ein Glück nicht nur für die Bürger der Ukraine, sondern für alle Bürger der Europäischen Union, zu der dann auch die Ukraine gehörte. Erst ohne Landräuber auf dem Kontinent werden sich Diktatur und Krieg nie wieder die Hand reichen. Jedenfalls nicht in Europa.

Info  Das erwähnte Buch von Rebecca Donner heißt in voller Länge  „Mildred. Die Geschichte der Mildred Harnack und ihres leidenschaftlichen Widerstands gegen Hitler“, hat einen Umfang von 616 Seiten und ist im September 2022 im Berliner Kanon Verlag erschienen.

Um der unheiligen Allianz von Spiegel-Redaktion und GdW-Leitung die Deutungshoheit nicht ganz allein zu überlassen, soll am Ende auch die einzige aktuell im Buchhandel verfügbare Biografie über Mildred Harnack Sichtbarkeit finden. (Diese Abbildung der Mildred-Biografie von Rebecca Donner habe ich mir erlaubt von der Website des Kanon Verlags herunterzuladen.)

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Nachtrag vom 27. Februar 2023

*) Die Titelzeile der aktuellen Onlineversion des Spiegel-Artikels, darauf macht mich heute Sabine Lueken aufmerksam, lautet nicht mehr wie in der Printausgabe „Reine Fantasie“ (DER SPIEGEL Nr. 38 / 17.9.2022), sondern nunmehr, neu datiert, „Wie viel Dichtung verträgt ein historisches Sachbuch?“ (18.09.2022, 17.09 Uhr • aus DER SPIEGEL 38/2022).

Diese Onlineversion des Artikels ist zwar weiterhin negativ, aber keine „zweite Hinrichtung“ mehr, was zuallererst an der neuen Überschrift liegt. Hinzu kommen zusätzliche Bemerkungen im Text, die das vernichtende Urteil der Printausgabe abschwächen. Der Protest von Rebecca Donner, den sie gleich bei Erscheinen des Verrisses im gedruckten Heft bei der Spiegel-Redaktion eingelegt hatte, hat offenbar Wirkung gezeigt, ohne die negative Gesamttendenz zu verändern. Und vor allem ohne den Schaden zu beheben, den die bereits weit verbreitete und somit unkorrigierbare ursprüngliche Print- und gleichlautende Digtalausgabe angerichtet haben – den wirtschaftlichen Schaden durch unterbliebene Buchkäufe und den Schaden, den das Ansehen der Autorin erlitten hat.

Bemerkenswert ist, dass in der Onlinefassung ein ganz neuer Absatz auftaucht, der in der Printausgabe möglicherweise als Überlänge des Manuskripts gekürzt worden war. Darin kommt nicht nur erneut der Leiter der Gedenkstätte deutscher Widerstand (GdW) zu Wort, sondern nun wird auch dessen eigenes Buch, das er in Corona-Zeiten fertiggestellt hat, erwähnt und gewürdigt. Hier der neue Absatz, den es nur in der Spiegel-Online-Fassung gibt:

[Er] „wehrt sich gegen den Vorwurf, die Forschung habe Frauen im Widerstand zu wenig beachtet. Erst vor Kurzem hat er selbst ein Buch über die »Rote Kapelle«-Widerständlerin Liane Berkowitz veröffentlicht. Mildred Harnacks Beteiligung habe die Autorin Shareen Blair Brysac in ihrer Biografie besprochen, die 2003 auf Deutsch erschien.“

Es kommt einem so vor, als würde zum Ausgleich des weniger negativen Gesamturteils das immer schon Positive der maßgeblichen Forschung in persona des GdW-Langzeitleiters herausgestellt. Tatsächlich war dessen eigenes Buch Ende Juli 2022 erschienen – sechs Wochen vor Rebecca Donners „Mildred“, der Arbeit einer forschungsfremden Außenseiterin.

Zur Erinnerung an den Tag der Erinnerung ein Foto der Buchautorin Rebecca Donner und der Buchrezensentin Sabine Lueken unter dem mit roten Nelken geschmückten Schild der Mildred-Harnack-Straße. Fotos © Dr. Rainer Bieling


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Hinweis Die beiden Bürgerinitiativen Wir bleiben alle Friedrichshain und Wem gehört der Laskerkiez?, die zum Kreis der Veranstalter gehören, haben ebenfalls einen Bericht über die Veranstaltung verfasst und am 27. Februar 2023 unter dem Titel Das Gedenken ist eine politische Waffe – zur Erinnerung am Mildred Fish-Harnack auf der Website Kontrapolis veröffentlicht. Darin ist auch der Inhalt der einzelnen Redebeiträge wiedergegeben und zudem sind zwei Punkte angesprochen, die ich in meinem Bericht nicht behandelt habe.

Zum einen, und das wird schon in der Überschrift deutlich, bemängeln die Bürgerinitiativen den unvollständigen Namen des Straßenschilds; denn Mildred habe ihren Geburtsnamen nie abgelegt und heiße folglich korrekterweise Mildred Fish-Harnack. Darauf hatte bereits taz-Autor Peter Nowak in seinem Beitrag Teil des Namens fehlt auf dem Straßenschild hingewiesen, in dem er am 16. Februar 2023 in der tageszeitung auf die für den Nachmittag geplante Gedenkveranstaltung aufmerksam machte.

Flyer mit der Einladung zum Gedenken an Mildred Harnack. Quelle: Veranstalter der Kundgebung am 16. Februar 2023

Zum anderen stellt der Bericht der beiden Bürgerinitiativen einen Redebeitrag heraus, der gegen Ende der Veranstaltung eine Aktionsform zum Inhalt hatte, die sich heute unter dem Namen Adbusting einiger Beliebtheit erfreut. Wikipedia weiß: „Adbusting (aus den englischen Wörtern ad – Kurzform von advertisement = ‚Werbung‘ und dem Verb to bust – umgangssprachlich = ‚zerschlagen‘) ist eine Aktionsform, bei der Werbung im öffentlichen Raum (Außenwerbung) verfremdet, überklebt oder auf andere Weise umgestaltet wird, um so ihren Sinn umzudrehen oder lächerlich zu machen.“

Als eine frühe Form von Adbusting identifizierte der Redner auf der Veranstaltung die sogenannte Klebezettelaktion, mit der Berliner Widerständler in der Nacht vom 17. auf den 18. Mai 1942 die Werbung für die Propaganda-Ausstellung „Das Sowjetparadies“ zu konterkarieren versuchten. Im weitesten Sinn waren diese Klebezettel mit der Aufschrift „Ständige Ausstellung: Das Naziparadies / Krieg, Hunger, Lüge, Gestapo / Wie lang noch?“ tatsächlich eine Art Adbusting, allerdings waren Mildred Harnack und ihr Ehemann Arvid beide nicht an der Aktion beteiligt, die von befreundeten Widerstandskreisen ausging – und etliche Beteiligte das Leben kosten sollte, weil die Herren des totalen Staates auch Widerworte auf Klebezetteln nicht duldeten.

Eine frühe Form von Adbusting: Klebezettel vom Mai 1942. Quelle: Bundesarchiv

Weitere Veranstaltungen Unter dem Titel Adbusting und Kommunikationsguerilla im Kampf gegen Hitler laden die Stadtteilinitiativen Wir bleiben alle Friedrichshain und Wem gehört der Laskerkiez? gemeinsam mit dem Politischen Café des Zielona Gora am Donnerstag, dem 16. März 2023, ab 20 Uhr zu einem Vortrag des Berlin Social Busters Club in den Stadtteilladen Zielona Gora in der Grünberger Straße 73 in Berlin-Friedrichshain ein. Zuvor um 18 Uhr und jeweils um 18 Uhr auch an den folgenden Donnerstagen bis einschließlich 30. März 2023 zeigt das Politische Café im Zielona Gora am Boxhagener Platz Dokumentar- und Spielfilme, die das Handeln der verschiedenen Widerstandskreise beleuchten, die unter dem Sammelnamen Rote Kapelle mehr Gleichklang suggerieren, als im Berliner Untergrund der 1930er- und frühen 1940er-Jahre möglich war.

Den Hinweis auf den Bericht der beiden Bürgerinitiativen und auf deren Veranstaltungen im März 2023 erhielt ich nachträglich und habe ihn meinem Bericht am 15. März 2023 hinzugefügt.
Postskriptum: Zielona Gora als Name des Stadtteilladens in der Grünberger Straße erinnert daran, dass Grünberg in Schlesien seit 1945 polnisch ist: „Die Polen führten für Grünberg im März 1945 die Ortsbezeichnung Zielona Góra ein, die übersetzt grüner Berg bedeutet“, weiß Wikipedia.

Zum Abschluss noch eine kleine gute Nachricht: Rebecca Donners „Mildred“ ist nun auch in der Bibliothek der Topographie des Terrors verfügbar; zum Zeitpunkt der Aufnahme am 31. März 2023 lag „Die Geschichte der Mildred Harnack und ihres leidenschaftlichen Widerstands gegen Hitler“ gut sichtbar im Eingangsbereich in dem Regal mit den Neuerwerbungen. Hier posiert sie, ohne Schutzumschlag mit ihrem Porträtfoto auf dem Titel gut erkennbar, auf dem Eingangstresen.

Freitag, 19. März 2021

Zweite Wiedereröffnung der “Topographie des Terrors” am 18. März 2021

Nach 19-einhalb Wochen der erneuten Schließung sind Gelände und Gebäude wieder zugänglich. Beobachtungen vom 18. März 2021 mit einigen Nachsätzen zum Corona-Jo-Jo bis 4. Juni 2021.

Kurz vor 10 Uhr öffnet sich die Eingangstür an der Wilhelmstraße zum ersten Mal nach 19-einhalb Wochen.      
Punkt 10 Uhr begrüßt Mitarbeiter Peter Eckel den ersten Besucher vor dem Eingang zum Gebäude der Topographie.

Die Topographie des Terrors hat am gestrigen Donnerstag, dem 18. März 2021, nach mehr als viereinhalb Monaten der coronapolitisch erzwungenen Schließung wieder geöffnet. Punkt 10 Uhr war ich der erste Besucher, nachdem ich am Vortag ein Zeitfenster gebucht hatte. Ja, das ist jetzt coronapolitisch so verordnet und natürlich ein weiteres Hemmnis für Besuche. Wo sich sonst (im Jahresdurchschnitt) täglich bis 4000 Besucher tummeln, waren es deren gestern 4, denen ich in den 90 Minuten meines Zeitfensters begegnete. Den 5. zähle ich nicht mit, es war Peter Eckel, der Verantwortliche der Topographie für Veranstaltungen und Marketing, der mich um 10 Uhr vor dem Gebäude des Dokumentationszentrums begrüßte. (Die Fotos lassen sich durch Anklicken vergrößern.)

Nach dem Betreten des Gebäudes stehen zwei Tische zum Ausfüllen der Anwesenheitsdokumentation bereit.

Hygieneregeln à la Topo: vorn die unbenutzten Stifte, hinten die Ablage für benutzte, sicherheitshalber.
Der Vorteil der Leere für Berliner liegt auf der Hand: Sie haben jetzt die Topo, so der Kosename bei ihren regelmäßigen Gästen, für sich allein – sofern sie sich nicht scheuen, ihre persönlichen Daten zu hinterlassen. Das ist beim Betreten des Gebäudes verpflichtend, ebenso das Tragen einer medizinischen Gesichtsmaske; das Gelände selbst ist zwar auch nur nach vorheriger Buchung eines Zeitfensters zugänglich, aber ohne „Anwesenheitsdokumentation gemäß § 5 Absatz 2 der Zweiten SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung“. 
 
Das ist die „Anwesenheitsdokumentation gemäß § 5 Absatz 2 der Zweiten SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung“.

Im Außenbereich
reicht eine Mund-Nasen-Bedeckung; für einen gegebenenfalls nötigen Klobesuch reicht das nicht – die Toiletten sind innen im Gebäude. Fürs Pinkeln greift § 5 Absatz 2 der Zweiten SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, siehe oben.

Hier beginnt der Geländerundgang. Eine Informationstafel beschreibt den Weg.

Dabei ist allein der Außenbereich mit einem Zeitfenster nicht zu schaffen; ich habe es gestern bei herrlichem Sonnenschein ausprobiert und nach bald 11 Jahren wieder einmal den vollständigen Geländerundgang absolviert, eine Stunde lang. Das erste Mal tat ich das bei der Eröffnung der Topographie am 6. Mai 2010, begleitet von der Kuratorin der zahlreichen Informationstafeln, Erika Bucholtz, die heute das Veranstaltungsprogramm kuratiert. Der Rundgang erst erschließt einem die einstige Topographie des Geländes, als es das Reichssicherheitshauptamt und Heinrich Himmler hier Dienstherr war. Der wäre entzückt, dass sein Generalplan Ost in Miniatur und ganz friedlich mitten im Stadtzentrum Wirklichkeit wurde: Im verwilderten Robinienwäldchen, das einmal der Park des Prinz-Albrecht-Palais’ war und später ein Autodrom, lebt nun in zahlreichen Bienenstöcken naturgerecht ein Bienenvolk. Statt der Ruralisierung der eben erst elektrifizierten Sowjetunion, die der Generalplan von 1942 vorsah, wird nun 2021 die urbane Mitte Berlins landwirtschaftlicher Nutzungsraum, ohne dass dabei jemand zu Schaden käme.

Mitten im Zentrum der Stadt ein kleiner naturbelassener Robinienwald. Hier lebt jetzt ein Bienenvolk.

Gegenüber vom Bienenvolk geradezu das Deutschlandhaus, in dem noch im Juni 2021 die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ihre Tätigkeit aufnehmen wird. Rechts daneben das Europahaus, in dem das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung seinen Sitz hat.

Nach dem verwilderten Robinienwäldchen öffnet sich der Blick wieder auf Stadtlandschaft und Welt-Ballon.

Welchen Schaden hingegen Berufspolitiker anzurichten imstande sind, wenn keine Demokratie sie zügelt, ist im Ausstellungsgraben zu besichtigen, der zweiten Attraktion im Außenbereich des Geländes. Hier dokumentiert die Topographie unter einem Glasdach, das gegebenenfalls vor Regen schützt, ihre Dauerausstellung „Berlin 1933–1945. Zwischen Propaganda und Terror“. Entlang der freigelegten Kellermauerreste der einstigen Gebäude entlang der Prinz-Albrecht-Straße lässt sich gut verfolgen, wie es seinerzeit Politikern gelang, sich der Zügel zu entledigen und sie ihrerseits den Bürgern anzulegen – denen, die das Glück hatten, als Teil der Volksgemeinschaft vor den Karren gespannt zu werden. Die anderen, die Ausgeschlossenen, ließen die Regierenden gleich oder später umbringen – ausmerzen, wie es in der Amtssprache des Dritten Reichs hieß, in der als Staatsziel der gesunde Volkskörper ganz oben stand. Allein für diese Open-Air-Ausstellung lässt sich ein Zeitfenster verbrauchen.

Beim Hinausgehen sehe ich noch die Direktorin der Topographie, Andrea Riedle, im Ausstellungsgraben (im Bildmittelpunkt) mit vier Gästen und einer Kollegin.
 
Wer sich den oben genannten coronapolitisch verfügten Hygieneregeln unterwerfen will, dem steht alternativ oder im Zeitraffer komplementär für 90 Minuten das Gebäude offen. Hier haben die Dauerausstellung und aktuell gleich zwei Sonderausstellungen ihren Ort, eine von ihnen am 20. Oktober 2020 zum Ende der kurzen Warmzeit zwischen den beiden Corona-Eiszeiten eröffnet und am 2. November 2020 gleich wieder geschlossen – für die folgenden 19-einhalb Wochen bis 17. März 2021.
 
Das Foyer der Topographie mit der kleinen Sonderausstellung “1940–1945. Krieg und deutsche Besatzung im Norden und im Westen”.
 
Nach der Eröffnung im Oktober 2020 also nur 12 Tage für das Publikum zugänglich, ist die Ausstellung „Der kalte Blick. Letzte Bilder jüdischer Familien aus dem Ghetto von Tarnów“ nun im März 2021 allein deshalb einen näheren Blick wert, weil sich hier viel über Wissenschaftsgläubigkeit lernen lasst: Follow the Science war schon einmal der letzte Schrei – und das ist wörtlich zu nehmen: Der Forschungsgegenstand, jüdische Bürger Polens, war nach der Begegnung mit der damaligen Modewissenschaft Rassenkunde tot. Allerdings nicht umgebracht von den beiden promovierten Anthropologinnen, die 1942 jüdische Familien im Ghetto von Tarnów für ein akademisches Forschungsprojekt rassekundlich untersuchten, fotografierten und vermaßen, sondern anschließend von den dafür zuständigen Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes, der 1939 vom Deutschen Reich auf das Gebiet des besetzten Polens bis nach Tarnów expandiert war und dort die rassehygienischen Verordnungen exekutierte, die im Berliner Reichssicherheitshauptamt von den dafür zuständigen Beamten erlassen worden waren.
 
Hinweisschild auf die große Sonderausstellung „Der kalte Blick. Letzte Bilder jüdischer Familien aus dem Ghetto von Tarnów“.

Die Beamten wiederum handelten auf Weisung derjenigen Berufspolitiker, die in der Regierungsverantwortung standen – und deren Denken und Handeln schließlich ist die Dauerausstellung gewidmet. Sie führt das Wirken von „Gestapo, SS und Reichssicherheitshauptamt in der Wilhelm- und Prinz-Albrecht-Straße“ vor Augen, aber für einen Besuch wäre ein eigenes Zeitfenster nötig, wenn eines überhaupt reicht. Denn es gilt nicht nur, Heinrich Himmler kennenzulernen, den früheren Hausherren an diesem Ort, sondern auch die zahlreichen Staatsverbrechen, die auf seine Weisung Millionen Bürger das Leben kosteten. Dass er zu dem Quartett der vier wichtigsten Berufspolitiker gehörte, die das Deutsche Reich seinerzeit regierten, ist vielen heute nicht mehr bewusst. HHGG – das waren Hitler und Himmler, Göring und Goebbels. Und hinter ihnen stand die Heerschar der 4 B – Berufspolitiker, Berufsbeamte, Berufssoldaten, Berufsrichter, kurz: der Staat. Von ihm geht alle Gefahr aus, das lässt sich in der Topographie des Terrors lernen. Und jetzt, wo sie so schön leer ist, besser als je zuvor.

Das Auditorium der Topographie, in dem kein Publikum mehr Platz nimmt. Hier werden jetzt Livestreams aufgezeichnet.

Aber Obacht, nur noch eine Woche lang bis 30. März 2021 gibt es Zeitfenster, hier und kostenlos: Museumsdienst Berlin – shop.museumsdienst.berlin

Die Bibliothek der Topographie, in der niemand mehr Bücher lesen darf.
 
Nachbemerkung:
Der obige Text samt der Aufnahmen vom 18. März 2021 stand zuerst nur auf Facebook und war und ist dort nur für Facebook-Freunde zu sehen – der großen Nachfrage wegen erscheint er nun auch hier für jedermann und weltweit zugänglich.

Nachsatz vom 31. März 2021: Das kurze Glück der Leere ist seit heute jäh zu Ende – zusätzlich zur Zeitfenster-Buchung ist selbst das Außengelände der Topographie nur noch nach Vorlage eines amtlichen Schnelltests und mit dem Tragen einer FFP2-Maske betretbar. Der erwartbare Effekt: Die Coronawächter an den beiden Eingangstoren verwehren 90 Prozent der Geschichtsinteressierten den Einlass.

Nachsatz vom 24. April 2021: Die Tragödie der gähnenden Leere hat seit heute ein Ende. Es ist der Tag des Inkrafttretens des Bevölkerungsschutzgesetzes. Diese sogenannte bundesweite Notbremse gilt auch im Land Berlin, die Topographie des Terrors schließt vollständig. Nach nur zweitägiger Beratung hat der Bundestag am Mittwoch, dem 21. April 2021, das mittlerweile vierte Bevölkerungsschutzgesetz beschlossen. Der Deutsche Bundestag lässt wissen: Mit dem „Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ werden das Infektionsschutzgesetz sowie das Dritte und das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB III und SGB V) geändert.

Nachsatz vom 22. Mai 2021: Seit heute gilt der Status quo ante – wie schon in der Zeit vom 31. März bis 23. April 2021 ist das Betreten der Topographie zwar wieder mit Zeitfenster-Buchung erlaubt, aber weiterhin ist selbst das Außengelände der Topographie nur nach Vorlage eines amtlichen Schnelltests und mit dem Tragen einer FFP2-Maske begehbar.
Und die Bibliothek bleibt aufgrund von Präventionsmaßnahmen zu COVID-19 (Coronavirus) bis auf Weiteres geschlossen. Geschlossen ist sie seit nunmehr 14 Monaten, genau seit Freitag, dem 13. März 2020.

Nachsatz vom 4. Juni 2021: Noch ist nicht alles gut, aber vieles besser. Seit heute gilt ein neues Corona-Reglement. Das schon am 27. Mai 2021 abgeschaffte Zeitfenster bleibt passé, aber viel wichtiger: Es besteht keine Testpflicht mehr! Nur noch das Tragen einer medizinischen Maske auf dem Gelände und einer FFP2-Maske im Gebäude ist verpflichtend. Beim Betreten des Gebäudes (und nur dann) ist weiterhin das Ausfüllen der „Anwesenheitsdokumentation gemäß § 5 Absatz 2 der Zweiten SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung“ nötig. Allerdings liegen heute noch die veralteten grünen Zettel von gestern aus (Belegfoto unten). 
Und noch ein kleines Wunder: Die Bibliothek ist seit dem heutigen 4. Juni 2021 montags bis freitags nach Voranmeldung wieder von 10 bis 17 Uhr geöffnet. Na hurra – dem Erhalt und der Vermehrung von Wissen steht keine coronapolitisch gesetzte Barriere mehr im Wege!

Am 4. Juni 2021 ist die „Anwesenheitsdokumentation gemäß § 5 Absatz 2 der Zweiten SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung“ noch auf dem Stand des Vortags: „Der Zutritt zum Gebäude ist [...] nur bei Vorliegen eines tagesaktuellen negativen Corona-Schnelltests möglich.“ Die Wächter am Empfang erklären dem zweiten und dritten Besucher des heutigen Tages, einem englischsprachigem Pärchen, dass kein Schnelltest mehr nötig sei. Auf Englisch. Noch ist nicht alles gut, aber vieles besser.

Zur Erinnerung: Wer das Corona-Jo-Jo von Schließung und Öffnung und Wiederschließung und Wiederöffnung am Beispiel der Topographie des Terrors nachverfolgen möchte, dem seien meine drei vorhergehenden Berichte empfohlen:
1.
Wiedereröffnung des Geländes “Topographie des Terrors” am 11. Mai 2020
2.
Wiedereröffnung des Dokumentationszentrums “Topographie des Terrors” am 19. Mai 202
3. Die erste Ausstellungseröffnung am 14. Juli 2020:
Späte Erinnerung an die Verfolgung und Ermordung jüdischer Bürger in Luxemburg 1940 bis 1945


Mittwoch, 23. Dezember 2020

Dezember 2020: Das Verbrauchermagazin Guter Rat feiert 75. Geburtstag

Für mich ein Doppel-Jubiläum: Vor 30 Jahren, im Dezember 1990, wurde ich Chefredakteur dieser ältesten deutschen Zeitschrift.


Titelbilder aus 75 Jahren: Als erstes oben links der Antrag vom 21.11.1945 mit sowjetischem Genehmigungsstempel, die Zeitschrift Guter Rat für Haus und Kleid vierteljährlich in einer Auflage von 250.000 Exemplaren zu verlegen, daneben die Nummer 1 für 70 Pfennige. Rechts in der oberen Reihe eine Ausgabe von Guter Rat in den Händen von Henry Hübchen in der Rolle des Hotte Ehrenreich in dem Film Sonnenallee von 1999. Der Film spielt in den 1970er Jahren.
Untere Reihe: Später erschien das Blatt unter dem Namen Guter Rat für heute und morgen im Magazinformat, dann nur noch als guter Rat und schließlich in meinen Jahren als Chefredakteur 1990 bis 1998 mit Ausrufezeichen: Guter Rat!

Es war vor 30 Jahren, im Dezember 1990, da übernahm ich die Chefredaktion von Guter Rat, einem der damals zahlreichen DDR-Magazine, deren Verlag im Verlauf des Jahres 1990 im Zuge der Wiedervereinigung von einem Westverlag gekauft worden war. Guter Rat gehörte neben der Frauenzeitschrift Sibylle zum Portfolio des Leipziger Verlags für die Frau, den die Nürnberger Gong-Sebaldus Verlagsgruppe erworben hatte. Die Nürnberger kooperierten in der Zeit mit dem Münchener Burda Verlag, der mich von meiner Tätigkeit für sein Wirtschaftsmagazin Forbes freistellte, damit ich nach Berlin zurückkehren und die Leitung des Verbrauchermagazins Guter Rat übernehmen konnte.

Das war eine kluge Entscheidung; denn unter den vielen Westdeutschen, damals „Wessis“ genannt, die ein DDR-Magazin übernahmen, war ich – zwar durch meinen Job bei Burda bedingt auch aus Westdeutschland, nämlich München, kommend – der einzige gebürtige West-Berliner und, wie sich bald erweisen sollte, auch der einzige Westler mit Ostkompetenz. Nicht nur, weil ein Teil der Bieling-Familie in Ost-Berlin und Umgebung lebte und mir bei Besuchen die Sinnlosigkeit des Sozialismus ein aufs andere Mal vor Augen geführt hatte; auch in meiner Zeit beim West-Berliner Stadtmagazin Zitty in den 1980er-Jahren hatte ich vielerlei Kontakte nach drüben, darunter einige aus dem Kreis der Prenzlauer-Berg-Szene, die tief in die Seele der vom SED-Staat schikanierten DDR-Bürger blicken ließen.

Die Westdeutschen hingegen, damals bald „Besserwessis“ genannt, die als Chefredakteure nun einstige DDR-Blätter führten, hatten vom Osten keine Ahnung und fuhren ihre Monatsmagazine und Wochenzeitschriften alsbald an die Wand. So kam es, dass Guter Rat als einzige Zeitschrift von wirtschaftlicher Bedeutung die Wiedervereinigung überlebte, neue Leser und Anzeigenkunden hinzugewann und als Verbrauchermagazin alsbald das Wirtschaftsmedium mit der größten Reichweite in Deutschland wurde. Daraufhin war der Verlag im Jahr 1997 bereit, Guter Rat auch in den Alten Bundesländern einzuführen. So kam es, dass es Guter Rat als einzige Zeitschrift von wirtschaftlicher Bedeutung schaffte, ein gesamtdeutsches Magazin zu werden – und es zu bleiben.


Drei der Redakteure, die ich in den Jahren 1990 bis 1998 für Guter Rat gewonnen hatte, arbeiten 2020 noch für das Blatt, zwei von Ihnen sehen Sie rechts im Bild: Bernd Adam (oben) und Gunnar Döbberthin.

Auch 30 Jahre nach dem Beginn meines Wirkens für Guter Rat existiert die Zeitschrift noch, gehört seit 2002 zum Burda Verlag, der mich einst als Chefredakteur entsandt hatte, und beschäftig noch drei der Redakteure, die ich in den Jahren 1990 bis 1998 für das Blatt gewonnen hatte. Heute hat Guter Rat eine verkaufte Auflage von immer noch fast 100.000 Exemplaren (laut IVW-Meldung fürs 3. Quartal 2020) und feiert mit der aktuellen Ausgabe vom Dezember 2020 seinen 75. Geburtstag. Guter Rat ist nämlich nicht nur das einzige überlebende DDR-Magazin von wirtschaftlicher Bedeutung (es gibt Nischenprodukte wie Das Magazin, das die DDR ebenfalls überlebt hat), es ist das älteste heute noch existierende Magazin Deutschlands überhaupt.

Das Logo zum Jubiläum 75 Jahre Guter Rat im Dezember 2020.


Unter dem anfänglichen Namen Guter Rat für Haus und Kleid, später Guter Rat für heute und morgen erschien die von der sowjetischen Besatzungsmacht lizensierte Publikation erstmals im November 1945 im Leipziger Verlag Otto Beyer, dem bereits im Sommer 1946 verstaatlichten und sogleich umbenannten späteren Verlag für die Frau. Die Ausgabe 12/2020 würdigt dann auch im Dezember 2020 den 75. Geburtstag von Guter Rat mit einem Artikel, in dem einer meiner Nachfolger über die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung, die frühen 1990er-Jahre, schreibt:

„Guter Rat ist in diesen Jahren etwas Einzigartiges gelungen. Ein Magazin, an das niemand mehr so recht glauben wollte, ist zu einem Vorreiter des anspruchsvollen Verbraucherjournalismus geworden. Guter Rat hat die Fragen der Zeit aufgegriffen, und es gab viele. Denn das Leben ist sehr komplex geworden. Nicht nur, wenn es um die Orientierung im Konsumdschungel geht. Die wachsende Eigenverantwortung stellt die Menschen vor existenzielle Fragen (...) Mit der Wende wurde Guter Rat das meistverkaufte Wirtschaftsmagazin Deutschlands.“ (Seite 37)

Dieses Kompliment nehme ich auch persönlich – es gilt dem damals einzigen Westler mit Ostkompetenz und einer Ostredaktion mit Westehrgeiz: Die anfangs überwiegend älteren Kolleginnen wollten es noch einmal wissen und waren ohne zu zögern bereit, gleich Anfang 1991 von ihren mechanischen Schreibmaschinen aus DDR-Zeiten auf den Apple Macintosh umzusteigen und die nach Forbes von Burda, wo ich 1989 den Mac kennen- und schätzen gelernt hatte, zweite rein digital erstellte Zeitschrift in Deutschland zu machen. Ein riesen Kompliment auch an die neu hinzugekommene Grafik, die mit Begeisterung das Layoutprogramm QuarkXPress für Apple Macintosh erlernte und Guter Rat schon im Frühjahr 1991 komplett digital umbrach. Ein halbes Jahr nach der Wiedervereinigung war Deutschlands ältestes Magazin sein mondernstes!


Auf den Seiten 34 und 35 präsentiert die Ausgabe 12 vom Dezember 2020 eine Doppelseite „Guter Rat in Zahlen und Fakten“ wie diesen: „Guter Rat-Leser sind treu: 52 Prozent aller Abonnenten beziehen Guter Rat bereits seit 10 Jahren oder länger“ und „730 000 Menschen lesen durchschnittlich eine Ausgabe“. Der obige Ausschnitt der Doppelseite zeigt weitere Zahlen und Fakten.


Mit Stolz und Wehmut erinnere ich mich an ein Ost-West-Team, das den Ball von 1990 so routiniert aufnahm, alle Chancen der Wiedervereinigung nutzte und gleich zwei einzigartige Tore schoss: als einzige Zeitschrift von wirtschaftlicher Bedeutung die Wiedervereinigung zu überleben und als einzige Zeitschrift von wirtschaftlicher Bedeutung ein gesamtdeutsches Magazin zu werden. Und es war dieses fabelhafte Ost-West-Team, das die beiden Tore schoss:
> die schon lange vor meiner Zeit bei Guter Rat tätigen Redakteurinnen Charlotte Schröder, Annelies Tuchtenhagen, Georgia Förster und Ingrid Krüger, die Bildredakteurin Helga Herzog und die beiden Sekretärinnen Renate Zibell und Regina Drescher – seit Sommer 1990 bereits angeleitet von der Burda-Gesandten Elisabeth Bär;
> die neu hinzugekommenen Grafikerinnen Anke Baltzer und Niccola Wenske, die Grafiker Erhard Bellot, Peter Hoffmann und der vor einem Jahr am 27. Dezember 2019 verstorbene Gerhard Schmidt – sie ersetzten nach und nach ihren Kollegen Siegmar Förster, der als freiberuflicher Designer bis 1989 jahrelang das Erscheinungsbild der Zeitschrift geprägt und noch den neuen Titelschriftzug Guter Rat! (mit Ausrufezeichen) gestaltet hatte;
> die nach 1990 hinzugestoßenen Redakteurinnen Heike Gerbig, Kerstin Backofen, Alrun Jappe, Ilona Hermann, Sophie Neuberg, Sonja Kastilan, Henrike Hoffmann (als Schülerpraktikantin) und die Korrektorin Erika Kähler, die Redakteure Werner Sündram, Pierre Boom und Bernd Adam, später noch Karl-Heinz Twele, Rolf Fischer, Martin Braun, Thilo Ries und Gunnar Döbberthin. Die beiden Letztgenannten sowie Bernd Adam und die Grafikerin Niccola Wenske arbeiten noch heute, Stand Dezember 2020, bei Guter Rat.

Guter Rat Nummer 12 vom Dezember 2020: Die Jubiläumsausgabe widmet die Seiten 34 bis 37 dem 75. Geburtstag. Alle obigen Abbildungen sind diesen Seiten entnommen.

Und hier geht es zur heutigen Website von Guter Rat.

Nachtrag vom 15. Januar 2021: Ich danke allen, die zu diesem Doppeljubiläum gratuliert und mir Anregungen und Ergänzungen, die inzwischen in den obigen Text eingeflossen sind, mitgeteilt haben, namentlich Bernd Adam, Heike Gerbig, Werner Sündram, Sophie Neuberg und Erhard Bellot; außerdem Siegmar Förster (siehe Nachtrag vom 18. Januar 2021).
Beim Stöbern in der Vergangenheit bin ich noch auf einen Artikel von mir aus dem Jahr 2009 gestoßen, in dem Guter Rat den Dreh- und Angelpunkt einer Betrachtung deutscher Zustände bildet. Die Tageszeitung Die Welt veröffentlichte den Text am 2. Oktober 2009 zum Tag der Deutschen Einheit. In deren Webarchiv ist der Meinungsbeitrag unter seiner Originalüberschrift Die DDR lebt virtuell weiter online verfügbar. Lesedauer: 8 Minuten.

Nachtrag vom 18. Januar 2021. Siegmar Förster ergänzt die Geschichte von Guter Rat in einer Email vom 16. Januar 2021 mit der Schilderung dieser Begebenheit zu Endzeiten der DDR:

Was Sie vielleicht nicht wussten: In der Endphase der DDR, als die Ressourcen immer knapper wurden, gab es im Verlag für die Frau die Überlegung, die Magazine Sibylle, Saison und Guter Rat zu einem Magazin mit dem Titel »Marlene« (wg. Modeikone Dietrich) zusammenzufassen. Ich war dazu im Verlag in Leipzig, um mit einem Stapel Vogue, Elle und anderen Heften (zum Ausschlachten) bepackt, nach Berlin zurückzufahren und daraus ein Dummy (damals noch mit Pappe und Gummilösung) zu basteln. Aus meinem Entwurf wurde dann (leider! – Gottseidank!) nichts, weil der Mauerfall dazwischenkam.“

Alle Abbildungen © Guter Rat

Donnerstag, 10. Dezember 2020

Am Tag der Menschenrechte haben viele Menschen keinen Grund zu feiern

In etlichen Ländern der Welt verweigern Politiker ihren Bürgen die elementarsten Rechte und Freiheiten. Gedanken zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember.

Vorbemerkung Der folgende Beitrag erschien in einer für den Druck gekürzten Fassung zuerst am Sonntag, dem 9. Dezember 2018, aus Anlass des 70. Jahrestags des Tag der Menschenrechte im Hauptstadtbrief am Sonntag in der Berliner Morgenpost. Die folgende Extended Version ist um Passagen und Fotos erweitert, für die 2018 in der räumlich begrenzten Druckausgabe kein Platz war. Sie erscheint hier erstmals zum 72. Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 2020.



Tony Sender – eine deutsche Sozialdemokratin im amerikanischen Exil, deren Stimme in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung vom 10. Dezember 1948 anklingt. Diese in Vergessenheit geratene einzige deutsche Beteiligte an der Menschenrechtserklärung nahm seit 1947 gemeinsam mit Eleanor Roosevelt an den Sitzungen der UN-Menschenrechtskommission in Genf teil, die den Entwurf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte für die Vollversammlung in Paris vorbereitete.

Für Bürger in Deutschland und den anderen Ländern der Europäischen Union ist es längst eine Selbstverständlichkeit: Sie genießen ausgeprägte Rechte und Freiheiten, die gesetzlich garantiert und juristisch einklagbar sind. Sie genießen diese Freiheiten und Rechte als Einzelne, nur sie verfügen über sich selbst und jedes weitere Eigentum, das sie mit ihrem Denken und Handeln schaffen. Dieses Bild vom Menschen ist der Ausgangspunkt einer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die eine Vollversammlung der damals noch sehr kleinen Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 in Paris beschloss.

Die Bundesrepublik Deutschland gab es damals noch gar nicht, und es war auch keine deutsche Delegation in Paris. Nachdem deutsche Politiker die Alte Welt in Schutt und Asche gelegt und Millionen Europäer durch Angriffskrieg und Staatsmord umgebracht hatten, war das Bedürfnis der Siegermächte, sich mit deutschen Vertretern über Menschenrechte zu verständigen, nicht gegeben. Ganz im Gegenteil hatten die Alliierten nach dem 8. Mai 1945 in den Nürnberger Prozessen Regierungsmitglieder und hohe Staatsbeamte verurteilt und gehenkt, damit sie und Ihresgleichen nie wieder Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschheit begehen. Die Allgemeine Menschenrechtserklärung sollte staatlichen Verbrechen künftig einen Riegel vorschieben. Dass die alliierte Formel des Nie-Wieder von späteren deutschen Politiken in die Leerformel Nie wieder Krieg umgedeutet wurde, die vieles brachte, nur keinen Frieden, war damals nicht absehbar noch war vorhersehbar, wie ungeniert Nie wieder und Krieg in Europa zusammenpassen, erst auf dem Balkan in den 1990er-Jahren, in der Ukraine heute vor jedermanns Augen.

Das heutige Russland, der Aggressor im Ukraine-Konflikt, war 1945 in seiner damaligen Gestalt der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken einer der Sieger über das Deutsche Reich und gehörte zu den Gründern der Vereinten Nationen. Dieser Umstand warf von Anfang an einen Schatten auf die Fixierung der Menschenrechte. Die Sowjetunion hatte nicht das geringste Interesse an Menschenrechten, veranlasste ihre Regierung doch gerade eine ethnische Säuberung, die Millionen polnische und deutsche Bürger aus den Ostgebieten ihrer jeweiligen Vorkriegsstaaten vertrieb. Im eigenen Land deportierte die Sowjetregierung zur gleichen Zeit Millionen Bürger in die Arbeitslager des Archipel Gulag – der politischen Führung um Stalin galten Menschenrechte als bürgerlich und verachtenswert.

Mit Engelszungen und dem Angebot der Verankerung sozialer Anliegen in der Menschenrechtscharta versuchte in der US-amerikanischen Delegation vor allen Eleanor Roosevelt, die sowjetischen Verhandlungsführer zu einer Zustimmung zu bewegen. Dabei kam ihr die Expertise einer deutschen Sozialdemokratin zugute, die ihr als Exilantin zur Seite stand: Tony Sender (Foto oben). Die einstige SPD-Reichstagsabgeordnete hatte sich 1933 rechtzeitig aus Deutschland in die USA absetzen können und war nach dem Krieg als Gewerkschafterin für den Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen tätig. Seit 1947 nahm sie gemeinsam mit Eleanor Roosevelt, als Ehefrau von Franklin D. Roosevelt bis 1945 First Lady der USA, an den Sitzungen der UN-Menschenrechtskommission in Genf teil, die den Entwurf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte für die Vollversammlung in Paris vorbereitete. Auf diese in Vergessenheit geratene einzige deutsche Beteiligte an der Erklärung der Menschenrechte machte am 29. November 2018 Katharina Klasen in einem Vortrag zum Thema Menschenrechtsbezüge im Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand aufmerksam, deren Wissenschaftliche Mitarbeiterin sie ist.

Am Ende war es wohl ein früherer amerikanischer Staatsbürger, der den Sinneswandel der Sowjetdelegation bewirkte: Garry Davis (Foto unten). Der Bomberpilot der US Air Force gab nach dem Erschrecken über sein Tun im Krieg die US-Staatsbürgerschaft 1948 auf, gründete die Weltbürgerbewegung und siedelte im Spätsommer 1948 als erster Citizen of the World auf das Pariser Sitzungsgelände der UN-Vollversammlung über, das kurzzeitig als internationales Hoheitsgebiet galt. Die spektakuläre Aktion erzeugte ein weltweites Medienecho, am 19. November 1948 sprach er unaufgefordert zu den Delegierten.

Der am 17. November 2018 im Rahmen der Säkularen Woche der Menschenrechte von der Giordano Bruno Stiftung erstmals in Berlin als Europa-Premiere gezeigte Dokumentarfilm The World is My Country – The Garry Davis Story (das Foto zeigt ein Standbild aus dem Film von Arthur Kanegis) legt den Schluss nahe, dass es die von dem Kosmopoliten inspirierte spontane Friedensbewegung war, die überall in der westlichen Welt und sogar in West-Berlin Hunderttausende mobilisierte, derentwegen die sowjetische Delegation ihr Nein zur Menschenrechtserklärung aufgab: Am 10. Dezember 1948 verzichtete sie auf ihr Vetorecht und enthielt sich der Stimme.



Garry Davis – der Bomberpilot der US Air Force gab nach dem Erschrecken über sein Tun im Krieg die US-Staatsbürgerschaft 1948 auf, gründete die Weltbürgerbewegung und siedelte im Spätsommer 1948 als erster Citizen of the World auf das Pariser Sitzungsgelände der UN-Vollversammlung über, das kurzzeitig als internationales Hoheitsgebiet galt. Die spektakuläre Aktion erzeugte ein weltweites Medienecho, am 19. November 1948 sprach er unaufgefordert zu den Delegierten. Es war wohl die von dem Kosmopoliten inspirierte spontane Friedensbewegung, die überall in der westlichen Welt Hunderttausende mobilisierte, derentwegen die sowjetische Delegation auf ein Veto gegen die Menschenrechtserklärung verzichtete.

Sehr schwer ist der sowjetischen Delegation die Enthaltung nicht gefallen: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist kein verbindlicher Vertrag, sie ist nicht justiziabel und nicht einklagbar. Sie lässt sich leicht mit Füßen treten. Und genau das taten die sowjetischen Politiker gleich anderntags wieder, wie sie es an jedem Vortag getan hatten. Und die damaligen russischen Vasallenstaaten taten es dem Großen Bruder gleich: die Ukraine, Weißrussland, Polen, die ČSSR und Jugoslawien enthielten sich ebenfalls der Stimme und ebenso wenig der Verletzung der Menschenrechte. Die Deutsche Demokratische Republik gab es im Dezember 1948 noch nicht; aber auch ihre Politiker scherten sich später nicht um Menschenrechte, zuletzt am 6. Februar 1989 ließen sie einen Flüchtling an der Grenze ihres Staates erschießen, den 20-jährigen DDR-Bürger Chris Gueffroy. Noch einmal verletzte ein Staatsmord den Artikel 13 Absatz 2 der Menschenrechtscharta: „Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“

Zu den 8 Enthaltungen (es gab 48 Ja-Stimmen, 0 Gegenstimmen, mehr Vereinte Nationen gab es damals noch nicht) zählte neben den 6 sozialistischen Ländern die Republik Südafrika. Seit den Parlamentswahlen vom Mai 1948 ganz frisch auf dem Weg zur Errichtung der Apartheid, wollte sich die neue Regierung nicht zu Menschenrechten bekennen, die gleich im Artikel 2 die Rassentrennung ausschlossen: „Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.“ Dass heute nach Abschaffung der Apartheid vor allem jene Weißen in den größten Genuss der Allgemeinen Menschenrechte in Südafrika gelangen, die sie mit ihrer Studiosus-Reisegruppe von Zuhause mitbringen, ist kein Ruhmesblatt für die Nachfolger von Nelson Mandelas ANC.

Wirklich symptomatisch für das Mit-den-Füßen-Treten der Menschenrechte ist allerdings die Nummer acht der Länder, die sich am 10. Dezember 1948 der Stimme enthielten: Saudi-Arabien. Die dort regierenden Politiker unterschieden sich schon damals von allen anderen auf der Welt: Sie waren nicht nur im Besitz des Staates, der Staatsmacht – der Staat war ihr Eigentum und ist es bis heute. Dass die Eigentümer auch die Bürger ihres Landes als ihr Eigentum ansehen, das sie nach Belieben zerteilen und in Luft auflösen lassen können, mag Staatsgläubige überraschen, passt aber ins Bild, das eine Welt abgibt, deren Führungsmacht die Herren der Kaaba mit aller Gewalt sein wollen.

Von Mauretanien am Atlantischen Ozean, die afrikanische Küste am Mittelmeer über Kairo bis Istanbul entlang, in Asien von Damaskus über Bagdad, Teheran, Kabul, Karatschi und über den Indischen Ozean hinaus bis nach Jakarta zieht sich ein grüner Gürtel von Ländern, den Geschichtsatlanten als islamisch ausweisen und die auf Menschenrechtskarten fehlen. Die saudi-arabische Enthaltung von 1948 gilt bis heute für fast alle diese Länder, ernstgemeinte Einträge in die Menschenrechtskarte lassen sich neuerdings im Westen Nordafrikas erkennen. Auch die muslimische Migration in die Länder der Europäischen Union bringt erste Stimmen zum Erklingen, die sich der Kairoer Erklärung von 1990 widersetzen, dem islamischen Gegenstück zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, das die Scharia, das Gottesgesetz, über die Menschenrechte stellt. Die Deutsche Islam Konferenz sieht seit November 2018 gerade darin ein Thema.

Das Thema ist, dass mitten in Deutschland eine unbekannt große Zahl von Bürgern und vor allem Bürgerinnen lebt, die nicht in den Genuss der Menschenrechte kommen, weil in ihrer Gegenwelt Grundgesetz und gleiche Rechte und Freiheiten für Mann und Frau nicht gelten. Vielleicht sollte sich die Deutsche Islam Konferenz bei der Gelegenheit auch gleich um Deutschlands Universitäten kümmern. Dort macht sich in Gender- und anderen postmodernen Studien ein neuer Ungeist breit, der Menschenrechte für ein neokoloniales Konstrukt des weißen Mannes hält, einen Rassismus, der sich über die Vielfalt der Kulturen erhebt und die Anerkennung der islamischen Kultur verweigert. Das nennen Professor*innen der Berliner Universität, deren rein männliche Vorgänger Bücher auf dem Bebelplatz verbrennen ließen, der 1933 Opernplatz hieß, Islamophobie.

Auf den neuen universitären Ungeist machten bei der Vorstellung ihres Buches Freiheit ist keine Metapher, erschienen im Berliner Querverlag, der Herausgeber und drei der Autorinnen bei ihrer Präsentation des Sammelbandes am 16. November 2018 im Buchladen Eisenherz in Berlin-Schöneberg aufmerksam. (Bericht von der Buchvorstellung weiter unten im Blog oder hier direkt zu finden.) Der universitäre Angriff auf die Menschenrechte, das wurde deutlich, kommt aus dem Inneren eines freien Landes und richtet sich gegen die universelle Gültigkeit der Rechte jedes Einzelnen als Mensch und Bürger, die schon der Titel der Erklärung von 1948 betont: The Universal Declaration of Human Rights.

Der kurze Streifzug durch 72 Jahre Menschenrechtsgeschichte zeigt: Am Tag der Menschenrechte haben, selbst in Deutschland, viele Menschen keinen Grund zu feiern. Dabei war von China noch gar nicht die Rede. In etlichen Ländern der Welt verweigern Politiker ihren Bürgen die elementarsten Rechte und Freiheiten – welch ein Glück, alle Rechte und Freiheiten zu haben. Doch es sind die Bürger, die ihres Glückes Schmied sind. Vom Himmel fällt kein Menschenrecht.

Foto Tony Sender: Wikipedia © Historisches Museum Frankfurt CC BY-SA 4.0
Foto Garry Davis: Szenenbild aus dem Film „The World is My Country – The Garry Davis Story“ © Arthur Kanegis